OGH 2Ob152/23a

OGH2Ob152/23a19.9.2023

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch die Senatspräsidentin Dr. Grohmann als Vorsitzende sowie die Hofräte Dr. Nowotny, Hon.‑Prof. PD. Dr. Rassi, MMag. Sloboda und Dr. Kikinger als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei E*, vertreten durch Mag. Mario Hopf, Rechtsanwalt in Villach, gegen die beklagten Parteien 1. H*, und 2. D*, beide vertreten durch Mag. Daniela-Alexandra Lang, Rechtsanwältin in Klagenfurt am Wörthersee, und der auf Seiten der beklagten Parteien beigetretenen Nebenintervenientin G*, vertreten durch Dr. Karlheinz de Cillia – Mag. Michael Kalmann, Rechtsanwälte in Klagenfurt am Wörthersee, wegen 79.150 EUR sA und Feststellung über die außerordentliche Revision der beklagten Parteien gegen das Zwischen- und Teilurteil des Oberlandesgerichts Graz als Berufungsgericht vom 31. Mai 2023, GZ 3 R 56/23i‑66, den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2023:0020OB00152.23A.0919.000

Rechtsgebiet: Zivilrecht

Fachgebiet: Schadenersatz nach Verkehrsunfall

Entscheidungsart: Zurückweisung mangels erheblicher Rechtsfrage

 

Spruch:

Die außerordentliche Revision wird gemäß § 508a Abs 2 ZPO mangels der Voraussetzungen des § 502 Abs 1 ZPO zurückgewiesen.

 

Begründung:

[1] Die Klägerin legte sich im Februar 2020 gegen 5:15 Uhr in Selbstmordabsicht quer zur Fahrbahnlängsrichtung auf die N* Landesstraße und wurde vom von der Erstbeklagten gehaltenen und gelenkten, bei der Zweitbeklagten haftpflichtversicherten PKW überrollt und lebensgefährlich verletzt. Vor dem Unfall hatte ein der Erstbeklagten entgegenkommender Fahrzeuglenker neben der Klägerin mit eingeschaltetem Abblendlicht und Warnblinkanlage angehalten. Als er die sich auf der Fahrbahnhälfte der Klägerin nähernde Erstbeklagte bemerkte, betätigte er mehrmals die Lichthupe, um diese zu warnen. Die Erstbeklagte, die bei Annäherung durch die Lichthupe und das Abblendlicht mehrfach geblendet war, was eine Readaptionszeit des Auges von drei bis vier Sekunden zur Folge hatte, ging von einer Panne oder einem Wildschaden aus. Sie verlangsamte ihren PKW auf Schrittgeschwindigkeit, nahm mit dem anderen Fahrzeuglenker Blickkontakt auf und überrollte schließlich die hinter dem Lichtkegel des anderen Fahrzeugs liegende und daher für sie nicht erkennbare Klägerin.

[2] Das Berufungsgericht bejahte in seinem Zwischen- und Teilurteil eine Gefährdungshaftung (EKHG) der Beklagten, weil diesen der Entlastungsbeweis nach § 9 Abs 2 EKHG nicht gelungen sei. Auf Seiten der Klägern liege ein – im Rahmen des Mitverschuldens mit drei Viertel zu ihren Lasten – zu berücksichtigendes, unechtes Handeln auf eigene Gefahr vor.

[3] Die außerordentliche Revision der Beklagten zeigt keine Rechtsfrage der Qualität des § 502 Abs 1 ZPO auf.

Rechtliche Beurteilung

1. Unabwendbares Ereignis iSd § 9 Abs 2 EKHG

[4] 1.1 Die Sorgfalt im Sinn des § 9 Abs 2 EKHG ist nicht die gewöhnliche Verkehrssorgfalt, sondern die äußerste, nach den Umständen des Falls mögliche Sorgfalt (RS0058317; RS0058326). Sie ist dann beachtet, wenn der Fahrzeuglenker eine über die gewöhnliche Sorgfaltspflicht hinausgehende, besonders überlegene Aufmerksamkeit, Geistesgegenwart und Umsicht gezeigt hat, die zum Beispiel auch die Rücksichtnahme auf eine durch die Umstände nahegelegte Möglichkeit eines unrichtigen oder ungeschickten Verhaltens anderer gebietet (RS0058425). Maßstab für die Sorgfaltspflicht nach § 9 Abs 2 EKHG ist die Sorgfalt eines sachkundigen, erfahrenen Kraftfahrers. Er haftet daher auch für einen Mangel der besonders geschärften Aufnahmefähigkeit für rasche Eindrücke (RS0058394).

[5] 1.2 Der Umfang der gemäß § 9 Abs 2 EKHG gebotenen Sorgfalt hängt von den besonderen Umständen des Einzelfalls ab (RS0111708 [T1]) und wirft daher – abgesehen von grober und daher korrekturbedürftiger Fehlbeurteilung des Berufungsgerichts – keine erhebliche Rechtsfrage auf.

[6] 1.3 Wenn das Berufungsgericht in der konkreten Situation unter Hinweis auf die Dunkelheit und die mehrfachen Warnungen des anderen Fahrzeuglenkers davon ausgegangen ist, dass ein besonders umsichtiger Lenker seine Fahrt im Nahebereich des angehaltenen Fahrzeugs selbst mit Schrittgeschwindigkeit nicht fortgesetzt hätte, ohne die befahrene Strecke einsehen zu können, stellt dies keine aufzugreifende Fehlbeurteilung dar.

[7] Auf die zu § 20 Abs 1 StVO ergangene, vom Berufungsgericht auch zitierte Rechtsprechung, nach der durch entgegenkommende Kraftfahrzeuge geblendete Fahrer nach dem Grundsatz des „Fahrens auf Sicht“ ihre Fahrgeschwindigkeit radikal herabzusetzen, allenfalls anzuhalten haben (RS0074736), kommt es nicht an. Einerseits gingen die Vorinstanzen ohnehin nicht von einer Verschuldenshaftung aufgrund eines Verstoßes gegen § 20 Abs 1 StVO aus. Andererseits führt die Einhaltung der gewöhnlichen Verkehrssorgfalt noch nicht zur Haftungsbefreiung nach § 9 Abs 2 EKHG (RS0058317 [T2]).

2. (Un‑)Echtes Handeln auf eigene Gefahr – Einwilligung

[8] 2.1 Handeln auf eigene Gefahr ist von einem (stillschweigenden) Haftungsverzicht zu unterscheiden. Beim Handeln auf eigene Gefahr ist nämlich die tatsächliche Selbstgefährdung trotz erkannter Gefahrenlage und nicht die (stillschweigende) Einwilligung entscheidend (7 Ob 196/99w mwN).

[9] 2.2 Eine (stillschweigende) Einwilligung in die Tötung kommt – entgegen der Revision – nicht in Betracht (vgl 2 Ob 283/06s Pkt 3.).

2.3 Handeln auf eigene Gefahr kann die Rechtswidrigkeit ausschließen. Ein echtes Handeln auf eigene Gefahr ist aber nur gegeben, wenn dem Gefährder keine Schutzpflichten gegenüber jenem obliegen, der die Gefahr kannte oder erkennen konnte, und dem daher eine Selbstsicherung zugemutet werden konnte. Unechtes Handeln auf eigene Gefahr liegt dagegen dann vor, wenn den Gefährder Schutzpflichten gegenüber der sich selbst gefährdenden Person treffen (RS0023101). Die tatsächlich vorhandene Selbstgefährdung ist dann (nur) im Rahmen des Mitverschuldenseinwandes zu prüfen (RS0023101 [T4]). Beim (echten) Handeln auf eigene Gefahr ist aufgrund einer umfassenden Interessenabwägung zu beurteilen, ob die Rechtswidrigkeit des Handelns des Gefährders entfällt (RS0023006 [T5]; 2 Ob 283/06s Pkt 3. mwN).

[10] 2.4 Weshalb – entgegen der Annahme des Berufungsgerichts – die Erstbeklagte als Kraftwagenlenkerin keine (straßenverkehrsrechtlichen) Schutzpflichten gegenüber der auf der Straße liegenden Klägerin treffen sollen, sodass echtes und nicht (bloß) unechtes Handeln auf eigene Gefahr vorläge, legt die Revision, die nur mit der – aber in beiden Fällen charakteristischen – Selbstgefährdung der Klägerin argumentiert, nicht dar. Es mangelt daher insoweit an einer gesetzmäßig ausgeführten Rechtsrüge (RS0043603 [T9]).

[11] 3. Gegen die vom Berufungsgericht vorgenommene Abwägung des Verschuldens der Klägerin gegenüber der Betriebsgefahr auf Seiten der Beklagten, wendet sich die Revision nicht.

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