OGH 7Ob59/23m

OGH7Ob59/23m30.8.2023

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch die Senatspräsidentin Dr. Solé als Vorsitzende und die Hofrätinnen unddie Hofräte Mag. Dr. Wurdinger, Mag. Malesich, Dr. Weber und Mag. Fitz als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Parteien 1. U* Z*, und 2. M* Z*, beide vertreten durch Dr. Andreas A. Lintl, Rechtsanwalt in Wien, gegen die beklagte Partei N* AG, *, vertreten durch Dr. Stefan Gloß und andere, Rechtsanwälte in St. Pölten, wegen 72.561 EUR sA, über die Revision der klagenden Parteien gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht vom 22. Februar 2023, GZ 1 R 140/22y-58, womit das Urteil des Landesgerichts St. Pölten vom 6. Juli 2022, GZ 1 Cg 2/21d-49, bestätigt wurde, zu Recht erkannt:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2023:0070OB00059.23M.0830.000

Rechtsgebiet: Zivilrecht

Fachgebiet: Versicherungsvertragsrecht

Entscheidungsart: Ordentliche Erledigung (Sachentscheidung)

 

Spruch:

Der Revision wird Folge gegeben.

Das angefochtene Urteil wird aufgehoben. Die Rechtssache wird zur neuerlichen Entscheidung an das Berufungsgericht zurückverwiesen.

Die Kosten des Revisionsverfahrens bilden weitere Kosten des Berufungsverfahrens.

 

Entscheidungsgründe:

[1] Zwischen den Klägern als Versicherungsnehmer und der Beklagten besteht eine Haushaltsversicherung, der die Allgemeinen Bedingungen für die Haushaltsversicherung (ABH 2013) und die Allgemeinen Bedingungen für die Sachversicherung (ABS 2001) zugrunde liegen.

[2] Artikel 4 ABH 2013 lautet auszugsweise:

„1. Wenn die Versicherungsräumlichkeiten auch für noch so kurze Zeit von allen Personen verlassen werden,

1.1. sind Eingangs- und Terrassentüren, Fenster und alle sonstigen Öffnungen stets ordnungsgemäß verschlossen zu halten. Dazu sind vorhandene Schlösser zu versperren. Dies gilt nicht für Fenster, Balkontüren und sonstige Öffnungen, durch die ein Täter nur unter Überwindung erschwerender Hindernisse einsteigen kann;

[…]

5. Die vorstehenden Obliegenheiten gelten als vereinbarte Sicherheitsvorschriften gemäß Artikel 3 ABS. Ihre Verletzung führt nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen zur Leistungsfreiheit des Versicherers.“

[3] Artikel 3.2. ABS 2001 lautet:

Der Versicherer ist von der Verpflichtung zur Leistung frei, wenn der Schadenfall nach der Verletzung eintritt und die Verletzung auf Vorsatz oder grober Fahrlässigkeit des Versicherungsnehmers beruht. Die Verpflichtung zur Leistung bleibt bestehen, wenn die Verletzung keinen Einfluss auf den Eintritt des Schadenfalles oder soweit sie keinen Einfluss auf den Umfang der Entschädigung gehabt hat, oder wenn zur Zeit des Schadenfalles trotz Ablaufs der Frist die Kündigung nicht erfolgt war.“

[4] Am 12. Dezember 2019 ereignete sich ein Einbruchsdiebstahl in das Wohnhaus der Kläger. Die Kläger hatten beide gegen 9:00 Uhr in der Früh das Haus verlassen und kamen gemeinsam gegen 22:00 Uhr wieder zurück. Der oder die Täter drangen in diesem Zeitraum über eine Terrassentür in das Haus ein. Diese Tür hat außen einen fixen Knauf und ist von innen versperrbar. Zum Zeitpunkt des Einbruchs war die Tür nicht versperrt, sodass der oder die Täter die Tür „aufhebeln“ konnten. Wäre die Tür zum Zeitpunkt des Einbruchs versperrt gewesen, wäre eine wesentlich größere Gewalteinwirkung notwendig gewesen, um sie aufzubrechen. Dabei wäre eine massivere Ausprägung der Einbruchsspuren zu erwarten gewesen. Den Klägern ist bekannt, dass in ihrer unmittelbaren Nachbarschaft bereits zu einem früheren Zeitpunkt, wahrscheinlich ebenfalls 2019, ein Einbruchsdiebstahl verübt wurde.

[5] Die Kläger begehren Zahlung von 72.561 EUR sowie in eventu die Feststellung der Versicherungsdeckung. Sie hätten die Terrassentür mit dem im Schloss befindlichen Schlüssel versperrt. Selbst wenn die Tür nicht versperrt gewesen wäre, würde es sich um ein einmaliges Versehen handeln, sodass eine allfällige Verletzung der Obliegenheit nur auf leichter Fahrlässigkeit beruhe. Der Einbruchsdiebstahl hätte sich im Übrigen unabhängig davon ereignet, ob die Tür versperrt gewesen sei oder nicht. Diese sei nämlich auch im versperrten Zustand einfach aufzuzwängen. Darüber hinaus seien beide Kläger Versicherungsnehmer. Die Obliegenheit des Art 4.1.1. ABH 2013 sei von demjenigen zu erfüllen, der zuletzt das Haus verlassen habe. Dies sei der Zweitkläger gewesen, weshalb eine allfällige Obliegenheitsverletzung nur ihm gegenüber, nicht aber gegenüber der Erstklägerin zur Leistungsfreiheit führen könne.

[6] Die Beklagte beantragt Klagsabweisung. Die Tür, durch die der Einbruch erfolgt sei, sei nicht versperrt gewesen, obwohl beide Kläger das Haus verlassen hätten. Es liege daher eine grob fahrlässige Verletzung der Obliegenheit gemäß Art 4.1.1. ABH 2013 durch beide Kläger vor.

[7] DasErstgericht wies das Klagebegehren wegen grob fahrlässiger Verletzung der vereinbarten Sicherheitsvorschrift (Art 4.1.1. ABH 2013) ab. Die Kläger hätten die Tür nämlich nicht versperrt und auch nicht nachweisen können, dass dieser Umstand ein einmaliges Ereignis gewesen sei. Die Obliegenheitsverletzung treffe nach außen hin beide Kläger, zumal sie das Haus am Vorfallstag beide verlassen hätten. Den Kausalitätsgegenbeweis hätten die Kläger nicht erbracht, weil das Aufbrechen der Tür im versperrten Zustand eine erhöhte Gewalteinwirkung erfordere.

[8] Das Berufungsgericht bestätigte diese Entscheidung. Die Kläger könnten sich grundsätzlich auf das Fehlen eines groben Verschuldens an der Obliegenheitsverletzung berufen. Zwar sei nach § 6 Abs 1 VersVG die Leistungsfreiheit des Versicherers bei Verstoß gegen eine vor Eintritt des Versicherungsfalls zu erfüllende Obliegenheit, so auch bei Verstoß gegen eine sogenannte „vorbeugende Obliegenheit“ nach § 6 Abs 2 VersVG, nur vom Verschulden des Versicherungsnehmers, nicht aber vom Verschuldensgrad abhängig. Die über den Verweis des Art 4.5. ABH 2013 anzuwendende Bestimmung des Art 3.2. ABS 2001 stelle den Versicherungsnehmer aber insoweit besser, als der Verstoß auf Vorsatz oder grober Fahrlässigkeit beruhen müsse, um zur Leistungsfreiheit zu führen. Die Mängel- und Beweisrüge der Kläger zu der vom Erstgericht getroffenen Negativfeststellung, dass das Nichtversperren der Tür erstmalig erfolgtsei, müsse mangels Relevanz inhaltlich nicht behandelt werden, weil das Verhalten der Kläger ohnehin als grob fahrlässig zu beurteilen sei. Die darüber hinaus von den Klägern bekämpften Feststellungen würden auf nachvollziehbaren beweiswürdigenden Erwägungen des Erstgerichts beruhen und seien daher unbedenklich. Der Kausalitätsgegenbeweis sei bereits dann als misslungen anzusehen, wenn – wie hier – durch die Obliegenheitsverletzung die Gefahr eines Einbruchsdiebstahls deshalb gesteigert werde, weil einem Einbrecher weniger Widerstand geboten werde. Da beide Kläger Versicherungsnehmer seien, führe ihr Verhalten zur Leistungsfreiheit wegen eines Obliegenheitsverstoßes unabhängig davon, wer von ihnen dieses Verhalten gesetzt habe.

[9] Gegen diese Entscheidung richtet sich die Revision der Kläger mit dem Antrag, diese im Sinn einer gänzlichen Klagestattgebung abzuändern. Hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.

[10] Die Beklagte beantragt in ihrer vom Obersten Gerichtshof freigestellten Revisionsbeantwortung, die Revision der Kläger zurückzuweisen, in eventu ihr nicht Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

[11] Die Revision ist zur Klarstellung der Rechtslage zulässig, sie ist auch im Sinn des Aufhebungsantrags berechtigt.

[12] 1. Eine mangelhafte und unzureichende Beweiswürdigung kann im Revisionsverfahren nicht angefochten werden. Nur wenn sich das Berufungsgericht mit der Beweisfrage überhaupt nicht oder nur so mangelhaft befasst, dass keine nachvollziehbaren Überlegungen über die Beweiswürdigung angestellt und im Urteil festgehalten sind, ist sein Verfahren mangelhaft (RS0043371; RS0043141; RS0043027 [T3]). Die Entscheidung des Berufungsgerichts über eine Beweisrüge ist daher mangelfrei, wenn es sich mit dieser befasst, die Beweiswürdigung des Erstgerichts überprüft und nachvollziehbare Überlegungen über die Beweiswürdigung anstellt sowie in seinem Urteil festhält (vgl RS0043150).

[13] Da sich das Berufungsgericht mit der von den Klägern erhobenen Beweisrüge betreffend die für den Kausalitätsgegenbeweis relevanten Feststellungen und dabei insbesondere auch mit dem eingeholten Sachverständigengutachten ausführlich auseinandergesetzt hat, liegt die behauptete Mangelhaftigkeit des Berufungsverfahrens nicht vor.

[14] 2.1. Im Revisionsverfahren ist nicht strittig, dass der Beklagten der Nachweis der Verletzung des objektiven Tatbestands der Obliegenheit gemäß Art 4.1.1. ABH 2013 gelungen ist, sodass Art 3.2. zu prüfen ist. Dies setzt zunächst voraus, dass die Kläger diese Obliegenheit weder vorsätzlich noch grob fahrlässig verletzt haben, wofür sie behauptungs- und beweispflichtig sind (RS0081313; RS0043510):

[15] 2.2. Grobe Fahrlässigkeit wird allgemein im Versicherungsvertragsrecht dann als gegeben erachtet, wenn schon einfachste, naheliegende Überlegungen nicht angestellt und Maßnahmen nicht ergriffen werden, die jedermann einleuchten müssen, wenn jedenfalls völlige Gleichgültigkeit gegen das vorliegt, was offenbar unter den gebotenen Umständen hätte geschehen müssen (RS0080371). Grobe Fahrlässigkeit erfordert, dass ein objektiv besonders schwerer Sorgfaltsverstoß bei Würdigung aller Umstände des konkreten Falls auch subjektiv schwerstens vorzuwerfen ist (RS0030272).

[16] 2.2.1. Nach Ansicht des Fachsenats stellt das Verlassen des Hauses über mehrere Stunden bei unversperrter Terrassentür nicht in jedem Fall ein grob fahrlässiges Verhalten des Versicherungsnehmers dar. Dies auch unter Berücksichtigung des Umstands, dass den Klägern bekannt war, dass in ihrer unmittelbaren Nachbarschaft bereits zu einem früheren Zeitpunkt ein Einbruchsdiebstahl verübt wurde, handelte es sich dabei doch um ein einmaliges Ereignis. Die Kläger behaupteten im Verfahren erster Instanz, sie würden die Tür stets versperrt halten und hätten dies lediglich am Vorfallstag ausnahmsweise vergessen. Zu dieser Behauptung hat das Erstgericht eine Negativfeststellung getroffen, die die Kläger in ihrer Berufung bekämpft haben. Entgegen der Ansicht des Berufungsgerichts ist diese Feststellung von Relevanz, muss doch nach der Rechtsprechung selbst ein objektiv besonders schwerer Sorgfaltsverstoß bei Würdigung aller Umstände des konkreten Falls auch subjektiv schwerstens vorzuwerfen sein. Wenn es der Versicherungsnehmer einmalig unterlässt, eine Terrassentür nicht zu versperren, liegt aber kein subjektiv schwerstens vorwerfbares Verhalten vor.

[17] 2.2.2. Hätte die Rüge der Kläger Erfolg, könnte im fortgesetzten Verfahren eine für die Kläger günstige Feststellung getroffen werden und ein bloß leicht fahrlässiges Verhalten der Kläger vorliegen, sodass die Verletzung der Obliegenheit gemäß Art 4.1.1. ABH 2013 nicht die Leistungsfreiheit der Beklagten bewirken würde. In Wahrnehmung dieses Umstands war daher das Urteil des Berufungsgerichts aufzuheben und ihm die neuerliche Entscheidung aufzutragen.

[18] 3. Schon an dieser Stelle wird auf Folgendes hingewiesen:

[19] 3.1. Der Fachsenat hat den Nachweis, dass der Eintritt des Versicherungsfalls nicht auf der erhöhten Gefahrenlage beruhte, die typischerweise durch die Obliegenheitsverletzung entsteht (Kausalitätsgegenbeweis), bereits als misslungen angesehen, wenn durch die Obliegenheitsverletzung die Gefahr eines Einbruchsdiebstahls deshalb gesteigert wird, weil einem Einbrecher, etwa durch ein Fenster in Kippstellung, weniger Widerstand geboten wird als durch ein geschlossenes Fenster (7 Ob 239/12s; vgl auch 7 Ob 240/18x und 7 Ob 47/22w). Die Verpflichtung, die Wohnung zu versperren, ist ebenfalls eine Obliegenheit mit dem jedem Versicherungsnehmer erkennbaren Zweck, ein unbefugtes Eindringen unmöglich zu machen oder zumindest erheblich zu erschweren. Dieser Zweck kann nicht bereits durch das bloße Zuziehen einer Wohnungstür erreicht werden, bietet dies doch schon nach allgemeinem Kenntnisstand einen weit geringeren Einbruchsschutz (7 Ob 240/18x mwN).

[20] Die Rechtsansicht der Vorinstanzen, den Klägern sei der Kausalitätsgegenbeweis nicht gelungen, ist somit zutreffend, steht doch fest, dass eine wesentlich größere Gewalteinwirkung notwendig gewesen wäre, um die Türe aufzubrechen, wenn sie versperrt gewesen wäre. Dass nur nicht mit Sicherheit ausgeschlossen werden kann, dass der Einbruch auch bei versperrter Tür erfolgt wäre, reicht für den Kausalitätsgegenbeweis hingegen nicht aus.

[21] 3.2. Die Kläger führen unter Berufung auf die Entscheidung 7 Ob 214/97x aus, die Beklagte sei nur gegenüber dem Zweitbeklagten leistungsfrei, weil dieser als Letzter das Haus verlassen und daher nur er die Obliegenheit verletzt habe. Diese Argumentation scheitert schon daran, dass der Sachverhalt der zitierten Entscheidung mit dem vorliegenden Fall nicht vergleichbar ist. Hier haben beide Kläger gegen 9:00 Uhr das Haus verlassen und die Tür nicht versperrt, sodass die Obliegenheitsverletzung schon deshalb beiden anzulasten ist.

[22] 4. Die Revision ist daher zusammengefasst im Sinn des Aufhebungsantrags berechtigt.

[23] 5. Der Kostenvorbehalt beruht auf § 52 Abs 1 ZPO.

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