OGH 11Os70/23p

OGH11Os70/23p11.7.2023

Der Oberste Gerichtshof hat am 11. Juli 2023 durch die Hofrätin des Obersten Gerichtshofs Dr. Bachner‑Foregger als Vorsitzende sowie durch die Vizepräsidentin des Obersten Gerichtshofs Mag. Marek, die Hofrätin des Obersten Gerichtshofs Mag. Fürnkranz und die Hofräte des Obersten Gerichtshofs Dr. Oberressl und Mag. Riffel in Gegenwart des Richteramtsanwärters Obergruber LL.M. als Schriftführer in der Strafsache gegen * M* wegen des Vergehens der beharrlichen Verfolgung nach § 107a Abs 1 StGB, AZ 41 Hv 67/22x des Landesgerichts Wiener Neustadt, über die von der Generalprokuratur gegen den Beschluss des Landesgerichts Wiener Neustadt vom 30. März 2023, GZ 41 Hv 67/22x‑31, erhobene Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes nach öffentlicher Verhandlung in Anwesenheit des Vertreters der Generalprokuratur, Oberstaatsanwalt Mag. Pawle, zu Recht erkannt:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2023:0110OS00070.23P.0711.000

Rechtsgebiet: Strafrecht

 

Spruch:

 

In der Strafsache AZ 41 Hv 67/22x des Landesgerichts Wiener Neustadt verletzt der Beschluss dieses Gerichts vom 30. März 2023 (ON 31 der Hv‑Akten) § 495 Abs 3 StPO und § 86 Abs 1 StPO.

Dieser Beschluss wird aufgehoben und es wird dem Landesgericht Wiener Neustadt die neuerliche Entscheidung über den Antrag der Staatsanwaltschaft vom 30. März 2023 auf Widerruf der bedingten Strafnachsicht aufgetragen.

 

Gründe:

[1] Soweit hier relevant wurde * M* mit (gemäß § 270 Abs 4 StPO) in gekürzter Form ausgefertigtem Urteil des Landesgerichts Wiener Neustadt vom 24. August 2022, GZ 41 Hv 67/22x‑15.1, des Vergehens der beharrlichen Verfolgung nach § 107a Abs 1 StGB zum Nachteil des D* K* und der P* K* schuldig erkannt und zu einer unter Bestimmung einer Probezeit von drei Jahren gemäß § 43 Abs 1 StGB bedingt nachgesehenen Freiheitsstrafe von vier Monaten verurteilt.

[2] Unter einem erteilte der Einzelrichter der Angeklagten mit gleichfalls unbekämpft gebliebenem Beschluss (ON 15.1 S 4; § 86 Abs 3 und § 271a Abs 3 StPO) die – durch die Untersagung der Kontaktaufnahme hinreichend klar und bestimmt (vgl RIS‑Justiz RS0092363; Schroll/Oshidari in WK2 StGB § 51 Rz 24 f) zum Ausdruck gebrachte – Weisung, für die Dauer der Probezeit den Kontakt zu den Genannten zu meiden, „und zwar zu D* K* mit der Ausnahme, soweit ein Kontakt zur Abhaltung einer vereinbarten oder gerichtlich festgelegten Besuchsrechtsausübung zum gemeinsamen Sohn T* K* erforderlich ist“.

[3] Mit E‑Mail vom 21. Dezember 2022 (ON 21.1) teilte das Gewaltschutzzentrum Niederösterreich dem Landesgericht Wiener Neustadt mit, dass die Verurteilte D* K* trotz des ausgesprochenen Kontaktverbots weiterhin belästige und schloss dazu Auszüge der zwischen den Genannten geführten Kommunikation (ON 21.2) an.

[4] Der Einzelrichter forderte die Verurteilte mit (von ihr am 3. Jänner 2023 übernommener) Note vom 23. Dezember 2022 unter Erinnerung an das auferlegte „Kontaktverbot“ und die möglichen Folgen eines Weisungsbruchs auf, zur Eingabe des Gewaltschutzzentrums binnen 14 Tagen schriftlich Stellung zu nehmen (ON 1.16), was diese jedoch unterließ. Der sodann von der Verurteilten am 22. Februar 2023 eigenhändig übernommenen (ON 24.1.1) Ladung des Gerichts zu einer förmlichen (mündlichen) Mahnung (ON 22.1 iVm ON 24) leistete die Verurteilte nicht Folge (ON 27).

[5] Über Antrag der Staatsanwaltschaft vom 30. März 2023 (ON 28 und 1.18) widerrief der Einzelrichter des Landesgerichts Wiener Neustadt (nach Einholung einer Strafregisterauskunft [ON 1.19 und ON 29], jedoch ohne Anhörung der Verurteilten) mit – ihr noch nicht zugestelltem (ON 30.1) – Beschluss vom selben Tag (ON 31) die der Verurteilten gewährte bedingte Strafnachsicht, weil sie trotz aufrechtem Kontaktverbot D* K* beginnend mit 2. September 2022 über drei Monate hinweg mehrmals über das zur Ausübung des Besuchsrechts des gemeinsamen Sohnes notwendige Ausmaß hinaus kontaktiert habe und verwies dazu auf die in ON 21.2 enthaltene Kommunikation (BS 1). Die vom Gericht im Hinblick auf das aufrechte Kontaktverbot ausgesprochene „förmliche Mahnung samt Aufforderung zur Stellungnahme [ON 1.16]“ sei unbeantwortet geblieben. Trotz ordnungsgemäßer Ladung sei die Verurteilte dem für den 1. März 2023 ausgeschriebenen Termin zu einer „weiteren“ förmlichen Mahnung ferngeblieben und habe sich der Weisung trotz förmlicher Mahnung des Gerichts mutwillig widersetzt (BS 2).

Rechtliche Beurteilung

[6] Wie die Generalprokuratur in ihrer Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes zutreffend aufzeigt, steht dieser Beschluss mit dem Gesetz nicht im Einklang:

[7] Gemäß § 495 Abs 3 erster Satz StPO hat das Gericht vor der Entscheidung über den Widerruf einer bedingten Strafnachsicht unter anderem den Ankläger, den Verurteilten und den Bewährungshelfer zu hören sowie eine Strafregisterauskunft einzuholen. Diese Verpflichtung ist eine Minimalbedingung, deren Beachtung ein dem Gebot der Fairness entsprechendes Verfahren sicherstellen soll. Da der Entscheidung nach § 495 StPO – anders als bei § 494a StPO – keine Hauptverhandlung vorausgeht, kann sich insbesondere aufgrund von Angaben der Anhörungsberechtigten die Notwendigkeit weiterer Erhebungen ergeben. Ziel des Verfahrens ist die Schaffung einer zur verlässlichen Beurteilung der Widerrufsfrage hinreichenden Tatsachengrundlage, wobei die im zweiten Satz des § 495 Abs 3 StPO normierte Einschränkung, wonach von der Anhörung des Verurteilten abgesehen werden kann, wenn die Durchführung unverhältnismäßigen Aufwand erfordern würde, als Ausnahmebestimmung restriktiv auszulegen ist (dazu Jerabek/Ropper, WK‑StPO § 495 Rz 4 und 6).

[8] Da das Landesgericht Wiener Neustadt die bedingte Strafnachsicht widerrief, ohne zuvor die Verurteilte – trotz aktenkundiger inländischer Wohnadresse – diesbezüglich anzuhören, verletzte es § 495 Abs 3 StPO (vgl RIS‑Justiz RS0101849).

[9] Hinzugefügt sei, dass die (hier) in der Aufforderung der Verurteilten zur Stellungnahme (ON 1.16) und ihrer Ladung zur mündlichen Mahnung (ON 22.1 iVm ON 24) gelegene förmliche Mahnung im Sinn des § 53 Abs 2 StGB zwar eine materielle Voraussetzung für den Widerruf der bedingten Strafnachsicht wegen Nichtbefolgung einer Weisung bildet, die nach § 495 Abs 3 erster Satz StPO gebotene (Ladung zur [vgl RIS‑Justiz RS0117251]) Anhörung zur Widerrufsfrage jedoch nicht zu ersetzen vermag (vgl 13 Os 90/19p).

[10] Ein Beschluss hat gemäß § 86 Abs 1 StPO neben Spruch und Rechtsmittelbelehrung eine Begründung zu enthalten (§ 86 Abs 1 vierter Satz StPO). Die Pflicht zur Angabe des rechtlich als entscheidend beurteilten Sachverhalts umfasst auch jene zur Darlegung der Tatsachen (Beweisergebnisse), auf denen diese Sachverhaltsannahmen beruhen. Erst dadurch wird die Tatsachengrundlage der Entscheidung (§ 35 Abs 2 erster Fall StPO) dahin überprüfbar, ob sie in formal einwandfreier Weise – also ohne Begründungsmängel im Sinn des § 281 Abs 1 Z 5 StPO und demnach nicht willkürlich – geschaffen worden ist (siehe auch § 89 Abs 2a Z 3 StPO; vgl 15 Os 35/18p, 15 Os 66/18x, 15 Os 67/18v; 13 Os 109/22m, 13/23w).

[11] Entscheidungen (§ 35 Abs 1 und Abs 2 erster Fall StPO) sind dann rechtsfehlerhaft, wenn die Ableitung der Rechtsfolge aus dem vom Entscheidungsträger zugrunde gelegten Sachverhaltssubstrat das Gesetz verletzt oder die Sachverhaltsannahmen entweder (wie zu 1./ dargelegt) in einem rechtlich mangelhaften Verfahren zustande gekommen oder mit einem formalen Begründungsmangel behaftet sind und demnach willkürlich getroffen wurden (Ratz, WK‑StPO § 292 Rz 17; RIS‑Justiz RS0126648, RS0132725).

[12] Der auf die mutwillige Nichtbefolgung einer Weisung gestützte Widerruf einer bedingten Strafnachsicht nach § 53 Abs 2 StGB setzt eine dem (abermaligen) Weisungsbruch vorangegangene förmliche Mahnung voraus (RIS‑Justiz RS0092796). Die dafür maßgeblichen Sachverhaltsannahmen stützte das Gericht (BS 2 dritter Absatz iVm BS 1 letzter Absatz) auf die Auszüge der Kommunikation der Verurteilten mit D* K* und dessen Mutter „beginnend mit 2. September 2022 über drei Monate hinweg […] (ON 21.2)“. Da die darin wiedergegebenen Kontaktaufnahmen durch die Verurteilte somit ausschließlich in einem vor ihrer förmlichen Mahnung gelegenen Zeitraum erfolgten, ist der vom Gericht daraus gezogene Schluss auf Kontaktaufnahmen der Verurteilten mit den Genannten nach diesem Zeitpunkt mit den Gesetzen folgerichtigen Denkens nicht vereinbar (§ 281 Abs 1 Z 5 vierter Fall StPO; vgl RIS‑Justiz RS0116732). Die dem Beschluss zugrunde liegende Annahme eines (abermaligen) Weisungsbruchs nach förmlicher Mahnung durch das Gericht ist daher mit einem formalen Begründungsmangel behaftet.

[13] Der Oberste Gerichtshof sah sich gemäß § 292 letzter Satz StPO veranlasst, die Feststellung der Gesetzesverletzungen mit konkreter Wirkung zu verbinden.

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