OGH 10ObS37/23y

OGH10ObS37/23y22.6.2023

Der Oberste Gerichtshof hat in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Vizepräsidenten Prof. Dr. Neumayr als Vorsitzenden sowie die Hofräte Mag. Ziegelbauer und Mag. Schober (Senat gemäß § 11a Abs 3 ASGG) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Mag. B*, vertreten durch Dr. Thomas Stoiberer, Rechtsanwalt in Hallein, gegen die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt, 1021 Wien, Friedrich‑Hillegeist‑Straße 1, wegen vorzeitiger Alterspension, über den außerordentlichen Revisionsrekurs der klagenden Partei gegen den Beschluss des Oberlandesgerichts Linz als Rekursgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 13. Februar 2023, GZ 12 Rs 1/23 p‑20, mit dem der Beschluss des Landesgerichts Wels als Arbeits- und Sozialgericht vom 8. November 2022, GZ 19 Cgs 156/20i‑17, abgeändert wurde, den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2023:010OBS00037.23Y.0622.000

Rechtsgebiet: Zivilrecht

Fachgebiete: Sozialrecht, Zivilverfahrensrecht

Entscheidungsart: Zurückweisung mangels erheblicher Rechtsfrage

 

Spruch:

Der außerordentliche Revisionsrekurs wird gemäß § 526 Abs 2 Satz 1 ZPO mangels der Voraussetzungen des § 528 Abs 1 ZPO zurückgewiesen.

 

Begründung:

[1] Mit Berufungsurteil vom 28. Juli 2022 gab das Oberlandesgericht Linz als Arbeits- und Sozialgericht der vom Kläger erhobenen Berufung gegen das Urteil des Landesgerichts Wels als Arbeits- und Sozialgericht vom 26. März 2021 nicht Folge. Die Entscheidung wurde dem Kläger am 5. August 2022 zugestellt.

[2] Mit Beschluss vom 21. September 2022 wies das Landesgericht Wels als Arbeits- und Sozialgericht die am 13. September 2022 vom Kläger eingebrachte außerordentliche Revision als verspätet zurück.

[3] Am 6. Oktober 2022 beantragte der Kläger die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Revisionsfrist und führte das Rechtsmittelerneut aus.

[4] Das Erstgericht wies denAntrag ab. Es ging in tatsächlicher Hinsicht davon aus, dass die Kanzleimitarbeiter des Klagevertreters Revisionsfristen „üblicherweise“ mit vier Wochen eintragen und der Klagevertreter prüft, ob die Frist im Einzelfall länger ist. Da „im relevanten Zeitraum“ der Klagevertreter und der Rechtsanwaltsanwärter Dr. L*, der ansonsten sämtliche Arbeits- und Sozialrechtssachen in der Kanzlei bearbeitet, auf Urlaub waren, beauftragte der Klagevertreter Rechtsanwaltsanwärter MMag. K* mit der Fristenberechnung und Ausarbeitung der außerordentlichen Revision. Von Arbeit überlastet wies dieser das Sekretariat selbständig an, bezüglich der außerordentlichen Revision eine iSd § 222 ZPO verlängerte Frist einzutragen. Die Bestimmung des § 39 Abs 4 ASGG übersah er. Obwohl ihm der Klagevertreter mitgeteilt hatte, auch im Urlaub erreichbar zu sein, hielt MMag. K* vor Änderung der eingetragenen Frist keine Rücksprache mit dem Klagevertreter oder Dr. L*.

[5] Das Rekursgericht gab dem Rekurs des Klägersdahin Folge, dass es den Wiedereinsetzungsantrag zurück- anstatt abwies. Den Revisionsrekurs ließ es nicht zu.

Rechtliche Beurteilung

[6] Der außerordentliche Revisionsrekurs des Klägers unterliegt zwar nicht dem Rechtsmittelausschluss des § 528 Abs 2 Z 2 ZPO, weil eine abändernde Entscheidung vorliegt, wenn das Erstgericht den Wiedereinsetzungsantrag wegen eines groben Verschuldens des Antragstellers, also aus inhaltlichen Gründen (§ 146 Abs 1 ZPO), abweist, das Rekursgericht den Antrag hingegen wegen Verspätung (§ 148 Abs 2 ZPO) zurückweist (RIS‑Justiz RS0044202; RS0044263 [T1]). Der Klägerzeigt in seinem Rechtsmittel aber keine Rechtsfrage von erheblicher Bedeutung iSd § 528 Abs 1 ZPO auf.

[7] 1. Wurde die Prozesshandlung durch einen Irrtum versäumt, dann beginnt nach ständiger Rechtsprechung die Frist für den Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand mit dessen möglicher Aufklärung, sofern diese durch eine auffallende Sorglosigkeit unterblieben ist (RS0036742; RS0036608). Dabei darf zwar kein strengerer Maßstab angelegt werden als bei einer Versäumung der Frist selbst (RS0036827). Ein grobes Verschuldenliegt in der Regel aber vor, wenn der unterlaufene Fehler auf einer mangelhaften Organisation beruht, wobei an berufsmäßige Parteienvertreter der Haftungsmaßstab des § 1299 ABGB anzulegen ist (RS0127149 [insb T1]). Demgemäß hindert das einmalige Versehen eines ansonsten bewährten und verlässlichen Mitarbeiters die Wiedereinsetzung dann, wenn der Rechtsanwalt die von ihm zu erwartenden Sorgfalts-, Organisations- und Kontrollpflichten verletzt hat (vgl RS0036813 [T7]; 7 Ob 18/13t ua).

[8] 2. Im Anlassfall hat das Rekursgericht dem Kläger – dem das grobe Verschulden seines Rechtsvertreters zuzurechnen ist (RS0111777 [insb T2]) – zum Vorwurf gemacht, dass der Klagevertreter seinen Urlaub im Wissen angetreten habe, dass die Revisionsfrist auch bei richtiger Berechnung während seiner Abwesenheit ablaufen werde, und er sich dennoch auf den allein in der Kanzlei verbleibenden, nicht substitutionsberechtigten MMag. K* verlassen habe. Er habe damit nicht nur einen Verstoß gegen § 15 Abs 1 RAO bewusst in Kauf genommen, sondern überdies noch keinerlei Vorkehrungen in Hinblick auf seinen Urlaub getroffen oder Kontrollmechanismen durch ihn selbst vorgesehen.

[9] 3. Diese Beurteilung hält sich im Rahmen der dargestellten Rechtsprechung.

[10] 3.1. Eine aufzugreifende Fehlbeurteilung des Rekursgerichts ist schon deshalb nicht zu erkennen, weil der Klagevertreter im Sinne der ihn nach § 9 Abs 1, § 14 RAO, § 40 Abs 1 und Abs 2 RL‑BA 2015 treffenden Pflichten dafür Sorge zu tragen hatte, dass auch während seiner urlaubsbedingten Abwesenheit alle Fristen beachtet und fristgebundene Angelegenheiten (gegebenenfalls durch Substitution nach § 14 Satz 1 RAO) einer rechtzeitigen Erledigung zugeführt werden können (RS0071988 [T2]; Rohregger in Engelhart/Hoffmann/Lehner/Rohregger/Vitek, RAO11 § 14 Rz 26). Die Argumentation des Klägers, Anwälte dürften bei Zutreffen der Ansicht des Rekursgerichts de facto gar keinen Urlaub mehr machen, übergeht diese Grundsätze. Er hat auch nicht behauptet, dass es dem Klagevertreter – rechtlich oder faktisch – nicht möglich gewesen sei, für eine Stellvertretung zu sorgen oder anderweitige Vorkehrungen für seine urlaubsbedingte Abwesenheit zu treffen.

[11] 3.2. Ebenso wenig zeigt der Kläger auf, warum das Rekursgericht seinem Rechtsvertreter zu Unrecht das Fehlen jeglicher Kontrollen vorgeworfen haben sollte. Sein Standpunkt, es sei ausreichend, dass der Klagevertreter für etwaige (Rück‑)Fragen erreichbar gewesen wäre, widerspricht dem Inhalt und Wesen von Kontroll- und Aufsichtspflichten, die sich nicht auf passives Verhalten beschränken dürfen, sondern eine am Grad der Ausbildung, Einschulung und Verlässlichkeit der Mitarbeiter orientierte (vgl 10 ObS 117/02g SSV‑NF 16/70) aktive Beaufsichtigung bzw Überprüfung ihrer Tätigkeit erfordern. Für einen Irrtum ist es nämlich – wie schon das Rekursgericht überzeugend betont hat – charakteristisch, von der Richtigkeit des eigenen Handelns auszugehen, sodass für Nachfragen bei Vorgesetzten kein Anlass besteht. Den Mitarbeitern bloß diese Möglichkeit einzuräumen, ist kein wirksames Kontrollsystem.

[12] Auch mit dem Einwand, der Klagevertreter habe nicht damit rechnen müssen, dass MMag. K* die richtig vorgemerkte Rechtsmittelfrist eigenmächtig verlängern werde, vermag der Kläger die Zulässigkeit des Revisionsrekurses nicht zu begründen. Er übergeht bei seiner Argumentation, dass der Klagevertreter durch die Übertragung der (bzw aller) dringenden Angelegenheiten an einen damit schon quantitativ überlasteten und in Arbeits- und Sozialrechtssachen zudem unerfahrenen Konzipienten gerade jenes Umfeld geschaffen hat, das den hier unterlaufenen Fehler zumindest begünstigte. Unter diesen Voraussetzungen hätte es daher umso mehr eines Kontrollsystems bedurft, das geeignet gewesen wäre, Fristversäumnisse im Fall von Fehlern eines Mitarbeiters so weit als möglich auszuschließen. Angesichts dessen ist nicht zu beanstanden, wenn das Rekursgericht aufgrund des Fehlens jeglicher Kontrollmechanismen nicht mehr von einem bloß minderen Grad des Versehens ausgeht (vgl RS0036813 [T8]).

[13] 3.3. Soweit der Kläger unter Bezugnahme auf Gitschthaler (in Rechberger/Klicka ZPO5 §§ 148–149 Rz 9) meint, ein Rechtsanwalt müsse bei Unterfertigung eines von einem Konzipienten ausgearbeiteten verspäteten Rechtsmittels nur dann (gleich) einen Wiedereinsetzungsantrag stellen, wenn ihm die Verspätung aufgefallen sei, geht er von einer hier nicht vorliegenden Situation aus. Abgesehen davon muss einem Rechtsanwalt im Zuge der (nach § 15 Abs 1 RAO ihm obliegenden) Unterfertigung des Rechtsmittels die unrichtige Berechnung von Rechtsmittelfristen in Ferialsachen in aller Regel auffallen (7 Ob 55/07z).

[14] 4. Zusammenfassend zeigt der Kläger daher keine Rechtsfragen von der Qualität des § 528 Abs 1 ZPO auf, sodass der Revisionsrekurs zurückzuweisen ist.

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