OGH 7Ob36/23d

OGH7Ob36/23d24.5.2023

Der Oberste Gerichtshof hat durch die Senatspräsidentin Dr. Solé als Vorsitzende und die Hofrätinnen und Hofräte Mag. Dr. Wurdinger, Mag. Malesich, Dr. Weber und Mag. Fitz als weitere Richter in der Pflegschaftssache des 1. B* K*, geboren * 2005, *, 2. des minderjährigen M* K*, geboren * 2007, *, und 3. des minderjährigen U* K*, geboren * 2011, *, Mutter: A* K*, Vater: I* K*, vertreten durch Mag. Petra Trauntschnig, Rechtsanwältin in Wien, weitere Verfahrenspartei: Land Wien als Kinder‑ und Jugendhilfeträger *, wegen Obsorge, über den außerordentlichen Revisionsrekurs des Landes Wien als Kinder‑ und Jugendhilfeträger gegen den Beschluss des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Wien als Rekursgericht vom 23. Jänner 2023, GZ 43 R 541/22k‑72, mit dem der Beschluss des Bezirksgerichts Innere Stadt Wien vom 21. November 2022, GZ 5 Ps 106/19p‑62, teilweise abgeändert wurde, den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2023:0070OB00036.23D.0524.000

Rechtsgebiet: Zivilrecht

Fachgebiet: Familienrecht (ohne Unterhalt)

Entscheidungsart: Ordentliche Erledigung (Sachentscheidung)

 

Spruch:

Dem Revisionsrekurs wird Folge gegeben.

Die Beschlüsse der Vorinstanzen, die in Ansehung der Abweisung des Obsorgeantrags betreffend B* K* und hinsichtlich der Entziehung der Obsorge der Eltern für M* K* und U* K* im Bereich „medizinische Abklärung“ und für U* K* im Bereich „Hortanmeldung und Entscheidung über den Hortbesuch“ und der Übertragung in diesem Umfang auf das Land Wien als Kinder- und Jugendhilfeträger in Rechtskraft erwachsen sind, werden im übrigen Umfang aufgehoben.

Die Pflegschaftssache wird in diesem Umfang zur neuerlichen Verhandlung und Entscheidung an das Erstgericht zurückverwiesen.

 

Begründung:

[1] Die Abweisung des Obsorgeantrags des Landes Wien als Kinder‑ und Jugendhilfeträger betreffend B* K*, der während des Revisionsrekursverfahrens volljährig wurde, durch das Rekursgericht ist in Rechtskraft erwachsen.

[2] Der 15 Jahre alte M* K* und der nunmehr 12 Jahre alte U* K* sind österreichische Staatsangehörige und entstammen der Ehe ihrer Eltern.

[3] Die Eltern bagatellisieren die kritische Entwicklungssituation der Kinder massiv, suchen Ausflüchte und die Schuld beim Einschreiten des Kinder‑ und Jugendhilfeträgers oder in einer genetischen Disposition der Kinder.

[4] Seit der Befassung des Erstgerichts im Jahr 2020, in diesem Jahr wurde die Lage mit den Eltern ausführlich besprochen, hat es keine Veränderung gegeben. Ein Betreuungsangebot für übergewichtige Kinder wurde vom älteren Kind nicht regelmäßig besucht. Der Verein „P*“ hat zwar die Arbeit mit der Familie aufgenommen; seine Arbeit befindet sich aber nach eineinhalb Jahren noch immer in der Phase des „Beziehungsaufbaus“, weil sein Einschreiten von der Familie abgelehnt wird und keine aktive Mitarbeit erfolgt; „P*“ wird daher seine Arbeit aufgrund „Aussichtslosigkeit“ beenden.

[5] Bei den Eltern bestehen Einschränkungen der Erziehungsfähigkeit. Ihnen gelingt es nicht, Entwicklungen und Aufgaben der Kinder – auch gegen deren Willen – einzufordern sowie ihre Kinder zu notwendigen Verhaltensweisen zu motivieren und zu fördern.

[6] Durch diese Einschränkung der Erziehungsfähigkeit stellt sich die Situation wie folgt dar:

[7] Der nunmehr 12‑jährige U* wird klein gehalten, geschont und hat keine Möglichkeit, sich Herausforderungen zu stellen, die er aber für seine Entwicklung und Verselbständigung benötigt. Nachdem er sich im Hort nach anfänglicher Schüchternheit zunehmend geöffnet hatte und sich immer besser in die Gruppe integrierte, hätten die Pädagoginnen gewünscht, dass er auch Freitags an den Ausflügen teilnimmt. Die Eltern behielten ihn am Freitag mit der Begründung jedoch zu Hause, dass ihm das zu anstrengend sei. U* hat massive Defizite aufgrund mangelnder Förderung. Ein Gespräch mit ihm war im Rahmen der Abklärung kaum möglich, weil er sprachlich nicht folgen kann. Er wirkt kognitiv sehr eingeschränkt, eine Gesichtshälfte erscheint schlaffer als die andere, wodurch der Mund beim Sprechen schief „anmutet“. In der psychologischen Diagnostik hat sich ein Leistungsabfall bemerkbar gemacht, die Situation in der Schule ist jedoch stabil. Er zeigt Auffälligkeiten in der Psychomotorik. In den letzten Monaten hat er massiv an Gewicht zugelegt.

[8] Der 15‑jährige M* hat sich in der Schule positiv entwickelt. Im Gespräch wirkt er belastet und depressiv. Sein sozialer und tatsächlicher Bewegungsradius ist eingeschränkt. Er ist affektflach, eingeengt und kann Fragen teils gar nicht folgen. Der Grund dafür bleibt unklar; er ist entweder in einer kognitiven Beeinträchtigung oder in einer massiv gedrückten Stimmungslage zu vermuten.

[9] Innerhalb der Familie gibt es kein Potential zur Veränderung oder Einsicht. Es ist nicht vorhersehbar, ob es bei einer Fremdunterbringung zu einer gesundheitlichen Verbesserung und Stabilität der beiden Söhne kommen wird. Es bedarf aber jedenfalls der Abklärung der psychischen und physischen Gesundheit, wenn möglich im stationären Bereich. Das massive Übergewicht des älteren Sohnes ist eine Auswirkung von ungünstigen Faktoren, wie dem elterlichen Erziehungsstil, deren Vorbildwirkung, sozialen Defiziten und dem Aufwachsen in weitgehend deprimierenden Lebensverhältnissen. Bei einer Fremdunterbringung bedarf es einer engmaschigen Begleitung der Eltern, damit die Maßnahme zumindest so weit mitgetragen wird, dass sie Veränderungen bei den Kindern nicht entgegenwirken.

[10] Die Familiengerichtshilfe empfiehlt eine Fremdunterbringung der beiden Söhne durch eine stationäre Abklärung auf der Kinder‑ und Jugendpsychiatrie im AKH, um danach passende Betreuungseinrichtungen für sie zu wählen.

[11] Eine sofortige Unterbringung im stationären Bereich wird auch aufgrund der Überlastung der Kinder- und Jugendpsychiatrie nicht möglich sein und jedenfalls Monate dauern. Das Land Wien als Kinder‑ und Jugendhilfeträger hat jedoch die Möglichkeit, Jugendliche von ihrem „Konsiliarpsychiater“ innerhalb der nächsten Wochen untersuchen zu lassen und bei entsprechender Empfehlung ist damit zu rechnen, dass es schneller zu einer stationären Abklärung kommen kann.

[12] Der ältere Sohn will bei seinen Eltern bleiben. Der Jüngere war nicht in der Lage, sich dazu zu äußern.

[13] Der Kinder‑ und Jugendhilfeträger beantragte – soweit für das Revisionsrekursverfahren von Relevanz – mit Eingabe vom 8. 3. 2022, den Eltern die Obsorge für die beiden Minderjährigen zu entziehen und ihm zu übertragen. Er habe alle Möglichkeiten ausgeschöpft. Die massiv widerständige Haltung der Eltern verhindere jegliche unterstützende Intervention von Helfern. Bei den Minderjährigen seien bereits schwerwiegende Schäden eingetreten, die sich auf die psychische und physische Gesundheit sowie soziale und berufliche Integrität auswirken. Eine Fremdunterbringung sei die einzige Möglichkeit, die Interessen der Kinder hinsichtlich ihrer Gesundheit und Förderung zu wahren und eine weitere Gefährdung hintanzuhalten.

[14] Die Mutter und der Vater sprachen sich gegen die Übertragung der Obsorge aus und brachten vor, dass sie sich immer an alle Vorgaben des Kinder‑ und Jugendhilfeträgers gehalten hätten und sie alles für ihre Kinder tun würden.

[15] Das Erstgericht entzog den Eltern die „gesamte“ Obsorge und übertrug sie dem Kinder‑ und Jugendhilfeträger. Es sprach gemäß § 44 AußStrG aus, dass dieser Beschluss vorläufig verbindlich und vollstreckbar sei. Das Wohl der Kinder sei bei einem Verbleib bei den Eltern gefährdet. Die Söhne seien belastet, wobei teilweise unklar sei, woher diese Belastung oder auch die kognitiven Einschränkungen kämen. Eine zeitnahe Abklärung sei jedoch von den Eltern, die kein Problembewusstsein hätten, nicht zu erwarten. Um eine rasche Abklärung zu gewährleisten und somit feststellen zu können, worin die Defizite der Kinder genau lägen und diesen auch notwendige Förderungen oder therapeutische Maßnahmen zukommen zu lassen, sei eine „Abnahme der Kinder unausweichlich“.

[16] Das Rekursgericht gab dem dagegen erhobenen Rekurs des Vaters teilweise Folge. Es entzog den Eltern die Obsorge für M* und U* K* im Bereich „medizinische Abklärung“ und für U* K* im Bereich „Hortanmeldung und Entscheidung über den Hortbesuch“, übertrug sie in diesem Umfang dem Kinder‑ und Jugendhilfeträger und wies den darüber hinausgehenden Antrag des Kinder‑ und Jugendhilfeträgers auf Übertragung der Obsorge ab. Rechtlich führte es aus, in der Familie bestehe ein äußerst liebevoller und fürsorglicher Umgang untereinander. Der ältere Sohn habe sich zuletzt in der Schule verbessert, die Schulsituation des jüngeren Sohnes sei stabil. Die Eltern seien trotz vielfältiger Unterstützungsversuche deutlich überfordert. Die Kinder würden durch die Übertragung der gesamten Obsorge auf den Kinder‑ und Jugendhilfeträger massiv belastet. Im Hinblick auf die positiven Aspekte des Familienlebens lasse die Abnahme der beiden „Kinder bei der notwendigen Abwägung der Belastungen und der unsicheren Vorteile der Abnahme noch nicht ausreichend erkennen [...], dass diese überwiegend im Kindeswohl“ liege. Dem Antrag auf vollständige Entziehung der Obsorge sei daher nicht stattzugeben.

[17] Im Bereich der „medizinischen Abklärung“ könne jedoch im Hinblick auf die lange Zeit, die die Eltern Gelegenheit gehabt hätten, diese durchzuführen, nicht mehr mit deren Tätigkeit das Auslangen gefunden werden, sodass in diesem Bereich dem Kinder‑ und Jugendhilfeträger die Obsorge für die beiden Kinder übertragen werden müsse. Die Eltern förderten auch den jüngeren Sohn nicht ausreichend. Da sein vermehrter Hortbesuch erforderlich wäre, sei dem Kinder‑ und Jugendhilfeträger die Obsorge für diesen Sohn auch in diesem Bereich zu übertragen.

[18] Das Rekursgericht erklärte den ordentlichen Revisionsrekurs für nicht zulässig, weil die Beurteilung des konkreten Sachverhalts im Vordergrund gestanden sei.

[19] Gegen diesen Beschluss richtet sich der Revisionsrekurs des Landes Wien als Kinder‑ und Jugendhilfeträger mit dem Abänderungsantrag, ihm die Obsorge für die beiden Minderjährigen „zur Gänze“ zu übertragen.

[20] Der Vater beantragt in der ihm freigestellten Revisionsrekursbeantwortung, den Revisionsrekurs zurückzuweisen oder ihm nicht Folge zu geben. Weitere Personen haben sich nicht am Revisionsrekursverfahren beteiligt.

Rechtliche Beurteilung

[21] Der Revisionsrekurs ist zur Wahrung der Rechtssicherheit zulässig, er ist auch im Sinn des im Abänderungsantrag enthaltenen Aufhebungsantrags (vgl RS0041774 [T1]) berechtigt.

[22] 1. Nach § 181 Abs 1 ABGB kann das Gericht, wenn die Eltern durch ihr Verhalten das Kindeswohl gefährden, die Obsorge dem bisherigen Berechtigten ganz oder teilweise entziehen und an den Kinder‑ und Jugendhilfeträger übertragen (§ 211 ABGB) oder sonst zur Sicherung des Kindeswohls geeignete sichernde oder unterstützende Maßnahmen treffen. Bei Anordnung von solchen Maßnahmen ist der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und der Familienautonomie zu berücksichtigen. Durch eine solche Verfügung darf das Gericht die Obsorge nur insoweit beschränken, als dies zur Sicherung des Wohls des Kindes erforderlich ist (RS0048736 [T3, T5]). Eine Verfügung, mit der die Obsorge entzogen wird, kommt nur als ultima ratio in Betracht. Zuvor hat das Gericht alle anderen Möglichkeiten zu prüfen, die dem Kindeswohl gerecht werden können und eine Belassung des Kindes in der Familie ermöglichen. Eine Gefährdung des Kindeswohls ist dann gegeben, wenn die Obsorgeberechtigten ihre Pflichten objektiv nicht erfüllen oder diese subjektiv gröblich vernachlässigen und durch ihr Verhalten schutzwürdige Interessen des Kindes wie die physische oder psychische Gesundheit, die altersgemäße Entwicklung und Entfaltungsmöglichkeiten oder die soziale Integration oder die wirtschaftliche Sphäre des Kindes konkret gefährden (7 Ob 67/22m mwN; RS0048633).

[23] 2. Nach Maßgabe dieser Grundsätze erfordert eine Entscheidung über die Entziehung der Obsorge, die einen tiefgreifenden Einschnitt in die Eltern‑Kind‑Beziehung bedeutet, eine sorgfältig erhobene Tatsachengrundlage, aus der sich aufgrund des anzulegenden strengen Maßstabs mit der nötigen Sicherheit eine konkrete und aktuelle Gefahrenlage für das Kindeswohl ableiten lässt (RS0048699 [T20, T21]). Da Obsorgeentscheidungen eine zukunftsbezogene Rechtsgestaltung zum Inhalt haben, können sie nur dann sachgerecht sein, wenn sie auf einer aktuellen bis in die jüngste Gegenwart reichenden Tatsachengrundlage beruhen (RS0106312).

[24] 3. Das gemäß § 66 Abs 2 AußStrG im Revisionsrekursverfahren geltende Neuerungsverbot ist im Obsorgeverfahren aus Gründen des Kindeswohls insofern durchbrochen, als der Oberste Gerichtshof aktenkundige Entwicklungen, die die bisherige Tatsachengrundlage wesentlich verändern, auch dann berücksichtigen muss, wenn sie erst nach Beschlussfassung einer der Vorinstanzen eingetreten sind (RS0106312 [T1]).

[25] 4. Nach den Feststellungen besteht in der Familie – die Eltern führen ein aufrechtes Eheleben – ein äußerst liebevoller und fürsorglicher Umgang untereinander, jedoch weisen die Eltern massive Defizite in der Erziehungsfähigkeit auf. Sie lassen den Gesundheitszustand der Kinder, was dringend notwendig wäre, nicht ausreichend abklären und verwehren ihrem jüngeren Sohn auch den erforderlichen Hortbesuch, sodass das Rekursgericht in diesem Teilbereich die Obsorge den Eltern rechtskräftig entzogen und dem Kinder‑ und Jugendhilfeträger übertragen hat.

[26] Dessen Beurteilung, dass eine darüber hinausgehende Entziehung der Obsorge bei Abwägung der positiven Aspekte des Familienlebens und der Belastung der Kinder durch die Fremdunterbringung nicht dem Kindeswohl entspricht, ist zwar auf der Grundlage der erstinstanzlichen Feststellungen vertretbar, vernachlässigt jedoch die mittlerweile eingetretene aktenkundige Entwicklung. Der Vater hat die beiden Söhne nach Zustellung der erstinstanzlichen Entscheidung in die Türkei verbracht (ihr Aufenthalt nach wie vor dort wird von ihm in der Revisionsrekursbeantwortung zugestanden), was vom Kinder- und Jugendhilfeträger gegenüber der Polizei zur Anzeige gebracht wurde. Durch die Verbringung der beiden Söhne in die Türkei und den damit verbundenen abrupten Abbruch sämtlicher bisheriger Sozialkontakte, könnten in kindeswohlgefährdender Weise für die Söhne und deren gedeihliche Entwicklung äußerst ungünstige Fakten geschaffen worden sein. Der Kinder‑ und Jugendhilfeträger hat dadurch nicht die Möglichkeit, die dringend erforderliche medizinische Abklärung bei ihnen zu veranlassen. Durch die Verbringung ins Ausland könnte auch die adäquate Ausbildung und Weiterentwicklung der Söhne vernachlässigt sein. Aufgrund dieser Umstände könnte sich eine beachtliche Änderung gegenüber der erstinstanzlichen Negativfeststellung ergeben, wonach nicht vorhersehbar sei, ob die Fremdunterbringung zu einer gesundheitlichen Verbesserung und Stabilität der beiden Söhne führt.

[27] 5. Damit bestehen Anhaltspunkte, dass die Situation der Kinder zu ihrem Nachteil durch die Verbringung in die Türkei geändert wurde. Dieser aktenkundige Umstand, der dem Rekursgericht auchbekannt war, wurde in der rechtlichen Beurteilung der Rekursentscheidung nicht erwähnt. Ihr nunmehriger Aufenthalt im Ausland ist jedoch im fortzusetzenden Verfahren zu berücksichtigen.

[28] 6. Der Revisionsrekurs des Kinder‑ und Jugendhilfeträgers ist daher im Sinn des im Abänderungsantrag enthaltenen Aufhebungsantrags berechtigt. Das Erstgericht wird für die neuerliche Entscheidung eine dem aktuellen Sachverhaltsstand angepasste Entscheidungsgrundlage zu schaffen haben.

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