OGH 7Ob67/22m

OGH7Ob67/22m29.6.2022

Der Oberste Gerichtshof hat durch die Hofrätin Dr. Solé als Vorsitzende und die Hofrätin unddie Hofräte Mag. Dr. Wurdinger, Mag. Malesich, Mag. Pertmayr, und Dr. Weber als weitere Richter in der Pflegschaftssache der Minderjährigen 1. A* L*, geboren * 2018, und 2. C* L*, geboren * 2020, beide vertreten durch das Land Niederösterreich als Kinder- und Jugendhilfeträger, wegen Obsorge, über den Revisionsrekurs der Mutter B* L*, vertreten durch Ing. Mag. Dr. Roland Hansely, Rechtsanwalt in Wien, gegen den Beschluss des Landesgerichts Korneuburg als Rekursgericht vom 5. Februar 2022, GZ 20 R 22/22h‑113, mit dem der Beschluss des Bezirksgerichts Gänserndorf vom 29. November 2021, GZ 6 Ps 271/19h‑99, bestätigt wurde, den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2022:0070OB00067.22M.0629.000

 

Spruch:

Dem Revisionsrekurs wird Folge gegeben.

Die Beschlüsse der Vorinstanzen werden aufgehoben und die Pflegschaftssache zur neuerlichen Entscheidung nach Verfahrensergänzung an das Erstgericht zurückverwiesen.

 

Begründung:

[1] Die beiden Minderjährigen sind die Kinder von B* und F* L*.

[2] Am 3. Februar 2021 übernahm der Kinder- und Jugendhilfeträger wegen Kindeswohlgefährdung im Wege einer Maßnahme nach § 211 ABGB vorläufig die Pflege und Erziehung für die beiden Minderjährigen. Die Kinder wurden bei einer Pflegefamilie untergebracht. Mit Beschluss vom 12. April 2021 erklärte das Erstgericht die Maßnahme des Kinder- und Jugendhilfeträgers für vorläufig zulässig.

[3] Der Kinder- und Jugendhilfeträger beantragte am 9. Februar 2021 den Eltern die Obsorge für die beiden Minderjährigen in den Teilbereichen Pflege und Erziehung sowie Vermögensverwaltung einschließlich der gesetzlichen Vertretung in diesen Bereichen zu entziehen. Die Eltern könnten die Bedürfnisse ihrer Kinder weder erkennen noch adäquat darauf reagieren. Der Vater sei gewalttätig gegenüber der Mutter sowieden Kindern gewesen und konsumiere exzessiv Alkohol. Die Mutter sei nicht in der Lage, die Kinder vor den körperlichen Übergriffen des Vaters zu schützen. Trotz der seit August 2020 installierten sonderpädagogischen Familienintensivbetreuung habe sich das Verhalten der Eltern nicht geändert, weshalb zur Abwendung weiterer Beeinträchtigungen des Kindeswohls die Kinder abgenommen und zu Krisenpflegeeltern gebracht worden seien.

[4] Die Mutter und der Vater sprachen sich gegen den Obsorgeantrag des Kinder- und Jugendhilfeträgers aus und stellten ihrerseits Anträge auf Übertragung der alleinigen Obsorge für die beiden Minderjährigen. Dazu brachten siezusammengefasst vor, die vom Kinder- und Jugendhilfeträger behaupteten Defizite ihrer Erziehungsfähigkeit würden nicht vorliegen. Jeder von ihnen sei für sich geeignet, die Kinder zu betreuen, zu versorgen und aufzuziehen.

[5] Das Erstgericht wies die Obsorgeanträge der Mutter und des Vaters ab, entzog den Eltern die Obsorge für die beiden Minderjährigen in den Teilbereichen Pflege und Erziehung sowie Vermögensverwaltung einschließlich der gesetzlichen Vertretung in diesen Bereichen und übertrug sie auf den Kinder- und Jugendhilfeträger. Eine Entziehung der Obsorge dürfe nur das letzte Mittel sein und nur insoweit angeordnet werden, als dies zur Abwendung einer drohenden Gefährdung des Kindeswohls notwendig sei. Eine solche Gefährdung des Wohls der beiden Kinder liege hier vor. Beide Eltern seien in ihrer Erziehungsfähigkeit massiv eingeschränkt und nicht geeignet, die Obsorge für die beiden Minderjährigen auszuüben. Da auch keine anderen geeigneten nahen Angehörigen vorhanden seien, sei zur Sicherung des Wohls der Kinder die Obsorge auf den Kinder- und Jugendhilfeträger zu übertragen.

[6] Das Rekursgericht gab den Rekursen der Mutter sowie des Vaters nicht Folge und führtezusammengefasstaus, dass sich die mangelnde Erziehungsfähigkeit der Eltern und die dadurch bewirkte Gefährdung des Kindeswohls aus dem gründlichen, ausführlichen und wohlbegründeten Gutachten des kinderpsychologischen Sachverständigen ergebe.

[7] Gegen diesen Beschluss richtet sich der Revisionsrekurs der Mutter mit einem Aufhebungsantrag; hilfsweise wird ein Abänderungsantrag auf Übertragung der alleinigen Obsorge gestellt.

[8] Der Kinder- und Jugendhilfeträger beantragt in seinerRevisionsrekursbeantwortung, den Revisionsrekurs zurückzuweisen; hilfsweise ihm nicht Folge zu geben. Weitere Personen haben sich nicht am Revisionsrekursverfahren beteiligt.

[9] Der Revisionsrekurs ist zur Wahrung der Rechtssicherheit zulässig, er ist auch im Sinn des Aufhebungsantrags berechtigt.

Rechtliche Beurteilung

[10] 1. Nach § 181 Abs 1 ABGB kann das Gericht, wenn die Eltern durch ihr Verhalten das Kindeswohl gefährden, die Obsorge dem bisherigen Berechtigten ganz oder teilweise entziehen und an den Kinder- und Jugendhilfeträger übertragen (§ 211 ABGB) oder sonst zur Sicherung des Kindeswohls geeignete sichernde oder unterstützende Maßnahmen treffen. Bei der Anordnung von solchen Maßnahmen ist der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und der Familienautonomie zu berücksichtigen. Durch eine solche Verfügung darf das Gericht die Obsorge nur insoweit beschränken, als dies zur Sicherung des Wohls des Kindes erforderlich ist (RS0048736). Eine Verfügung, mit der die Obsorge entzogen wird, kommt nur als ultima ratio in Betracht. Zuvor hat das Gericht alle anderen Möglichkeiten zu prüfen, die dem Kindeswohl gerecht werden können und eine Belassung des Kindes in der Familie ermöglichen. Eine Gefährdung des Kindeswohls ist dann gegeben, wenn die Obsorgeberechtigten ihre Pflichten objektiv nicht erfüllen oder diese subjektiv gröblich vernachlässigen und durch ihr Verhalten schutzwürdige Interessen des Kindes wie die physische oder psychische Gesundheit, die altersgemäße Entwicklung und Entfaltungsmöglichkeit oder die soziale Integration oder die wirtschaftliche Sphäre des Kindes konkret gefährden (RS0048633; 4 Ob 216/19x).

[11] 2. Nach Maßgabe dieser Grundsätze erfordert eine Entscheidung über die Entziehung der Obsorge, die einen tiefgreifenden Einschnitt in die Eltern-Kind-Beziehung bedeutet (vgl RS0048699), eine sorgfältig erhobene Tatsachengrundlage, aus der sich aufgrund des anzulegenden strengen Maßstabs mit der nötigen Sicherheit eine konkrete und aktuelle Gefahrenlage für das Kindeswohl ableiten lässt (RS0048699 [T20, T21]). Da Obsorgeentscheidungen eine zukunftsbezogene Rechtsgestaltung zum Inhalt haben, können sie nur dann sachgerecht sein, wenn sie auf einer aktuellen bis in die jüngste Gegenwart reichenden Tatsachengrundlage beruhen (RS0106312). Deshalb ist eine Entscheidung, die etwa auf einer veralteten Gutachtenserstellung beruht, problematisch (vgl 6 Ob 41/13t).

[12] 3. Ein vom Rekursgericht verneinter Mangel des außerstreitigen Verfahrens erster Instanz bildet grundsätzlich keinen Revisionsrekursgrund (RS0050037). Dieser Grundsatz erfährt im Pflegschaftsverfahren nur dann eine Durchbrechung, wenn das die Interessen des Kindeswohls erfordern (RS0050037 [T1, T4]; RS0030748 [T2, T5, T18]), was insbesondere im Obsorge- und Kontaktrechtsverfahren Bedeutung hat (RS0050037 [T8]).

[13] 4. Das Erstgericht stützte seine Beurteilung zum Vorliegen einer Kindeswohlgefährdung durch die Mutter auf das Gutachten des kinderpsychologischen Sachverständigen. Dieser führte jedoch in seinem Gutachten aus, dass sich die Familie in einer krisenhaften Situation befinde, weshalb die Beantwortung der gerichtlichen Fragen nur für einen Zeitraum von wenigen Monaten Gültigkeit habe. Angesichts dieses Hinweises des Sachverständigen hätte das Erstgericht vor seiner Entscheidung, die es rund 8 Monate nach der Befunderhebung traf, ein Ergänzungsgutachten einholen müssen, zumal es schon während des Verfahrens erster Instanz Anhaltspunkte gab, dass sich die Situation der Mutter zum Positiven geändert haben könnte, hatte sich die Mutter doch bereits vom Vater scheiden lassen und begonnen, ihre psychischen Probleme aufzuarbeiten. Die Mutter machte die mangelnde Aktualität des Gutachtens und die Besserung ihrer Lebensverhältnisse in ihrem Rekurs erkennbar geltend, jedoch wurden diese Umstände vom Rekursgericht nicht aufgegriffen. Somit liegt eine vom Rekursgericht zu Unrecht verneinte Mangelhaftigkeit des Verfahrens erster Instanz vor, die zur Wahrung des Kindeswohls vom Obersten Gerichtshof aufzugreifen ist.

[14] 5. Der Revisionsrekurs der Mutter ist daher im Sinn des Aufhebungsantrags berechtigt. Das Erstgericht wird für die neuerliche Entscheidung eine dem aktuellen Sachverhaltsstand angepasste Entscheidungsgrundlage zu schaffen haben.

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