European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2023:0010OB00046.23F.0425.000
Rechtsgebiet: Zivilrecht
Fachgebiet: Amtshaftung inkl. StEG
Entscheidungsart: Ordentliche Erledigung (Sachentscheidung)
Spruch:
Dem Revisionsrekurs wird Folge gegeben.
Die Beschlüsse der Vorinstanzen werden aufgehoben.
Dem Erstgericht wird die Fortsetzung des Verfahrens unter Abstandnahme vom gebrauchten Zurückweisungsgrund aufgetragen.
Die Kosten des Rechtsmittelverfahrens sind weitere Verfahrenskosten.
Begründung:
[1] Vor dem Bezirksgericht Neusiedl am See ist ein – von zahlreichen Obsorge- und Kontaktrechtsanträgen geprägtes – Pflegschaftsverfahren hinsichtlich zweier Minderjähriger anhängig, in welchem die Obsorge zuletzt dem Vater übertragen wurde. Der Kläger ist der Großvater der Minderjährigen mütterlicherseits.
[2] Mit seinerKlage begehrt er, der Beklagten zu verbieten, a) „ohne gesetzliche Grundlage in ein vertrauliches und nicht öffentliches Pflegschaftsverfahren, insbesondere in das Verfahren betreffend die beiden Minderjährigen [...] einzugreifen und sich Dritten gegenüber als Parteienvertreter auszugeben,“ sowie b) „gegen Kontakte jedwelcher Art zwischen dem Kläger und den beiden Minderjährigen zu intervenieren“.
[3] Dazu brachte er vor, die Beklagte leite die Bezirkshauptmannschaft N* und habe daher die volle Verantwortung für die Tätigkeit ihrer „Organe“, die ihr gegenüber weisungsgebunden und von ihr zu beaufsichtigen seien. Der Vater werde in dem Pflegschaftsverfahren seit März 2018 von der Bezirksverwaltungsbehörde vertreten, obgleich die Vertretung von Verfahrensparteien nach § 107 Abs 1 Z 1 AußStrG Rechtsanwälten vorbehalten sei. Zusätzlich sei nach Angaben des Vaters eine Vollmachtserteilung nach § 208 Abs 2 ABGB an die Beklagte erfolgt. Gesetzliche Vertreterin der Minderjährigen sei damals allerdings die Mutter gewesen. Deren Zustimmung habe die Beklagte nicht vorgelegt. Dennoch habe die Beklagte nachfolgend zahlreiche das Pflegschaftsverfahren betreffende Eingaben an das Gericht gerichtet; dies im Wissen, dass ohne Vorlage der schriftlichen Ermächtigung das Einschreiten unzulässig gewesen sei. Das Gesetz sehe keine Einmischung einer Bezirksverwaltungsbehörde in ein Pflegschaftsverfahren vor. Es gebe im Pflegschaftsakt keinen einzigen Beschluss, mit welchem der Kinder- und Jugendhilfeträger (KJHT) mit einer Äußerung beauftragt worden wäre. Dem Kläger komme ein wesentliches Rechtsschutzinteresse zu, von den Eingriffen einer unzuständigen Stelle nicht in seinen Rechten eingeschränkt zu werden.
[4] Zudem beantragte der Kläger, die Rechtssache an das Bezirksgericht Baden zu delegieren, weil „zivilgerichtliche Verfahren am zuständigen Bezirksgericht Neusiedl am See in den letzten Jahren überhaupt nicht geführt worden“ seien und das „Unterlassungsbegehren per se unmittelbar Organe dieses Bezirksgerichts“ miteinbeziehe, sodass ausgeschlossen sei, dass dieses Gericht über die Sache völlig unvoreingenommen absprechen könnte.
[5] Das Erstgerichtwies die Klage a limine mangels Zulässigkeit des Rechtswegs zurück und den Delegierungsantrag „ab“ (gemeint offenkundig ebenfalls: zurück). Der Rechtsweg sei ausgeschlossen, weil mit dem Unterlassungsbegehren in Wahrheit der Republik Österreich hoheitliches Handeln untersagt werden solle. Damit komme auch eine Delegation nicht in Frage.
[6] Das Rekursgericht bestätigte diese Entscheidung und ließ den ordentlichen Revisionsrekurs zu.
[7] Mit der Klage werde keine vorläufige Maßnahme nach § 211 ABGB angesprochen, sodass es beim Grundsatz zu bleiben habe, wonach die Tätigkeit des KJHT außerhalb der vorläufigen Maßnahme nach § 211 ABGB der Hoheitsverwaltung zuzurechnen sei.
[8] Der Revisionsrekurs sei zulässig, weil von einer gefestigten Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs zur Frage des hoheitlichen Charakters der Tätigkeit des Jugendwohlfahrtsträgers – soweit ersichtlich – nicht ausgegangen werden könne.
[9] Dagegen wendet sich der (richtig:) ordentliche Revisionsrekurs des Klägers mit dem Antrag, die Entscheidungen der ersten und zweiten Instanz aufzuheben und dem Klagebegehren stattzugeben.
Rechtliche Beurteilung
[10] Der Revisionsrekurs ist aus dem vom Rekursgericht genannten Grundzulässig; er ist im Ergebnis auchberechtigt.
[11] 1. Vorauszuschicken ist, dass die unrichtige Benennung eines Rechtsmittels nicht dessen Behandlung in einer dem Gesetz entsprechenden Weise hindert (RS0036258). Das fälschlich als „ordentliche Revision“ bezeichnete Rechtsmittel ist daher als ordentlicher Revisionsrekurs zu behandeln.
[12] 2. Bei der Entscheidung über die Zulässigkeit des Rechtswegs ist von den Klagebehauptungen auszugehen. Maßgebend ist die Natur des erhobenen Anspruchs. Es kommt auf den Inhalt und nicht auf den bloßen Wortlaut des Begehrens, aber auch nicht darauf an, ob es berechtigt ist; darüber, ob der behauptete Anspruch auch begründet ist, ist erst in der Sachentscheidung abzusprechen (RS0045718). Stützt der Kläger sein Begehren auf einen privaten Rechtstitel, obwohl der Beklagte als Organ eines Rechtsträgers hoheitlich handelte, ist die Klage nach § 9 Abs 6 AHG mangels Zulässigkeit des Rechtswegs zurückzuweisen (RS0045718 [T16]). Der Rechtsweg ist ganz allgemein ausgeschlossen, wenn zwar ein privatrechtlicher Eingriff behauptet wird, das Begehren auf Unterlassung aber zeigt, dass in Wahrheit hoheitliches Handeln untersagt werden soll (RS0045584 [T52]; RS0010522).
[13] 3. Das ist hier nicht der Fall.
[14] 3.1. Zu 1 Ob 211/20s (SZ 2021/29 = iFamZ 2021/107 [Beck] = EvBl 2021/155 [Zariri] = EF‑Z 2021, 266 [Gitschthaler 241, Reischauer 244] = RS0133567) hat sich der Senat – in Abkehr von der bisherigen Rechtsprechung in dieser Frage – der Rechtsprechung der Gerichtshöfe des öffentlichen Rechts und der überwiegenden Lehre angeschlossen, dass der KJHT, wenn er eine vorläufige Maßnahme nach § 211 ABGB setzt, nicht hoheitlich, sondern privatrechtlich tätig wird.
[15] Es trifft zwar zu, dass der Klage hier keine vorläufige Maßnahme nach § 211 ABGB zugrunde liegt. Der Umkehrschluss des Rekursgerichts, dass jede andere Tätigkeit des KJHT der Hoheitsverwaltung zuzurechnen sei, ist jedoch nicht zulässig. So hat schon Gitschthaler (Die „private“ Kindesabnahme samt Polizeieinsatz, EF‑Z 2021, 241) darauf hingewiesen, dass, wenn sogar Maßnahmen aufgrund der Interimskompetenz Privatwirtschaftsverwaltung seien, andere Handlungen oder Unterlassungen von Bediensteten des KJHT nicht viel anders – bzw erst recht so – gesehen werden müssten. Zudem ist im Zweifel, ob ein bestimmter Verwaltungsakt im Bereich der Hoheitsverwaltung oder der Privatwirtschaftsverwaltung zu ergehen hat, letzteres anzunehmen (RS0050117).
[16] 3.2. Das gilt auch im hier zu beurteilenden Fall. Der Kläger kritisiert – soweit die Klage überhaupt verständlich ist (siehe Punkt 4.) – offenbar, dass die zuständige Bezirkshauptmannschaft als Vertreterin des Vaters und/oder der Kinder im Pflegschaftsverfahren aufgetreten sei und Stellungnahmen an das Pflegschaftsgericht gerichtet habe:
[17] Gemäß § 208 Abs 2 ABGB wird der KJHT in den dort genannten Angelegenheiten (Unterhaltsfestsetzung und ‑hereinbringung, allenfalls Abstammungsangelegenheiten) ex lege Vertreter des Kindes, wenn die schriftliche Zustimmung des sonstigen gesetzlichen Vertreters vorliegt. In anderen Angelegenheiten ist der KJHT nach § 208 Abs 3 ABGB Vertreter des Kindes, wenn er sich dazu bereit erklärt und der gesetzliche Vertreter zustimmt.
[18] In diesem Zusammenhang hat der Senat schon zu 1 Ob 35/14z ausgesprochen, dass der Jugendwohlfahrtsträger (nunmehr KJHT) als Vertreter des Kindes bei der Festsetzung oder Durchsetzung von Unterhaltsansprüchen nicht in Vollziehung der Gesetze (§ 1 Abs 1 AHG) handelt; nichts anderes kann in Fällen des § 208 Abs 3 ABGB gelten (ebenso Mokrejs‑Weinhappel in Rummel/Lukas/Geroldinger, ABGB4 § 208 Rz 4; Cohen/Tschugguel in Kletečka/Schauer, ABGB‑ON1.04 § 208 Rz 2; Weitzenböck in Schwimann/Kodek,ABGB5 § 208 Rz 3).
[19] Nach § 106 AußStrG kann der KJHT vor Verfügungen über Pflege und Erziehung oder über die persönlichen Kontakte gehört werden. Auch das Erstatten einer solchen Stellungnahme ist kein hoheitliches Handeln (14 Os 60/20k = RS0105870 [T2]).
[20] 3.3. Daraus folgt, dass das beanstandete (behauptete) Handeln der Beklagten entgegen der Meinung des Rekursgerichts nicht der Hoheitsverwaltung zuzurechnen ist, der Beklagten daher mit der Klage auch nicht hoheitliches Handeln untersagt werden soll und ihr folglich die Bestimmung des § 9 Abs 5 AHG nicht zugute kommt. Da die Vorinstanzen die Klage und den Delegierungsantrag zu Unrecht wegen Unzulässigkeit des Rechtswegs zurückgewiesen haben, war dem Revisionsrekurs des Klägers Folge zu geben.
[21] 4. Bei Fortsetzung des Verfahrens wird das Erstgericht zu beachten haben, dass die Klage unschlüssig und das Klagebegehren unbestimmt ist. Insbesondere kann ihr kein nachvollziehbarer Rechtsgrund für die begehrte Unterlassungsverpflichtungentnommen werden. Vor diesem Hintergrund wird auch die (im Zuge des Rechtsmittelverfahrens erfolgte) Bewilligung der Verfahrenshilfe für das weitere Verfahren zu überdenken sein (§ 68 Abs 1 ZPO).
[22] 5. Die Kostenentscheidung beruht auf § 52 Abs 1 ZPO.
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