OGH 4Ob221/22m

OGH4Ob221/22m28.2.2023

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten Univ.‑Prof. Dr. Kodek als Vorsitzenden sowie die Hofräte Dr. Schwarzenbacher und MMag. Matzka sowie die Hofrätinnen Mag. Istjan, LL.M., und Mag. Fitz als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei Dr. W*, vertreten durch Pressl Endl Heinrich Bamberger Rechtsanwälte GmbH in Salzburg, gegen die beklagten Parteien 1. K*GmbH, *, 2. H* GmbH, *, beide vertreten durch Schaffer Sternad Rechtsanwälte OG in Wien, wegen 36.742,91 EUR sA, über den Rekurs der beklagten Parteien (Rekursinteresse 35.372,35 EUR) gegen den Beschluss des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Wien als Berufungsgericht vom 27. Juli 2022, GZ 38 R 95/22k-27, womit das Urteil des Bezirksgerichts Innere Stadt Wien vom 11. März 2022, GZ 57 C 122/21w-23, teilweise aufgehoben wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2023:0040OB00221.22M.0228.000

Rechtsgebiet: Zivilrecht

Fachgebiet: Bestandrecht

Entscheidungsart: Ordentliche Erledigung (Sachentscheidung)

 

Spruch:

Dem Rekurs wird nicht Folge gegeben.

Die beklagten Parteien sind zur ungeteilten Hand schuldig, der klagenden Partei die mit 2.417,33 EUR (darin 402,89 EUR USt) bestimmten Kosten des Rekursverfahrens binnen 14 Tagen zu ersetzen.

 

Begründung:

[1] Der Kläger ist Eigentümer einer Liegenschaft und vermietet an die Beklagten ein darauf gelegenes Geschäftslokal, in dem diese, dem vereinbarten Verwendungszweck entsprechend, ein Bekleidungsgeschäft betreiben. Die Beklagten überwiesen dem Kläger für die Monate März und April 2021 nur 80 % bzw 50 % des vorgeschriebenen Mietzinses. In diesen Monaten galten nach § 5 Abs 1 der Verordnung des Bundesministers für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz, mit der besondere Schutzmaßnahmen gegen die Verbreitung von COVID-19 getroffen werden (4. COVID-19-SchuMaV, BGBl II Nr 58/2021) für Kundenbereiche folgende Bestimmungen zur Eindämmung der Pandemie:

Das Betreten und Befahren des Kundenbereichs von Betriebsstätten ist unter folgenden Voraussetzungen zulässig:

1. Gegenüber Personen, die nicht im gemeinsamen Haushalt leben, ist ein Abstand von mindestens zwei Metern einzuhalten.

2. Kunden haben eine Atemschutzmaske der Schutzklasse FFP2 (FFP2-Maske) ohne Ausatemventil oder eine Maske mit mindestens gleichwertig genormtem Standard zu tragen.

3. Für das Betreten von Arbeitsorten durch den Betreiber gelten die Vorgaben des § 6 Abs 2 bis 7.

4. Der Betreiber hat durch geeignete Maßnahmen sicherzustellen, dass sich maximal so viele Kunden gleichzeitig im Kundenbereich aufhalten, dass pro Kunde 20 m² zur Verfügung stehen; ist der Kundenbereich kleiner als 20 m², so darf jeweils nur ein Kunde den Kundenbereich der Betriebsstätte betreten. Bei Betriebsstätten ohne Personal ist auf geeignete Weise auf diese Voraussetzung hinzuweisen.

5. Der Betreiber von Betriebsstätten gemäß Abs 3 Z 1 hat durch geeignete Maßnahmen sicherzustellen, dass sich maximal so viele Kunden gleichzeitig im Kundenbereich aufhalten, dass pro Kunde 10 m² zur Verfügung stehen; ist der Kundenbereich kleiner als 10 m², so darf jeweils nur ein Kunde den Kundenbereich der Betriebsstätte betreten.

 

[2] Die Beklagten verzeichneten im Monat März 2021 einen Umsatzrückgang zum Durchschnitt der in den Jahren 2016 bis 2019 jeweils im Monat März erzielten Umsätze von rund 40 %, im April 2021 (ebenso im Vergleich zum Durchschnitt der in den Jahren 2016 bis 2019 jeweils im Monat April erzielten Umsätze) von über 50 %. Der Umsatz beider Monate zusammen betrachtet verringerte sich im Vergleich zum durchschnittlichen Umsatz in den beiden Monaten in den Jahren 2016 bis 2019 um 50 %.

[3] Der Kläger begehrte (unter anderem) die Zahlung des gesamten Mietzinses für die Monate März und April 2021.

[4] Die Beklagten wendeten ein, ihre Umsatzrückgänge seien auf die staatlich verordneten COVID‑19-Maßnahmen wie Abstandsregeln, Maskenpflicht, Verbot der Einnahme von Speisen und Getränken vor Ort zurückzuführen. Überdies habe die geringe Durchimpfungsrate die Kauflust der Kunden reduziert. Es handle sich dabei um kein individuelles, in die Sphäre der Beklagten fallendes Risiko, sondern um einen außerordentlichen Zufall iSv § 1104 ABGB, der einen größeren Personenkreis treffe.

[5] Das Erstgericht wies die Klage ab. Die COVID‑19-Pandemie sei eine „Seuche“ iSv § 1104 ABGB und die behördlichen Maßnahmen zu ihrer Eindämmung würden zur Unbenutzbarkeit des Bestandgegenstands führen. Im vorliegenden Fall seien die Umsatzeinbußen sowohl auf die behördlichen Maßnahmen als auch auf die Sorge der Kunden vor Ansteckung zurückzuführen. Durch den massiven Umsatzrückgang liege eine Einschränkung der Brauchbarkeit des Objekts vor. Jede mittelbar aus der Pandemie resultierende Gebrauchsbeeinträchtigung führe zu einer Zinsminderung nach §§ 1104, 1105 ABGB. Es spiele keine Rolle, ob die eingeschränkte Brauchbarkeit des Bestandobjekts auf behördliche Maßnahmen oder auf das Ausbleiben von Kunden aus Angst vor Ansteckung zurückzuführen sei, weil sich jeweils ein „außerordentlicher Zufall“ iSv § 1104 ABGB verwirkliche. Es bestehe daher ein Mietzinsminderungsanspruch der Beklagten im Hinblick auf die festgestellten Umsatzrückgänge.

[6] Das Berufungsgericht hob das Urteil im hier maßgeblichen Teil auf und trug dem Erstgericht insoweit eine neuerliche Entscheidung nach Verfahrensergänzung auf. Umsatzrückgänge der Beklagten würden dann zu einer Mietzinsminderung führen, wenn sie unmittelbare Folge einer wegen behördlicher Maßnahmen eingeschränkten Nutzungsmöglichkeit des konkreten Geschäftslokals seien. Die behördlichen Maßnahmen, die zu einer Beschränkung der Kundenzahl führten, seien jedenfalls abstrakt geeignet, eine teilweise Unbenutzbarkeit des Bestandgegenstands gemessen am Vertragszweck des Betriebs eines Einzel‑handelsunternehmens zu begründen. Ob die Betretung eines Geschäftslokals von der Behörde zur Gänze untersagt werde, oder nur teilweise durch Begrenzung der zulässigen Kundenzahl und Anordnung von einzuhaltenden Mindestabständen zwischen den im Geschäftslokal anwesenden Personen, könne grundsätzlich keiner unterschiedlichen Beurteilung unterzogen werden, weil jeweils von staatlicher Seite auf die Möglichkeit der Ausübung der Geschäftstätigkeit im konkreten Objekt direkt Einfluss genommen und zur Begründung des Eingriffs die Notwendigkeit der Eindämmung der Pandemie herangezogen werde. Anders sei aber die Verpflichtung zum Tragen einer FFP2‑Maske zu beurteilen. Zwar beruhe auch diese Verpflichtung auf einer behördlichen Maßnahme zur Eindämmung der Pandemie, doch werde dadurch nicht direkt auf die Möglichkeit, das Geschäftslokal zu betreten, Einfluss genommen. Die Beweispflicht für die mangelnde Brauchbarkeit des Bestandobjekts bei einer Beschränkung der Kundenzahl treffe den Bestandnehmer. Er habe unter Beweis zu stellen, dass die konkrete behördliche Maßnahme Einfluss auf die Möglichkeit der Ausübung des vereinbarten Vertragszwecks hatte. Im fortgesetzten Verfahren werde daher zu klären sein, ob und wenn ja welchen Einfluss die Begrenzung der Kundenzahl auf die Brauchbarkeit des Bestandobjekts hatte. Dabei sei unter Umständen § 273 ZPO anzuwenden. Der Rekurs an den Obersten Gerichtshof sei in Ermangelung von höchstgerichtlicher Rechtsprechung zur Frage zulässig, welche behördlichen Maßnahmen außerhalb des Lockdowns, hier die Beschränkung der Kundenanzahl im Geschäftslokal, Abstandregelungen und Verpflichtung zum Tragen von FFP2‑Masken, den Geschäftsraummieter zu einer Mietzinsminderung berechtigen.

[7] Die Beklagten beantragen mit ihrem – vom Kläger beantworteten – Rekurs, in der Sache zu entscheiden und das Urteil des Erstgerichts wiederherzustellen.

[8] Der Rekurs ist zulässig, aber nicht berechtigt.

Rechtliche Beurteilung

[9] 1.1. Zu den in § 1104 ABGB ausdrücklich genannten Elementarereignissen gehört die „Seuche“, und COVID-19 ist ein solcher Fall. Aus dem Elementarereignis resultierende hoheitlichen Eingriffe wie Betretungsverbote für bestimmte Geschäftslokale hatten zur Folge, dass diese Objekte „gar nicht gebraucht oder benutzt werden“ konnten (RS0133812).

[10] 1.2. Wenn die in Bestand genommene Sache wegen eines außerordentlichen Zufalls gar nicht gebraucht oder benutzt werden kann, so ist nach § 1104 ABGB kein Mietzins zu entrichten. Behält der Mieter trotz eines solchen Zufalls einen beschränkten Gebrauch des Mietstücks, so wird ihm gemäß § 1105 ABGB ein verhältnismäßiger Teil des Mietzinses erlassen.

[11] 1.3. Die Frage, ob (teilweise) Unbenützbarkeit des Bestandgegenstands vorliegt, ist nach dem Vertragszweck zu beurteilen. Die Bestandsache muss eine Verwendung zulassen, wie sie gewöhnlich nach dem Vertragszweck erforderlich ist und nach der Verkehrssitte erfolgt. Mangels anderer Vereinbarungen ist eine mittlere (durchschnittliche) Brauchbarkeit geschuldet (RS0021054; RS0020926). Für die Beurteilung ist daher in erster Linie die (ausdrückliche) Parteienvereinbarung bzw der dem Vertrag zugrunde gelegte Geschäftszweck maßgeblich (RS0021044; 3 Ob 185/15z).

[12] 1.4. Ein Umsatzrückgang als solcher reicht im Allgemeinen für sich allein nicht aus, um eine Mietzinsminderung zu begründen (vgl RS0119192; RS0117011).

[13] 1.5. In der Entscheidung 3 Ob 209/21p wurde im Zusammenhang mit einem als Reisebüro benützten Geschäftslokal ausgesprochen, dass Umsatzeinbußen nur dann für eine Minderung des Mietzinses beachtlich seien, wenn die behördliche Schließung des Geschäftslokals dafür kausal gewesen sei, nicht aber, wenn diese auf andere Gründe, wie zB die Verminderung der Reiseaktivitäten zurückzuführen seien (vgl auch 9 Ob 84/21z; 7 Ob 207/21y; 10 Ob 46/22w).

[14] 2.1. Der vorliegende Fall ist dadurch geprägt, dass die von den Beklagten begehrte Mietzinsminderung nicht mit behördlichen Schließungen des Geschäftslokals begründet wird, sondern mit weniger gravierenden (aber ebenfalls durch die Pandemie verursachten) behördlichen Eingriffen wie der Begrenzung der zulässigen Kundenzahl und der Anordnung von einzuhaltenden Mindestabständen zwischen den im Geschäftslokal anwesenden Personen.

[15] 2.2. Das Berufungsgericht unterzieht die genannten Zutrittsbeschränkungen grundsätzlich derselben Beurteilung wie gänzlichen Schließungen. Dies ist insoweit zutreffend, als es sich dabei nur um graduell unterschiedliche Benützungshindernisse handelt, die unmittelbare Folge der pandemiebedingt erlassenen – speziell auf Geschäftslokale bezogenen – behördlichen Maßnahmen sind. Die oben genannten behördlich angeordneten Zutrittsbeschränkungen (Begrenzung der Kundenzahl, Mindestabstände) sind daher als „außerordentliche Zufälle“ iSv § 1104 ABGB und die dadurch verursachten Umsatzeinbußen als „konkrete Folgen einer objektiven Einschränkung des vertraglich bedungenen Gebrauchs des Bestandobjekts“ (vgl 3 Ob 209/21p) zu qualifizieren und im Rahmen einer Mietzinsminderung nach § 1105 ABGB zu berücksichtigen.

[16] 2.3. Davon zu unterscheiden sind jedoch geringerwertige, die Gebrauchstauglichkeit des Mietobjekts nicht beeinträchtigende und die Allgemeinheit treffende staatliche Eingriffe wie die Maskenpflicht sowie auch eine pandemiebedingt eingeschränkte Kauflust der Kunden. Dem Berufungsgericht ist darin zu folgen, dass damit nicht direkt auf die Möglichkeit, das Geschäftslokal zu betreten, Einfluss genommen wird und dass allfällige maskenbedingte Unlustgefühle der Kunden deren individueller Sphäre zuzuordnen sind, worauf die behördliche Maßnahme nur mittelbar Einfluss hat. Diese Umstände sind daher nicht geeignet, iSv §§ 1104, 1105 ABGB Mietzinsbeschränkungen zu begründen, sondern fallen in das unternehmerische Risiko des Mieters der Geschäftsräumlichkeit (vgl P. Bydlinski, Der Einfluss der COVID-19-Pandemie auf die Geschäftsraummiete, ÖJZ 2021/131; zum allgemeinen Kundenverhalten vgl auch 3 Ob 209/21p; 9 Ob 84/21z).

[17] 2.4. Das Erstgericht wird daher im Sinne der berufungsgerichtlichen Ausführungen zu klären haben, ob und wenn ja welchen Einfluss die behördlich verfügte Begrenzung der Kundenzahl samt Abstandsregeln auf die Brauchbarkeit des Bestandsobjekts hatte. Dabei bedarf es zunächst eines ergänzenden Vorbringens der Beklagten, welche konkreten Auswirkungen die Begrenzung der Kundenanzahl und die einzuhaltenden Mindestabstände auf den Geschäftsbetrieb hatten, etwa ob es dadurch zu Wartezeiten im Eingangsbereich oder zu einem erschwerten bzw verzögerten Zutritt zu einzelnen Räumen des Geschäftslokals kam. Auf Basis der in diesem Sinn zu ergänzenden Feststellungen wird das Erstgericht – unter Heranziehung von § 273 ZPO – gegebenenfalls eine angemessene Mietzinsminderung zu bemessen haben.

[18] 3. Die Entscheidung über die Kosten des Rekursverfahrens beruht auf den §§ 41, 50 ZPO.

Stichworte