OGH 8Ob159/22y

OGH8Ob159/22y23.2.2023

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten Hon.‑Prof. Dr. Kuras als Vorsitzenden sowie die Hofrätinnen Dr. Tarmann‑Prentner und Mag. Korn und die Hofräte Dr. Stefula und Dr. Thunhart in der Rechtssache der klagenden Parteien 1. Dr. G*, und 2. Ing. A*, beide vertreten durch die Schaffer Sternad Rechtsanwälte OG in Wien, wider die beklagte Partei K*, vertreten durch Mag. Paul Nagler, BSc, LL.M., Rechtsanwalt in Wien, wegen Räumung, über die außerordentliche Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Wien vom 30. August 2022, GZ 40 R 55/22t‑30, mit welchem das Urteil des Bezirksgerichts Floridsdorf vom 2. Jänner 2022, GZ 25 C 729/20t‑24, abgeändert wurde, den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2023:0080OB00159.22Y.0223.000

Rechtsgebiet: Zivilrecht

Entscheidungsart: Ordentliche Erledigung (Sachentscheidung)

 

Spruch:

Der Revision wird Folge gegeben.

Die Entscheidungen der Vorinstanzen werden – mit Ausnahme der in Rechtskraft erwachsenen Abweisung des Zwischenfeststellungsantrags der beklagten Partei – aufgehoben und die Rechtssache zur neuerlichen Entscheidung nach Verfahrensergänzung an das Erstgericht zurückverwiesen.

Die Kosten des Revisionsverfahrens sind weitere Verfahrenskosten.

 

Begründung:

[1] Die Beklagte ist die Nichte der Kläger und bewohnt seit dem Jahr 2015 eine Wohnung im Haus, das ursprünglich ihren Großeltern gehörte. Aufgrund des Übergabevertrags vom 21. 9. 2017 sind nunmehr die Kläger Eigentümer des Hauses.

[2] Die Kläger begehren die Räumung der Wohnung. Es liege ein Prekarium, in eventu ein familiäres Wohnverhältnis vor, das von den Klägern aufgekündigt worden sei, sodass die Beklagte die Wohnung nunmehr titellos nutze.

[3] Die Beklagte bestritt und brachte vor, dass sie mit ihrer Großmutter die Vereinbarung getroffen habe, dass sie die Wohnung bis zu ihrer Selbsterhaltungsfähigkeit nutzen dürfe.

[4] Das Erstgericht wies die Klage ab. Es stellte fest, dass die Großmutter der Beklagten ihr die Wohnung bis zu ihrer Selbsterhaltungsfähigkeit überlassen habe. Anlässlich des Übergabevertrags hätten die Großeltern der Beklagten den Klägern zwar mitgeteilt, dass die Beklagte diese Wohnung „prekaristisch“ nutze, doch sei nicht feststellbar, ob ihnen die genaue Bedeutung des Wortes bekannt war. In rechtlicher Hinsicht führte das Erstgericht aus, dass angesichts der getroffenen Vereinbarung kein Prekarium, sondern ein befristetes Nutzungsrecht vorliege, das nicht vorzeitig widerrufen werden könne.

[5] Nachdem die Kläger erstmals in der Berufung vorbrachten, dass das Rechtsverhältnis zur Beklagten nicht auf sie übergegangen sei, änderte das Berufungsgericht die Entscheidung des Erstgerichts dahin ab, dass dem Räumungsbegehren stattgeben wurde. Der – erst im Berufungsverfahren vollständig vorgelegte – Übergabevertrag sei dahin auszulegen, dass das Nutzungsrecht zur Beklagten von den Klägern nicht übernommen worden sei, sodass sich die Beklagte gegenüber den Klägern nicht auf die Vereinbarung mit ihrer Großmutter berufen könne. Das Berufungsgericht sprach aus, dass die ordentliche Revision nicht zulässig sei, der Wert des Entscheidungsgegenstands aber 30.000 EUR übersteige.

[6] Dagegen richtet sich die Revision der Beklagten, mit der sie eine Aufhebung des angefochtenen Urteils anstrebt.

[7] Die Kläger beantragen in der ihnen freigestellten Revisionsbeantwortung, die Revision der Beklagten zurückzuweisen, in eventu ihr nicht Folge zu geben.

[8] Die Revision ist zulässig, weil das Berufungsgericht gegen das Verbot von Überraschungsentscheidungen verstoßen hat. Sie ist damit auch berechtigt.

Rechtliche Beurteilung

[9] 1. Nach § 482 ZPO dürfen im Berufungsverfahren keine neuen Tatsachen vorgebracht werden (RIS‑Justiz RS0037612; RS0041965; RS0042011). Demgegenüber ist eine Änderung der rechtlichen Argumentation einer Partei oder die Geltendmachung eines neuen Gesichtspunkts bei der rechtlichen Beurteilung auch im Rechtsmittelverfahren zulässig, wenn die dazu erforderlichen Tatsachen bereits im Verfahren erster Instanz behauptet oder festgestellt wurden (RS0016473). Da die Behauptung, dass das Rechtsverhältnis zur Klägerin ungeachtet des Übergabevertrags vom 21. 9. 2017 nicht auf die Kläger übergegangen sei, die rechtliche Qualifikation des festgestellten Sachverhalts betrifft, durften die Kläger diesen Aspekt auch noch im Berufungsverfahren geltend machen.

[10] 2. Nach § 182a ZPO muss das Gericht das Sach- und Rechtsvorbringen der Parteien erörtern und darf seine Entscheidung in der Hauptsache auf rechtliche Gesichtspunkte, die eine Partei erkennbar übersehen oder für unerheblich gehalten hat, nur stützen, wenn es diese mit den Parteien erörtert und ihnen Gelegenheit zur Äußerung gegeben hat. Dementsprechend darf das Gericht die Parteien nicht mit einer Rechtsauffassung überraschen, die sie nicht beachtet haben und auf die sie das Gericht nicht aufmerksam gemacht hat (RS0037300; RS0108816). Den Parteien darf nämlich nicht die Möglichkeit entzogen werden, zu diesem neuen rechtlichen Gesichtspunkt Tatumstände und Rechtsansichten vorzubringen (RS0037300 [T14, T20]). Das Überraschungsverbot gilt auch im Berufungsverfahren (RS0037300 [T1]).

[11] 3. Da die Frage des Rechtsübergangs im erstinstanzlichen Verfahren weder von den Parteien noch vom Gericht thematisiert wurde, wäre die Rechtsansicht des Berufungsgerichts, wonach das Rechtsverhältnis zur Beklagten nicht auf die Kläger übergegangen sei, mit den Parteien zu erörtern gewesen. Ein Verfahrensmangel nach § 503 Z 2 ZPO hat aber nur dann die Aufhebung des Urteils des Berufungsgerichts zur Folge, wenn er sich auf die Entscheidung auswirken hätte können (RS0037300 [T28]).

[12] 4. Die Beklagte führt dazu aus, dass sie im Fall der Erörterung des Rechtsübergangs vorgebracht hätte, dass die Kläger damit einverstanden gewesen seien, das Rechtsverhältnis zur Beklagten so zu übernehmen, wie es gegenüber den Großeltern der Beklagten bestanden habe. Würde ein übereinstimmender Parteiwille festgestellt werden, kommt es nicht mehr darauf an, ob die Übernahme des Rechtsverhältnisses zur Beklagten auch einen hinreichend deutlichen Niederschlag im Wortlaut des Übergabevertrags gefunden hat (RS0017741). Die Auslegung nach dem Vertragstext kommt nämlich erst in Betracht, wenn keine Willensübereinstimmung der Parteien feststellbar ist (RS0017811). Der Umstand, dass die Frage des Rechtsübergangs nicht mit den Parteien erörtert wurde, war deshalb geeignet, den Ausgang des Verfahrens zu beeinflussen.

[13] 5. Entgegen den Ausführungen in der Revisionsbeantwortung handelt es sich nicht um einen vom Berufungsgericht verneinten Mangel des erstinstanzlichen Verfahrens. Hat das Berufungsgericht eine Partei mit einer Rechtsansicht überrascht, welche diese erkennbar übersehen oder für unerheblich gehalten hat, so liegt vielmehr ein Revisionsgrund vor, der zur Aufhebung sowohl des Berufungsurteils wie auch des Ersturteils zwingt, um den bereits im erstinstanzlichen Verfahren, in dem dieser rechtliche Aspekt übersehen und dementsprechend nicht erörtert wurde, unterlaufenen Verfahrensmangel zu beheben, (RS0036355 [T9]). Im fortgesetzten Verfahren wird das Erstgericht die Frage des Rechtsübergangs mit den Parteien erörtern, allenfalls beantragte Beweise aufnehmen und ergänzende Feststellungen zur Absicht der Parteien des Übergabevertrags treffen müssen.

[14] 6. Der Kostenvorbehalt beruht auf § 52 Abs 1 ZPO.

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