European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2023:0070OB00005.23W.0221.000
Rechtsgebiet: Zivilrecht
Fachgebiete: Grundrechte, Unterbringungs- und Heimaufenthaltsrecht
Entscheidungsart: Ordentliche Erledigung (Sachentscheidung)
Spruch:
Dem Revisionsrekurs wird Folge gegeben.
Der angefochtene Beschluss wird aufgehoben und die Heimaufenthaltssache zur neuerlichen Entscheidung nach allfälliger Verfahrensergänzung an das Rekursgericht zurückverwiesen.
Begründung:
[1] Das Erstgericht gab mit dem – nach mündlicher Verhandlung – gefassten Beschluss dem Antrag des Vereins die „freiheitsbeschränkenden Maßnahmen (Fixierungsmaßnahmen sowohl im Bett als auch sitzend, daneben bedarfsangepasste medikamentöse sedierende Therapie) im Zeitraum 27. 6. 2022 bis 27. 7. 2022“ für unzulässig zu erklären, statt. Dabei ging es im Wesentlichen von folgenden Feststellungen aus:
[2] Der Bewohner erlitt am 6. 6. 2022 einen Schlaganfall. Die durch den Schlaganfall aufgetretene Minderdurchblutung verursachte eine Hemiparese (Halbseitenlähmung) links und eine homonyme Hemianopsie nach links (Gesichtsfeldausfall beim Blick nach links). Beim Bewohner handelt es sich um einen multimorbiden Patienten, der bereits vor dem Schlaganfall an verschiedenen körperlichen Erkrankungen an Lunge und Herz gelitten hat und auch weiterhin leidet. Es liegen aber auch neurokognitive Defizite vor. Bei einer derart gestörten Gehirnfunktion kann es zu einer (zeitweisen oder anhaltenden) Verkennung der Realität, oft verbunden mit einer psychomotorischen Unruhe, kommen.
[3] Der Bewohner befand sich vom 27. 6. 2022 bis 27. 7. 2022 aufgrund des Schlaganfalls in stationärer Betreuung des Landeskrankenhauses R*. Während des Aufenthalts war er aufgrund seiner psychischen Erkrankung anhaltend desorientiert in allen Qualitäten mit lediglich Teilorientierung zur Person. Er war sehr unruhig und versuchte beispielsweise, das Bett über den Kopfteil zu verlassen. Er wurde sowohl im Bett als auch sitzend im Rollstuhl fixiert. Darüber hinaus wurden ihm bei Bedarf sedierende Medikamente verabreicht. Ohne die Fixierungsmaßnahmen sowie die medikamentöse sedierende Therapie hätte für ihn eine akute, ernstliche und erhebliche Gefahr für die Gesundheit (Verletzungsgefahr durch Sturz) bis zur potentiellen Lebensgefahr bestanden, weil er „blutverdünnt war“ und bei Stürzen eine hohe Blutungsgefahr im Körperinneren bestanden hätte. Alternativen zu diesen angeordneten Maßnahmen bestanden nicht. Die freiheitsbeschränkenden Maßnahmen wurden zwar dokumentiert, eine Meldung an den Verein erfolgte jedoch nicht.
[4] Rechtlich folgerte das Erstgericht, dass aufgrund des ständigen Pflege‑ und Betreuungsbedarfs des Betroffenen auf den vorliegenden Sachverhalt die Bestimmungen des HeimAufG zur Anwendung gelangen würden. Die freiheitsbeschränkenden Maßnahmen seien aufgrund der akuten, ernsten und erheblichen Eigengefährdung durch Sturzgefahr notwendig und geeignet gewesen, um die damit einhergehende erhebliche und ernstliche Gefahr für das Leben und die Gesundheit des Bewohners hintanzuhalten. Da aber der Verein von den freiheitsbeschränkenden Maßnahmen nicht informiert worden sei und während der aufrechten Maßnahmen keine Kenntnis von diesen erlangt habe, seien wegen der Verletzung der Verständigungspflicht gemäß § 7 Abs 2 HeimAufG die freiheitsbeschränkenden Maßnahmen für unzulässig zu erklären.
[5] Über Rekurs der Einrichtungsleiter änderte das Rekursgericht den Beschluss des Erstgerichts dahin ab, dass es den Antrag des Vereins auf Überprüfung der „freiheitsbeschränkenden Maßnahmen“ abwies. Dazu traf es ergänzend die Feststellungen:
[6] Vor dem gegenständlichen Schlaganfall am 6. 6. 2022 wohnte der Bewohner alleine mit Angehörigen im selben Haus und war in der Pflege selbständig. Die Betreuung erfolgte durch die Angehörigen. Es bestand bei ihm eine sich über mehrere Jahre entwickelnde vaskuläre Leukencephalopathie, also eine gefäßbedingte Minderdurchblutung, aus der einmal eine vaskuläre Demenz entstehen kann. Beim Bewohner ist aber noch nicht ein Endzustand einer Demenz vorgelegen. Der Schlaganfall war das Akutereignis und hat nicht nur zur Störung der Motorik und des Gesichtsfeldes geführt, sondern auch zu beträchtlichen kognitiven Störungen, wodurch das Orientierungsvermögen in örtlicher und zeitlicher Hinsicht nicht mehr gegeben und auch zur eigenen Person nur mehr teilweise vorhanden war. Da ein Schlaganfall, wenn er bestimmte Gehirnareale betrifft, unter anderem auch das Bewusstsein betreffen und zu einer Verwirrtheit führen kann, werden viele Patienten in der akuten Phase fixiert, weil sie selbstgefährdend und manchmal auch fremdgefährdend sind. Die Ärzte müssen in der Akutphase abschätzen, ob es sich um einen vorübergehenden oder einen auf unbestimmte Zeit bestehenden Zustand handelt. Eine Meldung an den Verein ist gegenständlich nicht erfolgt, weil man immer davon ausgegangen ist, dass es sich beim Bewohner um einen vorübergehenden Zustand handelt. Die Medikamente dienten nicht nur dazu, eine Selbstgefährdung vom Bewohner abzuhalten, sondern auch dazu, ihn in einen möglichst ruhigen Zustand zu bringen, um die Heilung und Genesung zu fördern. Während des stationären Aufenthalts im Landeskrankenhaus R* kam es zu Fortschritten in der Mobilität, aber trotz intensiver therapeutischer Bemühungen zu keinen Fortschritten der neurokognitiven Defizite. Er wurde am 27. 7. 2022 in gebessertem Allgemeinzustand und stabilem neurologischen Zustandsbild ins Pflegeheim A* entlassen.
[7] Rechtlich erachtete das Rekursgericht, dass der Bewohner im Zeitraum 27. 6. 2022 bis 27. 7. 2022 auf der Neurologischen Abteilung des Landeskrankenhauses R* mit dem Ziel der Wiederherstellung seiner Gesundheit behandelt worden und ein finaler Zustand dauernder psychischer Erkrankung oder geistiger Behinderung zum Zeitpunkt der verfahrensgegenständlichen Freiheitsbeschränkungen nicht vorgelegen sei. Die Ungewissheit, ob sich die neurokognitiven Störungen wieder bessern, könne sich für diese Zeit der Behandlung im Krankenhaus auf die Beurteilung des Vorliegens einer psychischen Erkrankung nicht auswirken. Davon, dass der Bewohner „austherapiert" gewesen sei und nach einer medizinischen Behandlung lediglich auf einen Heimplatz gewartet habe, könne, ausgehend von der Einschätzung der behandelnden Ärzte während des verfahrensgegenständlichen Behandlungszeitraums, dass es sich beim Bewohner nur um einen vorübergehenden Zustand handle, nicht ausgegangen werden. Unter Berücksichtigung der ergänzten Sachverhaltsgrundlage seien die Voraussetzungen des § 2 Abs 1 zweiter Satz HeimAufG für die personenbezogene Anwendbarkeit des HeimAufG bei dem Bewohner für den Zeitraum vom 27. 6. 2022 bis 27. 7. 2022 auf der Neurologischen Abteilung des Landeskrankenhauses R* nicht vorgelegen.
[8] Gegen diesen Beschluss wendet sich der Revisionsrekurs des Vereins mit einem Abänderungsantrag; hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.
[9] Die Einrichtungsleiter begehren in der freigestellten Revisionsrekursbeantwortung (§§ 19a, 11 Abs 3 HeimAufG iVm § 48 Abs 1 AußStrG), den Revisionsrekurs zurück‑ bzw abzuweisen.
Rechtliche Beurteilung
[10] 1. Der Verein sieht eine Mangelhaftigkeit des Rekursverfahrens darin, dass das Rekursgericht seine (zusätzlichen) Feststellungen ohne Ergänzung oder Neudurchführung des Verfahrens traf. Dem kommt im Ergebnis Berechtigung zu.
[11] 2. Gemäß § 52 Abs 2 AußStrG darf das Rekursgericht nur dann von der neuerlichen Aufnahme eines in erster Instanz unmittelbar aufgenommenen, für die Feststellungen maßgeblichen Beweises Abstand nehmen, wenn es vorher den Parteien bekannt gegeben hat, dass es gegen die Würdigung dieses Beweises durch das Erstgericht Bedenken habe, und ihnen Gelegenheit gegeben hat, eine neuerliche Aufnahme dieses Beweises durch das Rekursgericht zu beantragen. Soweit das Erstgericht daher seine Feststellungen aufgrund unmittelbar aufgenommener Beweise getroffen hat, darf das Rekursgericht diese weder abändern noch ergänzen, ohne die in § 52 Abs 2 AußStrG vorgesehene Vorgangsweise einzuhalten (RS0126460; RS0122252; insb 3 Ob 108/07i; 10 Ob 102/08k; 1 Ob 238/08v; 10 Ob 34/12s; 2 Ob 228/16t; 10 Ob 71/16p).
[12] 3. Im vorliegenden Fall hat das Erstgericht insbesondere die Feststellungen, dass der Bewohner aufgrund seiner neurokognitiven Defizite ständiger Betreuung und Pflege bedarf, auf unmittelbar aufgenommene Beweise gestützt, nämlich den Gutachten der Sachverständigen und deren mündlichen Erörterungen im Rahmen der vom Erstgericht mit den Parteien abgehaltenen Verhandlung sowie der Einvernahme der Einrichtungsleiter und einer Pflegekraft.
[13] 4. Wenn das Rekursgericht eine Ergänzung der Feststellungen für erforderlich hielt, hätte es dies nur auf der Grundlage einer – hier unterbliebenen – Beweisergänzung in einer mündlichen Verhandlung tun dürfen (10 Ob 102/08k), zumal der Unmittelbarkeitsgrundsatz gemäß § 52 Abs 2 AußStrG nunmehr im Verfahren außer Streitsachen ausdrücklich auch für das Rekursverfahren angeordnet ist. Die Verletzung des Unmittelbarkeitsgrundsatzes bedeutet eine erhebliche Verletzung einer Vorschrift des Verfahrensrechts, deren Wahrnehmung der Wahrung der Rechtssicherheit dient (vgl RS0042151; RS0043057).
[14] 4.1 Aus den dargelegten Erwägungen war daher in Stattgebung des Revisionsrekurses des Vereins die angefochtene Entscheidung aufzuheben und die Heimaufenthaltssache an das Rekursgericht zur neuerlichen Entscheidung zurückzuverweisen.
[15] 4.2 Der Vollständigkeit halber ist auch festzuhalten: Gegenstand des gerichtlichen Verfahrens nach dem HeimAufG sind die Überprüfung von Freiheitsbeschränkungen, die zur Zeit der Antragstellung noch aufrecht sind, gemäß §§ 11 ff HeimAufG oder die nachträgliche Überprüfung von Freiheitsbeschränkungen, die zur Zeit der Antragstellung nicht mehr aufrecht sind, gemäß § 19a HeimAufG. In beiden Fällen muss der Antrag ausreichend bestimmt sein, also hinreichend deutlich erkennen lassen, welche Entscheidung der Antragsteller anstrebt und aus welchem Sachverhalt er dies ableitet (vgl 7 Ob 161/21h mwN). Dem wird der vorliegende Antrag nicht gerecht, wurden die offenbar inkriminierten Eingriffe bislang weder im Antrag noch in der Antragserzählung – insbesondere durch Angabe welcher Eingriff wann und wie lange gesetzt und wann welches Medikament verabreicht wurde – individualisiert.
[16] 5. Auf die weiteren Rechtsmittelausführungen muss mangels einer gesicherten Sachverhaltsgrundlage nicht mehr eingegangen werden.
Lizenziert vom RIS (ris.bka.gv.at - CC BY 4.0 DEED)