European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2022:0020OB00198.22I.1213.000
Rechtsgebiet: Zivilrecht
Spruch:
Die Revisionsbeantwortung der beklagten Partei wird zurückgewiesen.
Der Revision wird Folge gegeben.
Die Entscheidungen der Vorinstanzen werden dahin abgeändert, dass sie als Teilzwischenurteil zu lauten haben:
„Das Klagebegehren, die beklagte Partei sei zur ungeteilten Hand schuldig, der klagenden Partei 50.000 EUR samt 4 % Zinsen seit 12. 3. 2019 zu bezahlen, besteht dem Grunde nach zu Recht.
Die Entscheidung der Höhe nach, jene über das Feststellungsbegehren und die Kostenentscheidung bleiben dem Endurteil vorbehalten.“
Entscheidungsgründe:
[1] Die Klägerin ist Mieterin in einer städtischen Wohnhausanlage und stürzte am Morgen des 7. 3. 2018 auf einer eisglatten Stelle im Kreuzungsbereich eines Gehwegs innerhalb dieser Anlage. Sie erlitt dabei einen doppelten Knöchelbruch. Die Beklagte war damals mit der Verrichtung des Winterdienstes beauftragt. Am 6. 3. 2018 (Tag vor dem Unfall) schob W*, ein Mitarbeiter der Beklagten (im Folgenden nur: Mitarbeiter), frischen Schnee in eine (von einer Mauer begrenzte) Ecke des Kreuzungsbereichs, die auf einer leicht erhöhten Stelle lag, wobei sich auf der gegenüberliegenden abschüssigen Stelle ein Kanalgitter/Gully befand. Der an der erhöhten Stelle gelagerte Schneefleck/Schneehaufen hatte einen Radius von ca 110 bis 120 cm und eine Höhe von maximal 5 cm. Im Verlauf des 6. 3. 2018 rann wegen der steigenden Temperatur das Schmelzwasser von diesem (vom Mitarbeiter geschaffenen) Schneehaufen zur späteren Unfallstelle, wobei sich in der Nacht Glatteis bildete, auf dem die Klägerin ausrutschte. Die exakte Lage und der Umfang des Eisflecksist nicht mehr feststellbar.
[2] H* ist der wirtschaftliche Eigentümer der Beklagten, der auch für die Kontrolle der vom Mitarbeiter durchgeführten Schneeräumung zuständig ist. Er kontrolliert die Schneeräumung, sobald der Mitarbeiter damit fertig ist. Am Tag nach der jeweiligen Schneeräumung wird zusätzlich eine Glatteiskontrolle durchgeführt. H* war sowohl am Vortag des Unfalls nach der Räumung durch den Mitarbeiter (nachdem dieser den Schnee in das erhöhte Eck schob) als auch am Unfallstag (ca zwei Stunden vor dem Sturz) an der Sturzstelle. Maßnahmen wegen des erkennbaren Schneeflecks bei der Unfallsstelle setzte er nicht.
[3] Die Klägerin macht 50.000 EUR als Schadenersatz (Schmerzengeld und Hilfskosten für die Zeit der Rekonvaleszenz) sowie die Feststellung der Haftung der Beklagten für künftige Ansprüche geltend. Neben einem Verstoß gegen § 93 StVO und einer Verletzung eines Vertrags mit Schutzwirkung zu Gunsten Dritter, warf sie der Beklagten vor, dass ihr Mitarbeiter die Gefahrensituation grob fahrlässig herbeigeführt und die Beklagte durch ihre Repräsentanten nicht ordnungsgemäß kontrolliert habe. An der Sturzstelle weise die Asphaltdecke ein leichtes Gefälle auf. Bei vorangehenden Schneeräumungen sei der Schnee nicht in Richtung des Gefälles geräumt worden, sondern in die Gegenrichtung, sodass ein größerer Schneehaufen neben dem frei geräumten Gehweg zu liegen gekommen sei. Wegen des Gefälles sei mit Sicherheit zu erwarten gewesen, dass das Schmelzwasser dieses Schneehaufens über den geräumten Gehweg Richtung Gully fließen würde. Aufgrund der im März üblicherweise herrschenden Temperaturen sei eine während der Nacht eintretende Glatteisbildung auf dem Gehweg absehbar gewesen. Eine tüchtige und sorgfältige Person hätte den Schnee entsprechend sachgemäß geräumt und die Gefahrensituation nicht herbeigeführt, sondern von vornherein vermieden. Die Klägerin treffe keinerlei Mitverschulden.
[4] Die Beklagte wandte im Wesentlichen ein, dass für sie nur eine Verpflichtung zur Schneesäuberung und Bestreuung bei Schnee und Glatteis bis zu einer Breite von 1,5 Meter des Gehwegs bestanden habe. Bei Gehsteigen und Gehwegen, die breiter als 1,5 Meter seien, müssen nur zwei Drittel der Gesamtbreite, jedoch mindestens 1,5 Meter, gesäubert und gestreut werden. Diese Verpflichtung habe sie auch am von der Klägerin behaupteten Vorfallstag erfüllt.
[5] Das Verfahren befindet sich im zweiten Rechtsgang. Bereits im ersten Rechtsgang verneinten die Vorinstanzen mit Blick auf eine potentielle Haftung der Vermieterin gegenüber der Klägerin, dass die Beklagte der Klägerin aus einem Vertrag mit Schutzwirkung zugunsten Dritter hafte. Der Schadenersatzanspruch könne auch nicht auf § 93 Abs 1 StVO gestützt werden, weil sich der Gehweg nicht im Sinne der Norm „entlang der Liegenschaft“ befunden hätte. Darüber hinaus wurde auch die Anwendung des § 1319a ABGB verneint, weil die Beklagte als selbständiges Unternehmen nicht zu den „Leuten“ des Wegehalters zähle. Auf diese Streitpunkte ist die Klägerin im zweiten Rechtsgang nicht mehr zurückgekommen, weshalb sie auch vom Obersten Gerichtshof nicht zu prüfen waren (RS0131587).
[6] Das Erstgericht wies die Klage (auch) im zweiten Rechtsgang ab. Als Anspruchsgrundlage komme nur eine allgemeine deliktische Schadenersatzhaftung in Frage. Die Beklagte hafte nicht nach § 1315 ABGB für ihren vor Ort tätigen Mitarbeiter. Eine deliktische Haftung der GmbH liege auch mangels zurechenbaren schuldhaften Fehlverhaltens bzw mangels Organisations-, Überwachungs- oder Instruktionsverschuldens ihrer Repräsentanten nicht vor. Darüber hinaus sei davon auszugehen, dass der Eisfleck nicht in dem Bereich gelegen sei, der von der Beklagten eisfrei zu halten gewesen wäre.
[7] Das Berufungsgericht bestätigte die Klagsabweisung. Die Klägerin habe nicht beweisen können, dass sich die Sturzstelle innerhalb der von der Beklagten zu räumenden Fläche des Gehwegs befunden habe. Die Beklagte habe nur zwei Drittel (rund 2,8 m) des Sturzstellenbereichs zu säubern und bestreuen gehabt. Es sei irrelevant, ob der Mitarbeiter der Beklagten den Schnee nicht fachgerecht deponiert und damit den Eisfleck verursacht haben soll, weil nicht feststehe, dass die eisglatte Stelle in einem Bereich gelegen war, der von der Beklagten winterdienstlich zu behandeln war.
[8] Dagegen richtet sich die außerordentliche Revision der Klägerin mit dem Antrag auf Abänderung im Sinn einer Klagsstattgabe; hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt. Sie stützt sich im Wesentlichen auf die der Beklagten (wegen § 1315 ABGB bzw der Unterlassungen des Repräsentanten) zuzurechnende Schaffung einer Gefahrenquelle („Eisfalle“), sodass der konkrete Räumungsbereich und die Lokalisierung der Sturzstelle keine Relevanz hätten.
[9] Der Beklagten wurde die Mitteilung, dass ihr die Revisionsbeantwortung nach § 508a Abs 2 ZPO freigestellt werde, am 28. 10. 2022 zugestellt. Obwohl die Revisionsbeantwortung nach § 507a Abs 3 Z 2 ZPO beim Revisionsgericht einzubringen war, hat die Beklagte sie beim Erstgericht eingebracht, worauf sie erst nach Fristablauf beim Revisionsgericht einlangte (RS0124533 [T1]). Die Revisionsbeantwortung ist daher als verspätet zurückzuweisen.
[10] Die außerordentliche Revision ist zulässig, weil die Rechtsansicht des Berufungsgerichts, dass die Haftung zwingend davon abhänge, ob die Klägerin in jenem Bereich gestürzt ist, der von der Beklagten zu räumen war, nicht aufrecht erhalten werden kann. Das Rechtsmittel ist auch berechtigt.
Rechtliche Beurteilung
[11] 1. Zutreffend argumentiert die Klägerin damit, mit dem Ablagern einer Schneemenge in einem höher liegenden und von einer Mauer umgebenen Bereich sei die (sich letztendlich auch verwirklichte) Gefahr verbunden, dass Schmelzwasser bei einem (im März am Tag nicht unwahrscheinlichen) Temperaturanstieg abrinnen und in weiterer Folge (in der Nacht) gefrieren kann.
[12] 2.1. Der Umstand, dass sich der Sturz außerhalb des zu räumenden Bereichs ereignet haben soll, kann damit nicht zur Verneinung der Haftung führen, zumal die unsachgemäße Ablagerung der Schneemenge durch den Mitarbeiter eine davon unabhängige und zusätzliche Gefahrenquelle schuf (vgl 2 Ob 34/95: „Eisfalle“). Aus den Feststellungen ergibt sich, dass sich die Eisstelle, an der die Klägerin stürzte, aus dem unsachgemäß abgelagerten Schnee gebildet hat.
[13] 2.2. Wer eine Gefahrenquelle schafft oder in seiner Sphäre bestehen lässt, muss die notwendigen und ihm zumutbaren Vorkehrungen treffen, um eine Schädigung anderer nach Tunlichkeit abzuwenden (RS0022778; RS0023251; RS0023719).
[14] 2.3. Zu trennen sind damit die mit einem bestimmten örtlichen Bereich verbundenen Streu- und Räumungspflichten der Beklagten von allgemeinen Verkehrssicherungspflichten im Zusammenhang mit der Ablagerung des Schnees als Gefahrenquelle für Dritte. Es steht fest, dass die Klägerin auf einer Eisfläche gestürzt ist, die durch die unsachgemäße Ablagerung des Schnees durch den Mitarbeiter der Beklagten verursacht wurde.
[15] 3. Die allgemeine Verkehrssicherungspflicht entspringt dem Deliktsrecht (RS0023938).
[16] 3.1. Eine juristische Person (wie die beklagte GmbH) haftet im deliktischen Bereich für das schädigende Verhalten ihrer Dienstnehmer grundsätzlich nur in den engen Grenzen des § 1315 ABGB. Dass aber der Mitarbeiter, dem der Fehler bei der Räumung unterlief, „untüchtig" (§ 1315 ABGB erster Fall) oder „gefährlich" (§ 1315 zweiter Fall) war, ist auf der Grundlage der Feststellungen des Erstgerichts zu verneinen. Aus dem Sachverhalt geht nicht hervor, dass der Mitarbeiter zu der zu verrichtenden Tätigkeit habituell (RS0028885) ungeeignet war; das Nichtbeachten des Gefälles bei der Schneeablagerung lässt darauf nicht schließen. Für die Annahme seiner Gefährlichkeit fehlt jeder Anhaltspunkt.
[17] 3.2. Allerdings haftet eine juristische Person für das Fehlverhalten anderer darüber hinaus auch für ihre Organe und alle anderen Personen in eigenverantwortlicher, leitender oder überwachender Funktion (RS0009113; Harrer/Wagner in Schwimann/Kodek 4 § 1315 ABGB Rz 19).
[18] 3.2.1. H* fällt als Repräsentant unter diesen Personenkreis. Er war eigenverantwortlich und einflussreich für die Kontrolle der schneeräumenden Mitarbeiter der Beklagten zuständig und damit für sie in „gehobener“ Stellung tätig (RS0009171 [T2]; RS0028634).
[19] 3.2.2. Aus dem Sachverhalt ergibt sich, dass die vom Mitarbeiter geschaffene Gefahr der Glatteisbildung durch das Hinschieben des Schnees in einen erhöhten und abgeschlossenen Bereich, was einen deutlichen Schneefleck mit einem Radius von ca 110 bis 120 cm zur Folge hatte, für den Repräsentanten erkennbar war.
[20] Dabei ist auch zu berücksichtigen, dass ihn bei den im Rahmen des Winterdienstes durchzuführenden Arbeiten der erhöhte Sorgfaltsmaßstab des § 1299 ABGB trifft. Von einem kontrollierenden Repräsentanten eines Winterdienstunternehmens ist zu erwarten, dass er über einschlägige Probleme und Gefahren bei der Schneeräumung Bescheid weiß.
[21] Die Beklagte haftet daher für ihren Repräsentanten, der es verabsäumt hat, zumutbare Maßnahmen (zB Verlagerung des Schneeflecks zur niedrigeren Stelle beim Gully) zu veranlassen, um damit die Verwirklichung der erkennbaren Gefahr zu verhindern.
[22] 4. Die Beklagte wandte „beträchtliches Mitverschulden“ der Klägerin mit dem knappen Hinweis auf die Rechtsprechung ein, wonach ein Fußgänger verpflichtet ist, „vor die Füße zu schauen“ (RS0027447; RS0023787 [T3]). Aus den Feststellungen lässt sich aber nicht ableiten, dass die Klägerin der von ihr eingeschlagenen Wegstrecke nicht die erforderliche Aufmerksamkeit zuwandte, zumal die sehr dünne Eisfläche auch nicht erkennbar war.
[23] 5. Damit steht fest, dass die Beklagte der Klägerin dem Grunde nach haftet. Ein Mitverschulden der Klägerin liegt nicht vor.
[24] 6. In Abänderung der Entscheidungen der Vorinstanzen war auszusprechen, dass das Leistungsbegehren dem Grunde nach zu Recht besteht. Das Erstgericht wird im fortgesetzten Verfahren über die Höhe des Leistungsbegehrens und über das Feststellungsbegehren zu entscheiden haben.
[25] 7. Die Kostenentscheidung gründet sich auf § 393 Abs 4 iVm § 52 Abs 4 ZPO.
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