OGH 10ObS85/22f

OGH10ObS85/22f22.11.2022

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Vizepräsidenten Univ.‑Prof. Dr. Neumayr als Vorsitzenden, die Hofräte Mag. Ziegelbauer und Mag. Schober sowie die fachkundigen Laienrichter Mag. Andreas Deimbacher (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Robert Hauser (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei N*, vertreten durch Mag. German Storch und Mag. Rainer Storch, Rechtsanwälte in Linz, gegen die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt, 1021 Wien, Friedrich-Hillegeist‑Straße 1, wegen Waisenpension, über die außerordentliche Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Linz als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 19. Mai 2022, GZ 12 Rs 35/22 m‑24, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2022:010OBS00085.22F.1122.000

 

Spruch:

Die außerordentliche Revision wird gemäß § 508a Abs 2 ZPO mangels der Voraussetzungen des § 502 Abs 1 ZPO zurückgewiesen.

 

Begründung:

[1] Die 1993 geborene Klägerin bezog nach ihrer am 9. Jänner 2019 verstorbenen Mutter ab 10. Jänner 2019 eine Waisenpension infolge Erwerbsunfähigkeit.

[2] Im Zeitpunkt der Gewährung litt die Klägerinan einer rezidivierenden depressiven Störung in Ausprägung einer schweren depressiven Episode sowie einer emotional instabilen Persönlichkeitsstörung vom Borderline-Typ. Selbst bei Einhaltung ihres Leistungskalküls waren leidensbedingte Krankenstände in einem Ausmaß zu erwarten, dass sie auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt nicht einsetzbar war.

[3] Mit Bescheid vom 29. April 2021 entzog die beklagte Pensionsversicherungsanstalt der Klägerin die Waisenpension mit Ablauf des Monats Mai 2021.

[4] Zum Entziehungszeitpunkt (1. Juni 2021) lag die rezidivierende depressive Störung nur mehr in leichter bis mittelgradiger Ausprägung vor. Die Persönlichkeitsstörung vom Borderline-Typ bestand weiter; zudem litt die Klägerin an Panikattacken. Krankenstände waren nur mehr im Ausmaß von drei bis vier Wochen zu erwarten, weshalb die Klägerin in der Lage war, im Ausmaß von fünf Stunden täglich auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt etwa als Portierin, Parkgaragenkassiererin oder Museumsaufseherin tätig zu sein oder Kontroll-, Sortier-, Adjustier- und Finish-Arbeiten zu verrichten.

[5] Dies stellte im Vergleich zum Leistungskalkül, das im Zeitpunkt der Gewährung der Waisenpension vorlag, eine wesentliche Verbesserung dar, weil die Einsetzbarkeit am allgemeinen Arbeitsmarkt zwar noch eingeschränkt war, aber nicht mehr fehlte.

[6] Nach dem unerwarteten Tod ihres Vaters am 24. August 2021 verschlechterte sich der psychische Zustand der Klägerin wieder, woraus sich eine zwar vorübergehende, aber länger dauernde (Erwerbs- bzw) Arbeitsunfähigkeit ergab.

[7] Das Erstgericht wies das auf Weitergewährung der Waisenpension über den Mai 2021 hinaus gerichtete Klagebegehren ab. Die Voraussetzungen für die Gewährung der Waisenpension seien mittlerweile weggefallen, weil sich der Gesundheitszustand der Klägerin wesentlich gebessert habe. Zwar könne die Kindeseigenschaft nach § 252 Abs 3 ASVG wieder aufleben. Nach dem klaren Gesetzeswortlaut setze das aber voraus, dass die schon ursprünglich bestehende Erwerbsunfähigkeit „weiterhin“, dh ununterbrochen, vorliege. Das sei hier nicht der Fall, weil die Erwerbsunfähigkeit bei der Klägerin zunächst weggefallen und dann wieder bzw neu eingetreten sei.

[8] DasBerufungsgericht bestätigte diese Entscheidung. Es spiele keine Rolle, dass die Klägerin immer an depressiven Störungen gelitten habe, weil für die Beurteilung der Arbeitsfähigkeit auf die jeweilige Ausprägung der Erkrankung abzustellen sei. Eine rezidivierende, also in regelmäßigen Abständen wiederkehrende Krankheit führe nicht unbedingt auch zu der nach § 252 Abs 2 Z 3 bzw Abs 3 ASVG notwendigen durchgehenden Erwerbsunfähigkeit. Die Revision ließ das Berufungsgericht nicht zu.

Rechtliche Beurteilung

[9] Die außerordentliche Revision der Klägerin ist wegen Fehlens einer Rechtsfrage von erheblicher Bedeutung unzulässig.

[10] 1. Nach § 252 Abs 2 Z 3 ASVG besteht die Kindeseigenschaft über das 18. Lebensjahr hinaus fort, wenn das Kind infolge Krankheit oder Gebrechen erwerbsunfähig ist. Erwerbsunfähig ist, wer wegen Krankheit oder Gebrechens nicht imstande ist, auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt einen nennenswerten Verdienst zu erzielen (RIS-Justiz RS0085556 [T10]; RS0085536 [T2]). Bei der Beurteilung der Erwerbsunfähigkeit kommt es somit darauf an, ob das Kind auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt einem Erwerb nachgehen kann (10 ObS 131/20t ua), wofür ausschließlich medizinische Gesichtspunkte ausschlaggebend sind (RS0085570).

2. Voraussetzung für die Entziehung des Anspruchs auf eine Leistung ist der Wegfall der Leistungsvoraussetzungen (§ 99 Abs 1 ASVG). Im Fall der Entziehung der über das 18. Lebensjahr hinaus gewährten Waisenpension ist demgemäß zu prüfen, ob das Kind zum Zeitpunkt ihrer Gewährung erwerbsunfähig war und sich nach diesem Zeitpunkt die Verhältnisse insofern wesentlich verbessert haben, als später Erwerbsfähigkeit eingetreten ist (RS0083884 [T13]).

2.1. Im Anlassfall hat das Erstgericht die (jeweils unbekämpften) Verhältnisse im Zeitpunkt der Gewährung der Waisenpension und der Entziehung der Leistung in Beziehung gesetzt und ist zur Feststellung einer wesentlichen Besserung des Gesundheitszustands (leichte bis mittelgradige anstatt einer schweren depressiven Episode) gelangt. Aufgrund der daraus resultierenden Besserung des Leistungskalküls war zwischen 1. Juni 2021 und 24. August 2021 die Ausübung einer Erwerbstätigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt möglich. Damit war die auf § 252 Abs 2 Z 3 ASVG gestützte Kindeseigenschaft nicht mehr gegeben und konnte auch nicht wieder aufleben (RS0113891; 10 ObS 35/18x SSV-NF 32/47).

[11] 2.2. Wenn die Klägerin dessen ungeachtet davon ausgeht, dass sich ihr Gesundheitszustand in Wahrheit nicht verbessert habe, weicht sie vom festgestellten Sachverhalt ab. Mit der Ansicht des Berufungsgerichts, primär sei nicht der (rezidivierende) Verlauf einer Erkrankung, sondern die Erwerbsfähigkeit entscheidend, beschäftigt sich die Klägerin nicht. Maßgeblich ist nicht die vom Sachverständigen erhobene Diagnose, sondern das darauf aufbauende Leistungskalkül (vgl RS0084399; RS0084398).

[12] 3. Soweit sich die Klägerin auf § 252 Abs 3 ASVG und die dazu angestellten Überlegungen von Panhölzl (Der untaugliche Versuch, die Entziehung der Waisenpension neu zu regeln, DRdA 2017, 199 [203]) beruft, übergeht sie den (bloß klarstellenden) Regelungszweck dieser Bestimmung. Diese befasst sich sowohl nach ihrem (eindeutigen) Wortlaut als auch der erklärten Absicht des Gesetzgebers mit den Auswirkungen eines Arbeitsversuchs am offenen Arbeitsmarkt und soll einen Anreiz dazu geben, dass sich Versicherte in den allgemeinen Arbeitsmarkt integrieren, ohne im Fall des Scheiterns einen Verlust der Waisenpension befürchten zu müssen (ausführlich dazu 10 ObS 59/16y SSV-NF 30/44 [zur ebenfalls mit der Novelle BGBl I 2014/56 eingeführten Parallelbestimmung des § 119 Abs 3 BSVG]). Der intendierte Fall, dass die Kindeseigenschaft wegen Aufnahme einer pflichtversicherten Erwerbstätigkeit am offenen Arbeitsmarkt (vermeintlich) weggefallen ist, liegt hier aber nicht vor.

[13] Selbst wenn man dem Berufungsgericht folgen und davon ausgehen würde, § 252 Abs 3 ASVG sei (analog) auch auf die vorliegende Konstellation anwendbar, stünde dem sogar nach der von der Klägerin ins Treffen geführten Ansicht von Panhölzl (DRdA 2017, 199 [203]) der Wortlaut der Bestimmung entgegen, wonach die Erwerbsunfähigkeit nicht bloß „wieder“, sondern „weiterhin“ vorliegen muss. Es ist nicht ersichtlich, warum § 252 Abs 3 ASVG entgegen der Beurteilung der Vorinstanzen in dem von der Klägerin gewünschten Sinn auszulegen sein soll.

[14] Eine Rechtsfrage von erheblicher Bedeutung iSd § 502 Abs 1 ZPO zeigt die Klägerin mit ihren Ausführungen daher nicht auf.

[15] 4. Die außerordentliche Revision ist daher zurückzuweisen.

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