European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2022:0020OB00160.22A.1025.000
Rechtsgebiet: Zivilrecht
Spruch:
Die außerordentlichen Revisionen werden gemäß § 508a Abs 2 ZPO mangels der Voraussetzungen des § 502 Abs 1 ZPO zurückgewiesen.
Der Antrag der beklagten Parteien auf Zuspruch der Kosten der Revisionsbeantwortung wird gemäß § 508a Abs 2 Satz 2 ZPO abgewiesen.
Begründung:
[1] Der im Unfallszeitpunkt 14‑jährige Kläger wurde bei einem Verkehrsunfall auf der B 311 am 23. 11. 2018 schwer verletzt, als er – mit einer Warnweste bekleidet – bei Dunkelheit auf der gänzlich unbeleuchteten Bundesstraße im Freilandgebiet auf der Suche nach seiner kurz zuvor verlorenen Mütze war. Dabei querte er den etwa 9 Meter breiten, in Richtung Norden führenden Fahrstreifen, um die im Bereich einer Sperrlinie zu den in die Gegenrichtung führenden Fahrstreifen liegende Mütze zu holen. Auf dem Rückweg zum östlichen Fahrbahnrand wurde der Kläger vom von der Erstbeklagten gelenkten und bei der Zweitbeklagten haftpflichtversicherten PKW erfasst. Der Kläger hatte vor Antritt des Rückwegs – ein bis zwei Sekunden vor der Kollision – nicht in die Annäherungsrichtung des PKW geblickt. Die Erstbeklagte war von einem am Fahrbahnrand mit Warnblinkanlage abgestellten anderen Fahrzeug so abgelenkt, dass sie den an sich aus rund 100 Metern für sie im Abblendlicht erkennbaren Kläger erst so spät als Gefahr wahrnahm, dass sie keine wirksame Bremsung mehr einleiten konnte. Sie hat ausgehend vom Zeitpunkt der erstmaligen Erkennbarkeit des Klägers eine Reaktionsverspätung von (zumindest) fünf Sekunden zu verantworten.
[2] Die Vorinstanzen gingen von gleichteiligem Mitverschulden der Unfallbeteiligten aus.
Rechtliche Beurteilung
[3] In ihren außerordentlichen Revisionen zeigen die Streitteile das Vorliegen erheblicher Rechtsfragen nicht auf.
1. Verschulden der Erstbeklagten
[4] 1.1. Die Vorinstanzen haben der Erstbeklagten einen massiven Aufmerksamkeitsfehler angelastet, was die Beklagten im Revisionsverfahren nicht mehr in Abrede stellen.
[5] 1.2. Den vom Kläger im Revisionsverfahren weiterhin behaupteten Verstoß der Erstbeklagten gegen das Gebot des Fahrens auf Sicht (§ 20 Abs 1 StVO) haben die Vorinstanzen hingegen auf Grundlage der (dislozierten) Feststellung, wonach es der Erstbeklagten möglich gewesen wäre, vor einem im Lichtkegel des Abblendlichts erkennbaren Hindernis anzuhalten, vertretbar verneint:
[6] Bei Dunkelheit hat ein mit Abblendlicht fahrender Kraftfahrer – soweit nicht besondere Umstände die Sicht über die vom Abblendlicht erleuchtete Strecke hinaus ermöglichen – grundsätzlich mit einer Geschwindigkeit zu fahren, die ihm das Anhalten seines Fahrzeugs innerhalb der Reichweite des Abblendlichts gestattet (RS0074769). Welche Geschwindigkeit konkret zulässig ist, kann nur aufgrund der konkreten Umstände des Einzelfalls beurteilt werden (2 Ob 54/20k Rz 20). Die aus älteren Entscheidungen allenfalls ableitbare und in der Revision des Klägers zitierte Ansicht, eine Geschwindigkeit von 60 km/h wäre für das Fahren in Dunkelheit bei Verwendung von Abblendlicht jedenfalls überhöht (vgl RS0074676), kann vor diesem Hintergrund in dieser Allgemeinheit nicht aufrecht erhalten werden.
2. Mitverschulden des Klägers
[7] 2.1. Das Verhalten eines Fußgängers, der entgegen § 76 Abs 6 StVO die Fahrbahn außerhalb eines Schutzwegs oder einer Kreuzung überqueren will, ist in § 76 Abs 4 lit b und Abs 5 StVO geregelt. Danach hat er, bevor er auf die Fahrbahn tritt, sorgfältig zu prüfen, ob er die Straße noch vor Eintreffen von Fahrzeugen mit Sicherheit überqueren kann (RS0075656). Er hat sie sodann in angemessener Eile zu überqueren (RS0075672) und darauf zu achten, dass der Fahrzeugverkehr nicht behindert wird (2 Ob 140/16a mwN).
[8] 2.2. Nach ständiger Rechtsprechung muss sich jeder Fußgänger weiters beim Überqueren einer „breiten Fahrbahn“ bei Erreichen ihrer Mitte vergewissern, ob sich nicht von seiner rechten Seite her ein Fahrzeug nähert; er muss stehen bleiben, wenn ein Fahrzeug schon so nahe ist, dass er die Fahrbahn nicht mehr vor diesem gefahrlos überschreiten kann (2 Ob 193/19z mwN; RS0075648, RS0075656).
[9] 2.3. Auf Grundlage dieser Judikatur haben die Vorinstanzen dem Kläger jedenfalls vertretbar einen Verstoß gegen § 76 Abs 4 lit b und Abs 5 StVO angelastet. Zu berücksichtigen ist nämlich, dass der Kläger im Bereich der Sperrlinie eine Drehung um 180 Grad vollzogen und damit die Überquerung der Fahrbahn nicht fortgesetzt, sondern insoweit eine neuerliche (Rück-)Überquerung begonnen hat. Damit wäre der Kläger verpflichtet gewesen, vor Antreten des Rückwegs in Richtung Süden zu blicken. Auf die im Zentrum der Revision des Klägers stehende Frage, ob die Erstbeklagte ausgehend von jenem Zeitpunkt, in dem sie den Kläger (auf der ersten Hälfte seines „Hinwegs“) erstmals erkennen konnte, durch bloßes Gaswegnehmen eine Kollision vermeiden hätte können, kommt es hingegen nicht entscheidend an. Jedenfalls bei Antritt des Rückwegs konnte der Kläger den von der Erstbeklagten befahrenen Fahrstreifen nach den Feststellungen nämlich nicht mehr gefahrlos überqueren.
[10] 3. Maßgeblich ist bei der Verschuldensabwägung vor allem die Größe und Wahrscheinlichkeit der durch das schuldhafte Verhalten bewirkten Gefahr und die Wichtigkeit der verletzten Vorschrift für die Sicherheit des Verkehrs (RS0027389) sowie der Grad der Fahrlässigkeit (RS0027466). Ob die Verschuldensteilung angemessen ist, ist eine bloße Ermessensentscheidung, bei der im Allgemeinen eine erhebliche Rechtsfrage nicht zu lösen ist (RS0087606 [T2]). Eine Überschreitung des Ermessensspielraums der Vorinstanzen bei Vornahme der Verschuldensteilung zeigen die Streitteile in ihren außerordentlichen Revisionen nicht auf:
[11] 3.1. Mit der Rechtsansicht des Berufungsgerichts, die Annahme gleichteiligen Verschuldens könne sich (unter anderem) auf die vergleichbaren Entscheidungen 2 Ob 21/20g und 2 Ob 11/21p stützen, setzt sich keine der Revisionen argumentativ auseinander.
[12] 3.2. Der Kläger rügt ein Abweichen des Berufungsgerichts von der Entscheidung 2 Ob 207/07s. Der dort als vertretbar gebilligten Verschuldensteilung von 1 : 3 zu Gunsten des Fußgängers lag jedoch insofern ein anders gelagerter Sachverhalt zugrunde, als dem PKW‑Lenker nicht bloß eine erhebliche Reaktionsverspätung, sondern auch eine massive Alkoholisierung anzulasten war. In der in der Revision weiters erwähnten Entscheidung 2 Ob 98/89 wiederum hatte der PKW-Lenker zusätzlich zu einem Beobachtungsfehler noch die Einhaltung einer absolut überhöhten Geschwindigkeit zu verantworten. Beide Entscheidungen betreffen damit nicht unmittelbar vergleichbare Sachverhaltskonstellationen.
[13] 3.3. Die Beklagten argumentieren im Kern, dass das Landesgericht Salzburg in einem Parallelverfahren eine Verschuldensteilung von 2 : 1 zu Lasten des Fußgängers vorgenommen habe. Damit zeigen sie keine Rechtsfrage erheblicher Bedeutung auf, entfaltet doch die im Parallelverfahren zugrunde gelegte Verschuldensteilung keine Bindungswirkung, weil es sich dabei bloß um eine Vorfrage für das Leistungsbegehren handelt (2 Ob 139/21m Rz 3).
[14] 3.4. Insgesamt hält sich die Annahme gleichteiligen Mitverschuldens durch die Vorinstanzen damit im Rahmen der Rechtsprechung (vgl 2 Ob 119/89 [Annahme gleichteiligen Verschuldens bei annähernd ähnlicher Sachverhaltskonstellation]).
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