OGH 10ObS107/22s

OGH10ObS107/22s13.9.2022

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Vizepräsidenten Univ.‑Prof. Dr. Neumayr als Vorsitzenden, die Hofräte Mag. Ziegelbauer und Dr. Annerl sowie die fachkundigen Laienrichter Mag. Christina Hartl‑Wach (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Gerhard Vodera (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei M*, geboren * 1972, *, vertreten durch Dr. Josef Dengg, Dr. Milan Vavrousek und Mag. Thomas Hölber, Rechtsanwälte in St. Johann im Pongau, gegen die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt, 1021 Wien, Friedrich-Hillegeist-Straße 1, wegen Invaliditätspension, über die außerordentliche Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Linz als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 29. Juli 2022, GZ 11 Rs 36/22 a‑39, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2022:010OBS00107.22S.0913.000

 

Spruch:

Die außerordentliche Revision wird gemäß § 508a Abs 2 ZPO mangels der Voraussetzungen des § 502 Abs 1 ZPO zurückgewiesen.

 

Begründung:

[1] In den letzten 15 Jahren vor dem Stichtag (1. Juni 2021) erwarb die 1972 geborene Klägerin 140 Beitragsmonate der Pflichtversicherung aufgrund einer Erwerbstätigkeit, in denen sie als Hilfskraft in einer Tischlerei (82 Monate), als Wurstverkäuferin (7 Monate), als Verpackerin (39 Monate) und als Sortiererin (12 Monate) beschäftigt war.

[2] Neben anderen Einschränkungen kann die Klägerin (nur noch) einen vierstündigen Arbeitstag bewältigen und mit dem verbliebenen Leistungskalkül als Bürohilfskraft tätig sein. Der für die Klägerin zumutbarerweise erreichbare regionale Arbeitsmarkt weist nicht die erforderliche Anzahl der ihrem Leistungskalkül entsprechenden Arbeitsplätze auf. Im Großraum der Stadt Salzburg sind mindestens 30 bis 40 Teilzeitstellen als Bürohilfskraft vorhanden, wobei die Klägerin auf einen PKW angewiesen wäre, um diese im Tagespendeln zu erreichen. Österreichweit existieren mehr als 100 Arbeitsplätze (offen oder besetzt) für Bürohilfskräfte in Teilzeit. Bei entsprechend selektiver Suche ist die Klägerin in der Lage, im Großraum der Stadt Salzburg auch in vierstündiger Teilzeit eine Anstellung zu finden und ein monatliches Bruttoeinkommen über 1.250 EUR (14 mal jährlich) zu erzielen.

[3] Mit Bescheid vom 29. Juni 2021 lehnte die beklagte Pensionsversicherungsanstalt den Antrag der Klägerin vom 20. Mai 2021 auf Zuerkennung der Invaliditätspension ab und sprach sie aus, dass vorübergehende Invalidität im Ausmaß von mindestens sechs Monaten ebenfalls nicht vorliege und weder ein Anspruch auf Rehabilitationsgeld aus der Krankenversicherung noch Anspruch auf medizinische oder berufliche Rehabilitation bestehe.

[4] Die Vorinstanzen wiesen das dagegen gerichtete Klagebegehren ab. Die auf den allgemeinen Arbeitsmarkt verweisbare Klägerin sei auf eine Tätigkeit als Bürohilfskraft zu verweisen, für die im Großraum der Stadt Salzburg ein ausreichender Teilzeit-Arbeitsmarkt existiere. Eine Wohnsitzverlegung und ein Wochenpendeln seien ihr zumutbar, weil sie bei entsprechend selektiver Suche auch eine Halbzeitbeschäftigung mit einem monatlichen Bruttoeinkommen (ohne Berücksichtigung von Sonderzahlungen) über dem maßgeblichen Ausgleichszulagenrichtsatz lukrieren könne. Auf das Erfordernis der Benutzung des Privat-PKW im Tagespendeln komme es damit nicht an.

Rechtliche Beurteilung

[5] In der außerordentlichen Revision macht die Klägerin keine Rechtsfrage von erheblicher Bedeutung iSd § 502 Abs 1 ZPO geltend.

[6] 1. Nach ständiger Rechtsprechung bildet die Lage des Wohnorts im Einzelfall ein persönliches Moment, das bei der Prüfung der Invalidität außer Betracht zu bleiben hat, weil es andernfalls einem Versicherten möglich wäre, durch die Wahl seines Wohnorts die Voraussetzungen für die Gewährung einer Pensionsleistung zu beeinflussen. Von einem Versicherten ist daher grundsätzlich zu verlangen, dass er – sofern nicht medizinische Gründe dem entgegenstehen – durch entsprechende Wahl seines Wohnorts, allenfalls Wochenpendeln, die Bedingungen für die Erreichung des Arbeitsplatzes herstellt, die für Arbeitnehmer im Allgemeinen gegeben sind (RIS‑Justiz RS0084939; RS0085017; RS0084871). Diese Grundsätze gelten in der Regel auch für die Verweisung auf Teilzeitarbeitsplätze (RS0084939 [T15]; RS0085017 [T8]; RS0084871 [T5]).

[7] 2. Für die „gesetzliche Lohnhälfte“ iSd § 255 Abs 3 ASVG kommt es nur auf die gesetzliche Mindesteinkommensgrenze an, die je nach Verweisungsberuf schwanken kann, ohne dass Bedürftigkeitskriterien eine Rolle spielen. Dies schließt aber nicht aus, dass mit Rücksicht auf den durch die mögliche Teilzeitbeschäftigung erzielbaren geringeren Lohn eine Wohnsitzverlegung oder ein Wochenpendeln nicht zumutbar sein kann (RS0085027). Die – von der rein abstrakten Prüfung abweichende – Zumutbarkeitsprüfung im Einzelfall stellt ein Korrektiv dar, das eine Berücksichtigung eines vom gesundheitlichen Befinden unabhängigen Umstands erlaubt und einen unzumutbaren Einkommensverlust verhindern soll (10 ObS 128/20a; 10 ObS 168/13y SSV‑NF 27/81; 10 ObS 72/10a SSV‑NF 24/41).

[8] 3. Ob einem ursprünglich vollzeitig Beschäftigten, der nur mehr Teilzeitarbeit verrichten kann, zur Erreichung eines entsprechenden Arbeitsplatzes eine Wohnsitzverlegung oder ein Wochenpendeln zumutbar ist, ist nach den Besonderheiten des Einzelfalls zu beurteilen (RS0085027), sodass sich Rechtsfragen von erheblicher Bedeutung iSd § 502 Abs 1 ZPO regelmäßig nicht stellen. Maßgeblich für diese Beurteilung ist die Höhe desjenigen Erwerbseinkommens, das der Versicherte mit seinem eingeschränkten Leistungskalkül durch eine Halbtagsbeschäftigung in den Verweisungsberufen – einschließlich Sonderzahlungen und anderen regelmäßigen Gehaltsbestandteilen – konkret erreichen kann (10 ObS 34/15w SSV‑NF 29/24; 10 ObS 168/13y SSV‑NF 27/81; 10 ObS 29/08z SSV‑NF 22/38). Liegt etwa das zu erwartende Einkommen weit unter dem Ausgleichszulagenrichtsatz nach § 293 Abs 1 lit a sublit bb ASVG, wurde eine Verlegung des Wohnsitzes und ein Wochenpendeln als nicht zumutbar erachtet (10 ObS 34/15w SSV‑NF 29/24).

[9] 4. Diese Grundsätze höchstgerichtlicher Rechtsprechung wurden von den Vorinstanzen beachtet.

[10] 4.1. Die im Rechtsmittel formulierte Rechtsfrage, ob das Brutto- oder das Nettoeinkommen weit unter dem Ausgleichszulagenrichtsatz zu liegen habe und inwiefern dabei Sonderzahlungen zu berücksichtigen seien, ist dahingehend geklärt, dass das konkret erreichbare Einkommen einschließlich Sonderzahlungen zu berücksichtigen ist. In den Entscheidungen 10 ObS 34/15w (SSV‑NF 29/24) und 10 ObS 72/10a (SSV‑NF 24/41) zog der Oberste Gerichtshof dementsprechend das Nettoeinkommen inklusive Sonderzahlungen als maßgebliche Größe heran. Die Entscheidung 10 ObS 168/13y (SSV‑NF 27/81) weicht davon nicht ab, weil darin lediglich die (auf das Bruttoeinkommen abstellende) Beurteilung des Berufungsgerichts wiedergegeben wurde, mit der sich der Oberste Gerichtshof jedoch mangels ausreichendem Revisionsvorbringen nicht inhaltlich auseinandersetzen musste.

[11] 4.2. Die Klägerin legt ihren Ausführungen zugrunde, dass ihr Bruttoeinkommen ohne Sonderzahlungen von „800 EUR“ entsprechend einem Nettoeinkommen inklusive Sonderzahlungen von „792,21 EUR“ weit unter dem Ausgleichszulagenrichtsatz liege. Dabei geht sie jedoch nicht vom festgestellten Sachverhalt aus, wonach sie ein monatliches Bruttoeinkommen von 1.250 EUR, 14 mal jährlich erzielen kann. Mit der auf diesen Feststellungen gründenden Argumentation der Vorinstanzen, dass das Einkommen der Klägerin somit über dem Ausgleichszulagenrichtsatz liege und ihr eine Wohnsitzverlegung oder ein Wochenpendeln zumutbar sei, setzt sich die Revisionswerberin nicht auseinander, insbesondere behauptet sie nicht, dass sich aus dem festgestellten Bruttoeinkommen ein unter dem Ausgleichszulagenrichtsatz liegendes Nettoeinkommen ergäbe.

[12] 4.3. Soweit die Klägerin auf die Angleichung der Sozialhilferichtsätze an den Ausgleichszulagenrichtsatz, die Inflation und die gestiegenen Lebenshaltungskosten hinweist und eine Anpassung der Rechtsprechung dahingehend fordert, dass eine Wohnsitzverlegung oder ein Wochenpendeln wirtschaftlich (schon dann) nicht mehr zumutbar sei, sobald das zu erwartende Einkommen unter dem Ausgleichszulagenrichtsatz oder zumindest einem konkreten Prozentsatz desselben liege, legt sie ebenfalls nicht dar, inwiefern dies im vorliegenden Fall – ausgehend vom festgestellten Sachverhalt – zu einer anderen Beurteilung führen könnte.

[13] 5. Da die Revision demgemäß keine Überschreitung des den Vorinstanzen zukommenden Ermessens bei der Beurteilung der Zumutbarkeit der Wohnsitzverletzung oder des Wochenpendelns im Einzelfall darstellt, kommt es auf die weiters relevierte Frage der Zumutbarkeit des Tagespendelns unter der Benutzung eines Privat-PKW und den in diesem Zusammenhang behaupteten sekundären Feststellungsmängeln nicht entscheidend an.

[14] 6. Mangels Geltendmachung einer Rechtsfrage von erheblicher Bedeutung iSd § 502 Abs 1 ZPO ist die außerordentliche Revision somit zurückzuweisen.

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