European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2022:0110OS00049.22Y.0728.000
Spruch:
In teilweiser Stattgebung der Nichtigkeitsbeschwerde wird das angefochtene Urteil, das im Übrigen unberührt bleibt, in den Schuldspruchpunkten I./3./, demgemäß im Strafausspruch, ebenso wie der Beschluss auf Widerruf einer bedingten Strafnachsicht aufgehoben und die Sache in diesem Umfang zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Landesgericht Innsbruck verwiesen.
Die Nichtigkeitsbeschwerde im Übrigen wird zurückgewiesen.
Mit den Berufungen werden die Staatsanwaltschaft und der Angeklagte, dieser auch mit der Beschwerde auf die kassatorische Entscheidung verwiesen.
Zur Entscheidung über die Berufung wegen der privatrechtlichen Ansprüche wird das Landesgericht Innsbruck entsprechende Aktenteile dem Oberlandesgericht Innsbruck vorzulegen haben.
Dem Angeklagten fallen die Kosten des bisherigen Rechtsmittelverfahrens zur Last.
Gründe:
[1] Mit dem angefochtenen Urteil wurde * B*des Verbrechens des schweren sexuellen Missbrauchs von Unmündigen nach § 206 Abs 1 StGB (I./1./), des Verbrechens des sexuellen Missbrauchs von Unmündigen nach § 207 Abs 1 StGB (I./2./), der Vergehen des Missbrauchs eines Autoritätsverhältnisses nach § 212 Abs 1 Z 2 StGB (I./3./), des Verbrechens der geschlechtlichen Nötigung nach § 202 Abs 1 StGB (II./1./), des Vergehens der Körperverletzung nach § 83 Abs 1 StGB (II./2./), des Vergehens der Nötigung nach § 105 Abs 1 StGB (II./3./) und des Vergehens der Sachbeschädigung nach § 125 StGB (III./) schuldig erkannt.
[2] Danach hat er in I*
I./1./ zwischen 2014 und 2016 an der am * 2008 geborenen, daher zum Tatzeitpunkt unmündigen L* eine dem Beischlaf gleichzusetzende geschlechtliche Handlung unternommen, indem er mit seiner Hand unter ihre Unterhose fuhr, ihre Vagina intensiv betastete und zumindest geringfügig mit einem Finger in diese eindrang;
I./2./ zwischen 2016 und 2018 mit der am * 2011 geborenen, daher zum Tatzeitpunkt unmündigen E* außer dem Fall des § 206 StGB eine geschlechtliche Handlung vorgenommen, indem er ihre Hose nach unten zog und ihren Vaginalbereich oberhalb der Unterhose intensiv betastete;
I./3./ durch die zu Punkt I./1./ und 2./ angeführten Taten an minderjährigen Personen, die seiner Aufsicht unterstanden, unter Ausnützung seiner Stellung gegenüber diesen Personen eine geschlechtliche Handlung vorgenommen;
II./1./ am 24. Juni 2021 außer den Fällen des § 201 StGB * N* mit Gewalt zur Duldung einer geschlechtlichen Handlung genötigt, indem er ihr eine „Kopfnuss“ sowie mehrere Faustschläge gegen Gesicht und Körper versetzte und ihr gleichzeitig die Kleider vom Leib riss, bis sie vollständig nackt vor ihm saß und ihr sodann mehrere Schläge gegen ihren entblößten Vaginalbereich versetzte;
II./2./ am 20. Juni 2021 * N* vorsätzlich am Körper verletzt, indem er ihr einen wuchtigen Stoß sowie zumindest drei Faustschläge gegen den Körper versetzte, wodurch sie Hämatome erlitt;
II./3./ Anfang Juni 2021 * N* mit Gewalt zu einer Handlung, nämlich dem Verlassen des gemeinsam bewohnten Zimmers in der Notschlafstelle zu nötigen versucht, indem er sie an den Armen erfasste und im Begriff war, sie aus dem Zimmer zu ziehen, was durch das Einschreiten eines Security‑Mitarbeiters verhindert wurde;
III./ …
[3] Ausdrücklich nur gegen I./ und II./ richtet sich die auf § 281 Abs 1 Z 4, 5 und 9 lit a StPO gestützte Nichtigkeitsbeschwerde des Angeklagten.
Rechtliche Beurteilung
[4] Durch die Abweisung des in der Hauptverhandlung gestellten Antrags auf Einholung eines Sachverständigengutachtens aus dem Fachbereich der Aussagepsychologie über die Glaubhaftigkeit der Aussagen der Opfer der Faktengruppe I., weil „sich die Anklage der Staatsanwaltschaft … auf die Angaben der beiden Zeuginnen stützt, hinsichtlich E* zumindest die Verdachtsdiagnose einer ADHS vorliegt und sich aus dem Akt Hinweise ergeben würden, die auf ein Tatgeschehen außerhalb der Person des Angeklagten schließen lassen würden, sowie zum Beweis dafür, dass die Angaben der E* sowie der L* nicht der Wahrheit entsprechen“ (ON 39 S 27), wurden Verteidigungsrechte des Angeklagten nicht geschmälert.
[5] Die Beurteilung der Glaubwürdigkeit von Zeugen kommt ausschließlich dem Gericht zu (§ 258 Abs 2 StPO). Die vom Beschwerdeführer beantragte Einholung eines aussagepsychologischen Gutachtens ist nur in besonders gelagerten Fällen erforderlich, etwa bei festgestellter abwegiger Veranlagung in psychischer oder charakterlicher Sicht, bei in der Hauptverhandlung zutage getretenen Entwicklungsstörungen oder sonstigen Defekten, die ein für die Beurteilung der Glaubhaftigkeit erforderliches Fachwissen verlangen, das bei den Mitgliedern des erkennenden Senats nicht ohne weiteres vorausgesetzt werden kann (RIS‑Justiz RS0097733, RS0097364 [T6], RS0120634). Mit im Antrag nicht näher erklärten „Hinweisen“ auf einen möglichen anderen Täter und auf eine (im Übrigen die Glaubhaftigkeit nicht unmittelbar berührenden) „Verdachtsdiagnose“ bei einer der Zeuginnen legte der Antrag eine solche Ausnahmekonstellation für eine sachverständige Hilfestellung bei der Glaubwürdigkeitsprüfung nicht dar, weswegen es eines Eingehens auf die – letztlich die Gesetzeslage kritisierende – Argumentation einer erforderlichen Abwägung zwischen Verteidigungsinteressen und Kindeswohl nicht bedarf (vgl RIS‑Justiz RS0128501 [T2]).
[6] Auf in der Nichtigkeitsbeschwerde zur Antragsfundierung nachgetragene Argumente war wegen des Neuerungsverbots nicht einzugehen (RIS‑Justiz RS0099618).
[7] Im Übrigen hat die gesetzliche Vertreterin der Opfer die erforderliche Zustimmung zur Exploration durch einen Sachverständigen verweigert (ON 39 S 23; RIS‑Justiz RS0097584, RS0118956, RS0108614). Die Überlegungen des Rechtsmittelwerbers, das Erstgericht hätte den Antrag „nicht ausschließlich unter Hinweis auf die nicht erteilte Zustimmung der obsorgeberechtigten Mutter der Zeuginnen abweisen dürfen, ohne sich mit den Voraussetzungen zur Einholung eines aussagepsychologischen Gutachtens überhaupt auseinanderzusetzen“, wenden sich gegen die Begründung des abweislichen Zwischenerkenntnisses, womit sich die Rüge vom Prüfungsmaßstab der Z 4 des § 281 Abs 1 StPO entfernt (RIS‑Justiz RS0116749, RS0121628 [T1]).
[8] Die – nicht an der Gesamtheit der Entscheidungsgründe orientierte (RIS-Justiz RS0119370) – Mängelrüge bekämpft mit dem Vorbringen, der Angeklagte hätte (zu II./1./) bei heftigen Faustschlägen eine gerade nicht festgestellte „Eigenverletzung“ erleiden müssen, die Zeugin * N* hätte nicht erklären können, was in der Zeit bis zur Verständigung der Rettung geschah, es sei unklar „warum und aus welchen Unterlagen sich welche Verletzungen und welche Zuordnung zum Angeklagten“ (II./2./ und 3./) ergäben (siehe aber US 15 f), bloß die Beweiswürdigung der Tatrichter nach Art einer im kollegialgerichtlichen Verfahren gesetzlich nicht vorgesehenen Berufung wegen des Ausspruchs über die Schuld, ohne ein Begründungsdefizit aufzuzeigen.
[9] In diesem Umfang war die Nichtigkeitsbeschwerde daher bereits bei nichtöffentlicher Beratung sofort zurückzuweisen (§ 285d Abs 1 StPO).
Die gegen Ⅰ./3./ gerichtete Subsumtionsrüge (Z 10; nominell Z 9 lit a, Z 5 vierter Fall) ist jedoch im Recht:
[10] Nach § 212 Abs 1 Z 2 StGB muss der Täter unter Ausnützung seiner ihm zukommenden Autoritätsstellung gegenüber dem Opfer handeln. Vorausgesetzt ist also, dass der Täter seine Autorität gezielt einsetzt, damit die geschützte Person die geschlechtliche Handlung setzt oder an sich geschehen lässt. Entscheidendes Kriterium für ein Ausnützen der Autoritätsstellung ist, dass infolge dieser der Entscheidungsspielraum des Opfers geringer ist als gegenüber Außenstehenden. Aus dem bloßen Bestehen eines Autoritätsverhältnisses darf allerdings nicht auf einen missbräuchlichen Einsatz desselben geschlossen werden; ferner reicht es nicht aus, dass der Täter eine durch seine Autoritätsstellung „gebotene Gelegenheit“ ausnützt (vgl RIS‑Justiz RS0095185, RS0106294 [T3]; Philipp in WK² StGB § 212 Rz 9 f mwN).
[11] Die Rüge zeigt zutreffend auf, dass dem Urteil keine Feststellungen zu entnehmen sind, ob und in welcher Weise der Angeklagte seine Autorität (jeweils) gezielt eingesetzt hat, damit die Tatopfer die inkriminierten Missbrauchshandlungen geschehen lassen, und nicht vielmehr bloß das sich ihm (jeweils) gebotene Gelegenheitsverhältnis ausgenützt hat. In den Entscheidungsgründen finden sich insoweit (US 7 f, 15, 18) nur die Passagen, dass der Angeklagte die Abwesenheit der Kindeseltern als Aufsichts- und Respektspersonen ausnutzte, ihm seine Aufsicht über die Mädchen bewusst war und er die sexuellen Handlungen unter Ausnützung dieser Stellung (beim Faktum I./1./ auch des Schlafes des Opfers – US 7) vornehmen wollte; solcherart erschöpft sich die angefochtene Entscheidung jedoch in der substratlosen Wiedergabe der verba legalia (vgl 12 Os 86/21w).
[12] Demgemäß war wie aus dem Spruch ersichtlich zu entscheiden.
[13] Die Entscheidung über die Berufung gegen den Zuspruch an die Privatbeteiligte * N* (US 4; ON 57 S 12) kommt dem Oberlandesgericht zu.
[14] Die Kostenentscheidung beruht auf § 390a Abs 1 StPO.
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