OGH 6Ob99/22k

OGH6Ob99/22k27.5.2022

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten Hon.‑Prof. Dr. Gitschthaler als Vorsitzenden sowie die Hofrätinnen und Hofräte Dr. Nowotny, Dr. Hofer‑Zeni‑Rennhofer, Dr. Faber und Mag. Pertmayr als weitere Richter in der Außerstreitsache des Antragstellers M* Y*, USA, vertreten durch Held Berdnik Astner & Partner Rechtsanwälte GmbH in Graz, wider die Antragsgegnerin V* Y*, vertreten durch Mag. Irmgard Neumann, Rechtsanwältin in Graz, wegen Rückführung der Minderjährigen P* Y*, geboren am * 2018, nach dem Haager Kindesentführungsübereinkommen, über den außerordentlichen Revisionsrekurs der Antragsgegnerin gegen den Beschluss des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Graz als Rekursgericht vom 18. März 2022, GZ 2 R 36/22m‑60, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2022:0060OB00099.22K.0527.000

 

Spruch:

Der außerordentliche Revisionsrekurs wird mangels der Voraussetzungen des § 62 Abs 1 AußStrG zurückgewiesen (§ 71 Abs 3 AußStrG).

 

Begründung:

[1] Der Antragsteller stimmte zunächst einem Urlaubsaufenthalt der Minderjährigen bei ihren mütterlichen Großeltern in Österreich zu. Während die Antragsgegnerin mit der Minderjährigen bereits Ende Juni 2021 aus den USA anreiste, folgte der Antragsteller vereinbarungsgemäß Anfang August 2021 nach. Die gemeinsame Heimreise war für Mitte August 2021 geplant. Während ihres Aufenthalts in Österreich entschloss sich die Antragsgegnerin, mit der Minderjährigen nicht mehr in die USA zurückzukehren, sondern dauerhaft in Österreich zu bleiben, und beantragte Ende August 2021 beim österreichischen Pflegschaftsgericht die alleinige Obsorge für die Minderjährige und die Festsetzung des Hauptbetreuungsorts bei der Antragsgegnerin.

[2] Das Rekursgericht bestätigte die Rückführungsanordnung des Erstgerichts mit der Maßgabe, dass die Rückführung der Minderjährigen in das Staatsgebiet der USA angeordnet wurde.

Rechtliche Beurteilung

[3] Der dagegen erhobene außerordentliche Revisionsrekurs der Antragsgegnerin zeigt keine erhebliche Rechtsfrage iSd § 62 Abs 1 AußStrG auf:

[4] 1.1 Nach gefestigter Rechtsprechung wird die Zustimmungsvoraussetzung des Art 13 Abs 1 lit a HKÜ nur durch eine Zustimmung zu einer dauerhaften Aufenthaltsänderung durch den (Mit‑)Obsorgeberechtigten erfüllt, die sich unmittelbar aus einer Erklärung oder aus den Gesamtumständen ergeben kann (6 Ob 130/20s [ErwGr 2.]; RS0123748). Die Zustimmung iSd Art 13 Abs 1 lit a HKÜ kann grundsätzlich auch formfrei erklärt werden oder durch konkludentes Verhalten erfolgen (6 Ob 75/21d). Ob sich die Zustimmung unmittelbar aus den Umständen ergibt, kann nur nach den Verhältnissen des Einzelfalls beurteilt werden (6 Ob 75/21d; RS0123748 [T1]). Eine Einzelfallbeurteilung ist für den Obersten Gerichtshof nur dann überprüfbar, wenn den Vorinstanzen eine aufzugreifende Fehlbeurteilung unterlaufen wäre (vgl RS0044088).

[5] 1.2 Nach den Feststellungen erklärte die Antragsgegnerin dem Antragsteller bereits kurz nach dessen Ankunft in Österreich, dass sie mit der Minderjährigen wegen der schlechten Corona‑Situation in den USA länger in Österreich bleiben wolle und sie einen von den Therapeuten des Kindes empfohlenen Kindergartenbesuch in den USA nicht erlauben werde. Sie erklärte dem Antragsteller auch, dass es im Oktober oder November 2021 (in Österreich) eine „Corona‑Impfung“ für Kinder geben werde. Da der Antragsteller mit einer Verlängerung des Österreichaufenthalts nicht einverstanden war, kam es wiederholt zu Diskussionen zwischen den Kindeseltern. Im Zuge einer solchen unterfertigte der Antragsteller ein von der Antragsgegnerin verfasstes Schreiben, wonach er den Besuch des Kindergartens in Österreich, erlaube, und ein weiteres solches Schreiben, wonach die Antragsgegnerin und die Minderjährige wieder in die USA kommen würden, nachdem eine Kinderimpfung vorhanden sei. Er unterschrieb entgegen seiner Überzeugung, weil er keine Möglichkeit sah, dass er die Minderjährige vereinbarungsgemäß in die USA mitnehmen könne, und es ihm wichtig war, dass sie in den Kindergarten komme. Vor seinem (alleinigen) Rückflug in die USA Mitte August 2021 kam es neuerlich zu einem Streit, in dem der Antragsteller die Antragsgegnerin aufforderte, mit der Minderjährigen zurückzukommen. Letzteres tat er auch in der Folge in Telefonaten immer wieder.

[6] 1.3 Wenn die Vorinstanzen bei diesem Sachverhalt nicht von einer (schlüssigen) Zustimmung des Antragstellers zu einer dauerhaften Aufenthaltsänderung des Kindes nach Österreich ausgingen, liegt darin keine Fehlbeurteilung, die vom Obersten Gerichtshof im Interesse der Rechtssicherheit korrigiert werden müsste.

[7] 2.1 Es wurde bereits ausgesprochen, dass dann, wenn Kinder mit Zustimmung des anderen Sorgeberechtigten in einen anderen Staat als den des bisherigen gewöhnlichen Aufenthalts gebracht werden, ein rechtswidriges Zurückhalten iSd Art 3 HKÜ erst mit Ablauf der verabredeten Zeit eintritt (6 Ob 180/13h [ErwGr 3.1]). Daraus ist für die Antragsgegnerin im vorliegenden Fall aber schon deshalb nichts zu gewinnen, weil sie das von ihr selbst aufgesetzte und – nach Ansicht der Vorinstanzen unter Druck – vom Antragsteller im August 2021 unterfertigte Schreiben, wonach sie und die Minderjährige wieder in die USA kämen, nachdem eine Kinderimpfung vorhanden sei, nicht so auffassen durfte (vgl 1 Ob 256/09t [ErwGr 4.]), dass der Antragsteller damit einer Verlängerung des Österreichaufenthalts über den von ihr selbst genannten (spätesten) Zeitpunkt für die Verfügbarkeit der Kinderimpfung Ende November 2021 hinaus zustimme.

[8] Bei Beschlussfassung des Erstgerichts war dieser Zeitpunkt bereits lange überschritten. Die Argumentation des Revisionsrekurses, das Zurückhalten sei mangels Ablaufs der vereinbarten Aufenthaltszeit nicht rechtswidrig, weil es nach wie vor keine Impfung gegen Covid‑19 für Kinder unter fünf Jahre gebe, geht daher ins Leere.

[9] 2.2 Ob und welche Auswirkungen ein Widerruf der Zustimmung des Antragstellers zu einer Verlängerung des vorübergehenden Aufenthalts der Minderjährigen in Österreich hatte, kann daher mangels Relevanz dahinstehen. Gleiches gilt für ein Eingehen auf die im Revisionsrekurs behauptete Gleichheitswidrigkeit der von der erörterten Rechtsprechung zu Art 13 Abs 1 lit a HKÜ (oben Punkt 1.1) geforderten Zustimmung des Sorgeberechtigten zur dauernden Wohnsitzverlegung des Kindes ins Ausland.

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