OGH 6Ob180/13h

OGH6Ob180/13h24.10.2013

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Hon.‑Prof. Dr.

Pimmer als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofs Dr. Schramm, Dr. Gitschthaler, Univ.‑Prof. Dr. Kodek und Dr. Nowotny als weitere Richter in der Rechtssache des Antragstellers Drs. R***** H*****, Niederlande, vertreten durch Dr. Helene Klaar Dr. Norbert Marschall Rechtsanwälte OG in Wien, gegen die Antragsgegnerin Dr. E***** H*****, vertreten durch Mag. Marina Breitenecker, Dr. Christine Kolbitsch und Dr. Heinrich Vana, Rechtsanwältinnen und Rechtsanwalt in Wien, wegen Rückführung der Minderjährigen 1. P***** H*****, geboren am 5. Dezember 2002, 2. C***** H*****, geboren am 17. November 2007, 3. V***** H*****, geboren am 31. August 2011, über den außerordentlichen Revisionsrekurs des Antragstellers gegen den Beschluss des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Wien als Rekursgericht vom 8. August 2013, GZ 45 R 358/13z‑26, womit der Beschluss des Bezirksgerichts Innere Stadt Wien vom 21. Juni 2013, GZ 4 Ps 48/13x‑20, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

 

Spruch:

Der Revisionsrekurs wird zurückgewiesen.

Begründung

Nach den Feststellungen der Vorinstanzen übersiedelte die Antragsgegnerin mit den Kindern im Dezember 2011 nach Wien, um dort eine Kassenordination zu übernehmen. Der Antragsteller erklärte sich mit dem Umzug mit der Einschränkung einverstanden, dass diese Regelung ausschließlich für das Jahr 2012 gelten sollte. Die Kinder integrierten sich nach ihrem Rückzug nach Wien wieder in Österreich. Durch die Schule bzw Vorschule und Sportaktivitäten bauten sie sich wieder ein soziales Umfeld in Wien auf. P***** besucht seit Anfang 2012 wieder die Pfadfinder, spielt zweimal pro Woche Basketball und begann im Frühjahr 2012, regelmäßig Tischtennis zu spielen, seit Sommer 2012 ist er Mitglied des Sportclubs H*****. C***** besucht seit Anfang 2012, V***** seit September 2012 regelmäßig das Kindertagesheim K*****. Wien wurde für die Kinder im Laufe des Jahres 2012 zu ihrem Lebensmittelpunkt, wo sie umfassend sozial integriert sind. Nach ihrem Umzug lebten sich die Kinder wieder in Wien ein, wo P***** die ersten sechs und C***** die ersten eineinhalb Lebensjahre verbracht haben.

Das Erstgericht wies den Antrag auf Anordnung der sofortigen Rückführung und Rückgabe der Minderjährigen ab. Die Kinder und die Antragsgegnerin hätten nach ihrem Rückzug nach Österreich im Dezember 2011 in Wien ihren gewöhnlichen Aufenthalt begründet. Nachdem die Kinder sich bereits an ihrem gewöhnlichen Aufenthalt befänden, könnten sie weder dorthin verbracht noch dort iSd Art 3 HKÜ zurückgehalten werden, sodass der Antrag auf Rückführung der Minderjährigen abzuweisen sei.

Das Rekursgericht bestätigte diese Entscheidung. Die Kinder hätten sich in Wien umfassend sozial integriert und eingelebt, sodass ‑ unabhängig vom Willen des Antragstellers ‑ ein gewöhnlicher Aufenthalt begründet worden sei. Sei dies aber der Fall, könne schon begrifflich ein widerrechtliches Zurückhalten iSd Art 3 HKÜ nicht vorliegen.

Der ordentliche Revisionsrekurs sei zulässig, weil keine höchstgerichtliche Rechtsprechung darüber vorliege, ob und inwieweit bedingte bzw zeitlich befristete Zustimmungen zu einem Aufenthaltswechsel dem Entstehen eines gewöhnlichen Aufenthalts entgegenstehen könnten.

Rechtliche Beurteilung

Hierzu hat der Oberste Gerichtshof erwogen:

Der Revisionsrekurs ist entgegen dem ‑ den Obersten Gerichtshof nicht bindenden ‑ Ausspruch des Rekursgerichts nicht zulässig.

1. Ziel des Haager Übereinkommens über die zivilrechtlichen Aspekte internationaler Kindesentführung (HKÜ) ist es, die sofortige Rückgabe widerrechtlich in einen Vertragsstaat verbrachter oder dort zurückgehaltener Kinder sicherzustellen (Art 1 lit a HKÜ). Der Oberste Gerichtshof hat bereits darauf hingewiesen, dass sich aus der Präambel des Übereinkommens („... um eine sofortige Rückgabe in den Staat seines gewöhnlichen Aufenthalts sicherzustellen“) ergibt, dass sicherzustellen ist, dass das Kind in den Staat seines (bisherigen) gewöhnlichen Aufenthalts zurückkehrt. Das Kind, das sich an seinem gewöhnlichen Aufenthalt befindet, kann daher dorthin weder verbracht noch iSd Art 3 HKÜ zurückgehalten werden (6 Ob 26/12k mwN). Der Zweck des HKÜ kann nicht mehr erreicht werden, wenn sich das Kind längere Zeit im Zufluchtsland aufhält und sozial integriert ist. In diesem Fall ist das Herkunftsland nicht mehr international zuständig, sondern die internationale Zuständigkeit ist auf das Zufluchtsland übergegangen (RIS‑Justiz RS0109515 [T1]).

2.1. Der gewöhnliche Aufenthalt ist jener Ort, an dem jemand während einer längeren Zeit, wenn auch nicht ununterbrochen, aber doch hauptsächlich sich aufzuhalten pflegt. Es kommt nicht auf die Absicht, dauernd an einem Ort verbleiben zu wollen, an, sondern nur darauf, ob jemand tatsächlich einen Ort zum Mittelpunkt seines Lebens, seiner wirtschaftlichen Existenz und seiner sozialen Beziehungen macht (RIS‑Justiz RS0046577). Der „gewöhnliche Aufenthalt“ wird bei einer Aufenthaltsdauer von ungefähr 6 Monaten als begründet angenommen, doch bedarf es jedenfalls einer genauen Prüfung der jeweiligen Umstände (RIS‑Justiz RS0074198 [T11]).

2.2. Bei der Beurteilung, ob ein gewöhnlicher Aufenthalt gegeben ist, bedarf es vor allem dann einer sorgfältigen Prüfung der jeweiligen Umstände, wenn der Aufenthalt des Kindes ein mehr oder weniger zwangsweiser ist, weil das Kind noch vor einer gerichtlichen Entscheidung über die Zuweisung der Elternrechte von einem Elternteil in einen anderen Staat gebracht wurde.

2.3. Ein gewöhnlicher Aufenthalt kann nach ständiger Rechtsprechung auch gegen den Willen eines Sorgeberechtigten begründet werden, weil es auf den tatsächlichen Daseinsmittelpunkt des Minderjährigen ankommt. Der entgegenstehende Wille des (anderen) Sorgeberechtigten wirkt sich aber rein tatsächlich häufig dahin aus, dass der Aufenthalt des Minderjährigen in dem anderen Staat noch nicht als auf Dauer angelegt angesehen werden kann. Das Bestehen eines gewöhnlichen Aufenthalts darf jedoch nicht mehr verneint werden, wenn der Aufenthalt über einen längeren Zeitraum gewährt hat und das Kind sozial integriert ist (RIS‑Justiz RS0074327 [T4], RS0109515 [T3]).

3.1. Dem Revisionsrekurswerber ist zuzugeben, dass dann, wenn Kinder ‑ wie im vorliegenden Fall ‑ mit Zustimmung des anderen Sorgeberechtigten in einen anderen Staat als den des bisherigen gewöhnlichen Aufenthalts gebracht werden, ein rechtswidriges Zurückhalten erst mit Ablauf der verabredeten Zeit eintritt. Der für den Fristbeginn nach Art 12 HKÜ maßgebliche Zeitpunkt ist in diesem Fall der Ablauf der eingeräumten Frist (vgl 6 Ob 39/13y; Pirrung in Staudinger , BGB Vorbem zu Art 19 EGBGB Rz D 23, D 64).

3.2. Daraus ist jedoch für den Rechtsstandpunkt des Revisionsrekurswerbers nichts zu gewinnen: Nach den Feststellungen der Vorinstanzen sind die Kinder nämlich zwischenzeitlich ausgezeichnet in Österreich integriert. Die Besonderheit des vorliegenden Falls liegt darin, dass diese Integration nicht Folge einer Verzögerung der Rückstellung durch den entführenden Elternteil, sondern einer mit dem Kindesvater getroffenen Vereinbarung ist. Mit seiner Vereinbarung nahm der Kindesvater zwangsläufig in Kauf, dass sich die Minderjährigen in der Zwischenzeit in Österreich integrieren, was im vorliegenden Fall noch dadurch erleichtert wurde, dass zwei der drei Kinder schon seinerzeit den gewöhnlichen Aufenthalt in Österreich hatten. Der Entscheidung 5 Ob 17/08y lag demgegenüber ein wesentlich kürzerer Zeitraum von bloß zwei Monaten zugrunde, der für eine entsprechende Integration nicht ausreichte.

4. Abgesehen davon, dass die Minderjährigen im vorliegenden Fall in Österreich bereits einen gewöhnlichen Aufenthalt begründet haben, würde die Anordnung einer Rückführung im Hinblick auf die besonderen Umstände des Einzelfalls auch dem Kindeswohl widersprechen. Das Kindeswohl hat jedoch stets Vorzug vor den Rückführungsmaßnahmen im HKÜ (1 Ob 220/02p).

5. Damit hängt die Entscheidung im vorliegenden Fall aber nicht von Rechtsfragen der in § 62 Abs 1 AußStrG geforderten Qualität ab, sodass der Revisionsrekurs spruchgemäß zurückzuweisen war.

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