OGH 6Ob130/20s

OGH6Ob130/20s8.7.2020

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten Dr. Schramm als Vorsitzenden und durch die Hofräte Dr. Gitschthaler, Univ.-Prof. Dr. Kodek, Dr. Nowotny sowie die Hofrätin Dr. Faber als weitere Richter in der Pflegschaftssache des Antragstellers B*, Deutschland, vertreten durch Dr. Marco Nademleinsky, Rechtsanwalt in Wien, gegen die Antragsgegnerin Mag. Ba*, vertreten durch BHF Briefer Hülle Frohner Gaudernak Rechtsanwälte OG in Wien, wegen Rückführung des Minderjährigen F*, geboren * 2018, über den außerordentlichen Revisionsrekurs des Antragstellers, gegen den Beschluss des Landesgerichts Korneuburg als Rekursgericht vom 12. Mai 2020, GZ 20 R 102/20w‑28, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2021:E128527

Rechtsgebiet: Zivilrecht

 

Spruch:

Der außerordentliche Revisionsrekurs wird mangels der Voraussetzungen des § 62 Abs 1 AußStrG zurückgewiesen (§ 71 Abs 3 AußStrG).

Begründung:

Rechtliche Beurteilung

1. Nach ständiger, die Auffassung des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH) berücksichtigender Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs (RS0126369) ist unter einem gewöhnlichen Aufenthalt eines Kindes der Ort zu verstehen, der Ausdruck einer gewissen sozialen und familiären Integration des Kindes ist. Hiefür sind insbesondere die Dauer, die Regelmäßigkeit und die Umstände des Aufenthalts sowie die Gründe für diesen Aufenthalt und den Umzug der Familie in diesen Staat, die Staatsangehörigkeit des Kindes, Ort und Umstände der Einschulung, die Sprachkenntnisse sowie die familiären und sozialen Bindungen des Kindes in dem betreffenden Staat zu berücksichtigen. Dabei ist es Sache des nationalen Gerichts des Fluchtstaats, unter Berücksichtigung aller tatsächlichen Umstände des Einzelfalls den gewöhnlichen Aufenthalt des Kindes festzustellen; ob ein solcher vorliegt, stellt dabei regelmäßig keine Rechtsfrage von erheblicher Bedeutung iSd § 62 Abs 1 AußStrG dar (6 Ob 15/18a; 6 Ob 152/17x ua; RS0126369 [T9]).

2. Gemäß Art 13 Abs 1 lit a HKÜ ist das Gericht des ersuchten Staates unter anderem dann nicht verpflichtet, die Rückgabe des Kindes anzuordnen, wenn die Person, die sich der Rückgabe des Kindes widersetzt, nachweist, dass die Person, der die Sorge für die Person des Kindes zustand, dem Verbringen zugestimmt oder dieses nachträglich genehmigt hat.

Eine derartige Zustimmung des (Mit‑)Obsorgeberechtigten kann auch stillschweigend, also durch konkludentes Verhalten, erfolgen (1 Ob 256/09t; 5 Ob 17/08y). Die Zustimmungsvoraussetzung des Art 13 Abs 1 lit a HKÜ wird dabei nur durch eine Zustimmung zu einer dauerhaften Aufenthaltsänderung durch den (Mit‑)Obsorgeberechtigten erfüllt, die sich unmittelbar aus einer Erklärung oder aus den Gesamtumständen ergeben kann (1 Ob 256/09t; RS0123748). Die Beweislast für die Erfüllung der Zustimmungsvoraussetzung des Art 13 Abs 1 lit a HKÜ trägt der Antragsgegner (RS0074561 [T4]). Ob sich die Zustimmung unmittelbar aus den Umständen ergibt, kann nur nach den Verhältnissen des Einzelfalls beurteilt werden.

3. Nach den Feststellungen hält sich das Kind seit Mitte Mai 2019 zum weit überwiegenden Teil in Österreich in der Eigentumswohnung der Mutter auf. Diese bewarb sich zwar ab Februar 2019 bei Unternehmen in Deutschland, kehrte aber nach Ablauf ihres Karenzurlaubs ab Mai 2019 mit Zustimmung des Vaters an ihren früheren Arbeitsplatz in Österreich zurück. Der – in Hamburg berufstätige – Vater nahm zwei Monate Karenzurlaub in Anspruch und betreute das Kind in Österreich. Danach kehrte er nach Deutschland zurück, ohne Einwände gegen den Verbleib der Mutter und des Kindes in Österreich zu erheben. Am 15. 7. 2019 erklärte er sich mit der Anmeldung des Kindes in einer Kinderbetreuungseinrichtung in S* einverstanden. Nachdem Bemühungen der Eltern, eine Lösung für einen gemeinsamen Wohnsitz zu finden, gescheitert waren, schrieb er am 13. 8. 2019 der Mutter, nun müsse eben er pendeln; einer müsse ja in den sauren Apfel beißen. Über Ersuchen des Vaters kam die Mutter Mitte und Ende August für jeweils wenige Tage nach Hamburg, wo das Kind für drei, dann für vier Tage eine Kinderbetreuungseinrichtung besuchte, an der es bereits vor dem 13. 7. 2019 angemeldet worden war. Nach einem Streit Ende August 2019 flog sie mit dem Kind zurück nach Österreich. Der Vater besuchte das Kind bis Anfang 2020 fast jedes Wochenende in Österreich. Er stellte am 18. 2. 2020 einen Rückführungsantrag.

4. Die Beurteilung des Rekursgerichts, das einen gewöhnlichen Aufenthalt des Kindes zumindest auch in Österreich annahm und von einer Zustimmung des Vaters zum Aufenthalt des Kindes in Österreich ausging, ist vertretbar.

Aus den Feststellungen ergibt sich, dass die Eltern zunächst Vorbereitungshandlungen für einen gemeinsamen Familienwohnsitz sowohl in Deutschland als auch in Österreich trafen, indem sie das Kind in beiden Staaten zur Kinderbetreuung anmeldeten und die Mutter zunächst einen Arbeitsplatz in Deutschland suchte. Gerade angesichts dieser Verhaltensweisen, aus denen nicht auf von Anfang an feststehende Zukunftspläne der Eltern geschlossen werden kann, begründet es keine vom Obersten Gerichtshof aufzugreifende Fehlbeurteilung, wenn das Rekursgericht auf die äußeren Gegebenheiten vor der behaupteten unzulässigen Verbringung des Kindes, nämlich den überwiegenden Aufenthalt des Kindes in Österreich nach dem beruflichen Wiedereinstieg der Mutter und die Betreuung des Kindes in Österreich durch den Vater während seines Karenzurlaubs, abstellte. Die Auslegung des Bedeutungsgehalts der Textnachricht des Vaters vom 13. 8. 2019 durch die Vorinstanzen überschreitet deren Ermessensspielraum ebenso wenig wie die Beurteilung, dass der Inanspruchnahme des Kindergartenplatzes in Deutschland an insgesamt nur sieben Tagen keine entscheidende Bedeutung zuzumessen sei.

Zusammengefasst wird keine erhebliche Rechtsfrage iSd § 62 Abs 1 AußStrG dargetan, sodass der außerordentliche Revisionsrekurs des Vaters zurückzuweisen war.

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