OGH 6Ob15/18a

OGH6Ob15/18a31.1.2018

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Hofrat Dr. Gitschthaler als Vorsitzenden und den Senatspräsidenten Dr. Schramm, die Hofräte Univ.‑Prof. Dr. Kodek sowie Dr. Nowotny und die Hofrätin Dr. Kodek als weitere Richter in der Rechtssache der Antragstellerin C*, vertreten durch Dr. Marco Nademleinsky, Rechtsanwalt in Wien, als bestellter Verfahrenshelfer, wider den Antragsgegner S*, vertreten durch Mag. Michaela Krankl, Rechtsanwältin in Wien, wegen Rückführung des minderjährigen I*, geboren am * 2011, nach dem Haager Kindesentführungsübereinkommen, über den außerordentlichen Revisionsrekurs des Antragsgegners gegen den Beschluss des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Wien als Rekursgericht vom 28. November 2017, GZ 45 R 520/17d‑44, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2019:E120725

Rechtsgebiet: Zivilrecht

 

Spruch:

Der außerordentliche Revisionsrekurs wird mangels der Voraussetzungen des § 62 Abs 1 AußStrG zurückgewiesen (§ 71 Abs 3 AußStrG).

 

Begründung:

1.1. Die Ehe der Eltern des Minderjährigen wurde im Dezember 2015 in Österreich rechtskräftig geschieden. Anlässlich der Scheidung vereinbarten die Eltern, dass die Obsorge für den Minderjährigen und seine im Juli 2015 geborene Schwester beiden gemeinsam zukommt und dass die Minderjährigen hauptsächlich im Haushalt der Mutter betreut werden.

Das Erstgericht verpflichtete den Vater zur Rückführung seines Sohnes in die Türkei. Danach verließ die Mutter (nach Mitteilung deren Vertreters vom 6. 10. 2017) mit dem Kind Österreich.

Das Rekursgericht bestätigte die Entscheidung des Erstgerichts.

Rechtliche Beurteilung

1.2. Der Vater erblickt eine erhebliche Rechtsfrage darin, dass das Rekursgericht das Wohl des Minderjährigen nicht beachtet habe.

Dem ist zu erwidern:

2.1. Entgegen der Behauptung des Vaters bedarf die Beurteilung des Rekursgerichts, das Kind habe seinen gewöhnlichen Aufenthalt (iSd Art 4 HKÜ) in der Türkei gehabt, bevor er es in Österreich zurückhielt, keiner Korrektur.

2.2. Nach ständiger, die Auffassung des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH) berücksichtigender Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs (RIS‑Justiz RS0126369) ist unter einem gewöhnlichen Aufenthalt eines Kindes der Ort zu verstehen, der Ausdruck einer gewissen sozialen und familiären Integration des Kindes ist. Hiefür sind insbesondere die Dauer, die Regelmäßigkeit und die Umstände des Aufenthalts sowie die Gründe für diesen Aufenthalt und den Umzug der Familie in diesen Staat, die Staatsangehörigkeit des Kindes, Ort und Umstände der Einschulung, die Sprachkenntnisse sowie die familiären und sozialen Bindungen des Kindes in dem betreffenden Staat zu berücksichtigen. Dabei ist es Sache des nationalen Gerichts des Fluchtstaats, unter Berücksichtigung aller tatsächlichen Umstände des Einzelfalls den gewöhnlichen Aufenthalt des Kindes festzustellen; ob ein solcher vorliegt, stellt dabei regelmäßig keine Rechtsfrage von erheblicher Bedeutung (iSd § 62 Abs 1 AußStrG) dar (vgl 6 Ob 152/17x).

2.3. Nach den Feststellungen der Vorinstanzen hält sich der Minderjährige seit 2016 mit seiner Mutter und seiner Schwester regelmäßig in Bursa in der Türkei auf, wo er mit Zustimmung des Vaters lebt. Er besuchte dort den Kindergarten und sollte anschließend in der Türkei eingeschult werden. Er war zwar im Frühjahr 2017 mehrere Wochen in Österreich, kehrte dann aber in die Türkei zurück. Ab 11. 8. 2017 hielt er sich mit Zustimmung der Mutter wieder beim Vater in Österreich auf. Vereinbart war, dass der Minderjährige Anfang September 2017 wieder in die Türkei reist, um dort rechtzeitig vor Schulbeginn zu sein. Der Vater teilte schließlich der Mutter mit, er werde seinen Sohn bei sich behalten und nicht mehr in die Türkei gehen lassen.

Am 6. 9. 2017 stellte die Mutter den Rückführungsantrag.

2.4. Wenn die Vorinstanzen bei diesem Sachverhalt übereinstimmend davon ausgingen, das Kind habe über einen gewöhnlichen Aufenthalt in der Türkei verfügt, so ist dies – entgegen der Auffassung des Vaters im außerordentlichen Revisionsrekurs – durchaus vertretbar, lebte doch der Minderjährige zuletzt hauptsächlich in der Türkei und besuchte den Vater nur wochenweise im Rahmen dessen Kontaktrechts.

2.5. Soweit im Revisionsrekurs ausgeführt wird, der Minderjährige sei seit 2016 nicht mehr regelmäßig in der Türkei und die Mutter habe die Zustimmung des Vaters erschlichen, wird damit unzulässig die Beweiswürdigung der Vorinstanzen bekämpft (vgl RIS-Justiz RS0069246). Das Rekursgericht hat sich mit der entsprechenden Beweisrüge ausführlich auseinandergesetzt und sie verworfen, was keiner Anfechtung vor dem Obersten Gerichtshof unterliegt (vgl RIS‑Justiz RS0007236).

3.1. Soweit der Revisionsrekurs eine erhebliche Gefährdung des Kindes iSd Art 13 lit b HKÜ aufgrund der politischen und rechtlichen Entwicklungen in der Türkei seit dem Putschversuch am 15. 7. 2016 erblickt, ist dem entgegenzuhalten, dass die Person, die sich der Rückgabe widersetzt, die volle Behauptungs‑ und Beweislast für das Vorliegen von Rückführungshindernissen trägt (RIS‑Justiz RS0074561). Ob das Kindeswohl iSd Art 13 Abs 1 lit b des HKÜ bei einer Rückgabe gefährdet ist, hängt von den jeweiligen Umständen des Einzelfalls ab. Diese Frage bedarf regelmäßig nur dann einer Beurteilung durch den Obersten Gerichtshof, wenn die Vorinstanzen bei ihren Entscheidungen in unvertretbarer Weise von den in der Rechtsprechung entwickelten Grundsätzen abgewichen sind (RIS‑Justiz RS0112662 [T1, T5], RS0074568 [T2]).

3.2. Konkrete Hinweise auf eine Gefährdung des Kindeswohls im Fall der Rückkehr vermag der Revisionsrekurs nicht aufzuzeigen (vgl 6 Ob 123/16f). Dass der Minderjährige in der Türkei zum Nachspielen des Putschversuchs in Form einer Theaterinszenierung gezwungen werden würde, legt der Vater nicht konkret dar, sondern behauptet solche Theaterinszenierungen nur allgemein in Bezug auf Schulen in der Türkei. Dieser Hinweis vermag die dem Vater obliegende Behauptungs‑ und Beweislast für das Vorliegen eines Rückführungshindernisses nicht zu ersetzen. Auch nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) müssen die nationalen Gerichte im Rahmen der Überprüfung eines Rückstellungsantrags nur plausibles Vorbringen zu einer schwerwiegenden Gefährdung entsprechend würdigen (iFamZ 2014/1). Derartige plausible Bedenken vermag der Revisionsrekurs aber nicht darzutun.

3.3. Der Sachverhalt, der der Entscheidung des Obersten Gerichtshofs 2 Ob 8/10f zugrunde lag, ist mit dem vorliegenden nicht vergleichbar, sodass aus dieser Entscheidung nichts für den Vater zu gewinnen ist. Es ging dort um die Frage, ob es ein Rückführungshindernis bildet, wenn ein Elternteil angeblich ohne Anstrengung entsprechender behördlicher Verfahren den anderen im Herkunftsstaat „ins Gefängnis“ werfen kann.

Es besteht kein konkreter Anhaltspunkt dafür, dass die türkischen Behörden ein Sorgerechtsverfahren willkürlich führen würden.

3.4. Nach Art 20 HKÜ kann die Rückgabe des Kindes abgelehnt werden, wenn sie nach den im ersuchten Staat geltenden Grundwerten über den Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten unzulässig ist. Auf dieses Rückführungshindernis hat sich der Vater weder in erster noch in zweiter Instanz gestützt.

Der Auffassung des Rekursgerichts, dass die allgemeine politische Situation mangels eines Anhaltspunkts für eine konkrete Gefährdung des Minderjährigen eine Ablehnung der Rückführung nicht rechtfertigen könne, ist nicht entgegenzutreten, ist doch Voraussetzung auch für dieses Rückführungshindernis das Feststehen einer Gefahr für die Rechte des Kindes (vgl Pape, Internationale Kindesentführung 82 f; Böhmer/Finger, IntFamR, Kap 7.9. Rz 100a). Rechte des Kindes, die im Rahmen des Art 20 HKÜ Beachtung zu finden haben, führt der Revisionsrekurs nicht aus.

4. Vom Rekursgericht verneinte Mängel des Verfahrens erster Instanz (hier: Nichtzulassung eines Videos in türkischer Sprache über das „Nachspielen“ des Putschversuchs vom 15. 7. 2016 in einem türkischen Kindergarten) können mit Revisionsrekurs nicht nochmals geltend gemacht werden (RIS‑Justiz RS0050037). Der Vater hat nicht behauptet, dass das Video die konkrete Situation seines Sohnes betrifft.

5. Zusammenfassend bringt der Revisionsrekurs daher keine Rechtsfragen der in § 62 Abs 1 AußStrG geforderten Bedeutung zur Darstellung, sodass er spruchgemäß zurückzuweisen war.

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