OGH 6Ob123/16f

OGH6Ob123/16f27.6.2016

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten Hon.‑Prof. Dr. Kuras als Vorsitzenden und die Hofräte Dr. Schramm, Dr. Gitschthaler, Univ.‑Prof. Dr. Kodek und Dr. Nowotny als weitere Richter in der Rechtssache des Antragstellers B***** N*****, Kinderschutzzentrum Budapest, *****, vertreten durch Mag. Nikolaus Halbgebauer, Rechtsanwalt in Salzburg, als bestellter Verfahrenshelfer, gegen die Antragsgegner I***** S***** und V***** S*****, beide *****, beide vertreten durch Ferner Hornung & Partner Rechtsanwälte GmbH in Salzburg, wegen Rückführung der minderjährigen Elisabeth M***** S*****, geboren am *****, nach dem Haager Kindesentführungsübereinkommen über den außerordentlichen Revisionsrekurs der Antragsgegner gegen den Beschluss des Landesgerichts Salzburg als Rekursgericht vom 20. April 2016, GZ 21 R 96/16p‑34, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2016:0060OB00123.16F.0627.000

 

Spruch:

Der außerordentliche Revisionsrekurs wird mangels der Voraussetzungen des § 62 Abs 1 AußStrG zurückgewiesen (§ 71 Abs 3 AußStrG).

Begründung:

Rechtliche Beurteilung

1.1. Die Revisionsrekurswerber erblicken eine erhebliche Rechtsfrage darin, ob sich auch ein Staat, der aufgrund einer verwaltungsbehördlichen Entscheidung einer eigenen Behörde das Sorgerecht übertragen hat, auf das HKÜ berufen kann. Dem ist entgegenzuhalten, dass Partei im vorliegenden Verfahren nicht der ungarische Staat, sondern der Antragsteller ist. Auch ist dem Revisionsrekurs kein konkretes Vorbringen zu entnehmen, wieso die festgestellte Obsorgeentscheidung der ungarischen Behörde nicht wirksam sein sollte. Nach Art 3 HKÜ ist die Frage, welcher Person das Sorgerecht zusteht, nach dem Recht des Staats zu beurteilen, in dem das Kind unmittelbar vor dem Verbringen oder Zurückhalten seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte (RIS‑Justiz RS0119948 [T9]). Nach den Feststellungen der Vorinstanzen wurde der Antragsteller vom Regierungsamt Hauptstadt Budapest mit Urteil vom 29. 7. 2015 als Vormund bestellt und ausgesprochen, dass das elterliche Sorgerecht ruht.

1.2. Art 3 HKÜ, der die sachliche Anwendungsvoraussetzung für das HKÜ, die „Entführung“ näher regelt, definiert „Entführung“ als „widerrechtliches Verbringen oder Zurückhalten“ des Kindes außerhalb des Herkunftslandes. Gemäß Art 3 HKÜ gilt das Verbringen oder Zurückhalten eines Kindes als widerrechtlich, wenn dadurch das Sorgerecht verletzt wird, das einer Person, Behörde oder sonstigen Stelle allein oder gemeinsam nach dem Recht des Herkunftsstaats zusteht und dieses Recht im Zeitpunkt des Verbringens oder Zurückhaltens allein oder gemeinsam tatsächlich ausgeübt wurde oder ausgeübt worden wäre, falls das Verbringen oder Zurückhalten nicht stattgefunden hätte (6 Ob 73/12x). Daraus ergibt sich in einer jeden Zweifel ausschließenden Deutlichkeit, dass auch das von einer Behörde ausgeübte Sorgerecht unter dem Schutz des HKÜ steht. Dieser Schutz kommt auch einer von der Behörde mit der Ausübung der Obsorge betrauten Person zu. Nach der Rechtsprechung schließt eine klare und gesetzliche Regelung das Vorliegen einer erheblichen Rechtsfrage aus (RIS‑Justiz RS0042656).

1.3. Im vorliegenden Fall liegt das Aufenthaltsbestimmungsrecht allein beim Antragsteller. Dieses Recht haben die Eltern durch das Verbringen nach Österreich verletzt. Der Umstand, dass die Antragsgegner die leiblichen Eltern des Kindes sind, schließt die Anwendung des HKÜ nicht aus, steht diesen im vorliegenden Fall doch das Sorgerecht gerade nicht zu.

2.1. Soweit der Revisionsrekurs eine erhebliche Gefährdung des Kindes iSd Art 13 lit b HKÜ aufgrund der Zugehörigkeit zur Minderheit der Roma erblickt, ist dem entgegenzuhalten, dass die Person, die sich der Rückgabe widersetzt, die volle Behauptungs‑ und Beweislast für das Vorliegen von Rückführungshindernissen trägt (RIS‑Justiz RS0074561). Ob das Kindeswohl iSd Art 13 Abs 1 lit b des HKÜ bei einer Rückgabe gefährdet ist, hängt von den jeweiligen Umständen des Einzelfalls ab. Diese Frage bedarf regelmäßig nur dann einer Beurteilung durch den Obersten Gerichtshof, wenn die Vorinstanzen bei ihren Entscheidungen in unvertretbarer Weise von den in der Rechtsprechung entwickelten Grundsätzen abgewichen sind (RIS‑Justiz RS0112662 [T1, T5], RS0074568 [T2]).

2.2. Konkrete Hinweise auf eine Gefährdung des Kindeswohls im Fall der Rückkehr vermag der Revisionsrekurs nicht aufzuzeigen. Der Hinweis auf angebliche Studien über die allgemeine Situation der Roma in Ungarn vermag die den Antragsgegnern obliegende Behauptungs‑ und Beweislast für das Vorliegen eines Rückführungshindernisses nicht zu ersetzen. Auch nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte müssen die nationalen Gerichte im Rahmen der Überprüfung eines Rückstellungsantrags nur plausibles Vorbringen zu einer schwerwiegenden Gefährdung entsprechend würdigen (iFamZ 2014/1). Derartige plausible Bedenken vermag der Revisionsrekurs aber nicht darzutun. Es ergibt sich kein konkreter Anhaltspunkt, dass die Minderjährige im vorliegenden Fall überhaupt von einer Zwangsadoption bedroht wäre. Auch der bisherige Verfahrensgang in Ungarn bietet keinen überzeugenden Hinweis darauf, dass die Rechte der leiblichen Eltern selbst bei Einleitung eines derartigen Verfahrens nicht gewahrt würden.

2.3. Die von den Revisionsrekurswerbern zitierte Entscheidung 6 Ob 67/15v lässt sich auf den vorliegenden Fall nicht übertragen, stand dort doch ein konkretes Rückführungshindernis in Form einer einjährigen Freiheitsstrafe der Mutter und der damit zu befürchtenden Trennung des Kindes von der Mutter fest. Die Behauptungen hinsichtlich der Pflegemutter finden in der Aktenlage keine Deckung. Ob dem Entführer im Ursprungsstaat allenfalls eine Verurteilung wegen Kindesentführung und eine Haftstrafe droht, ist im Rahmen der Entscheidung nach dem HKÜ grundsätzlich nicht zu berücksichtigen. Andernfalls könnte das HKÜ im Verhältnis zu Ländern, die Freiheitsstrafen für derartige Entführungsfälle vorsehen, überhaupt nie zur Anwendung kommen (6 Ob 134/13v).

2.4. In der Entscheidung 6 Ob 218/15z ergab sich die drohende Traumatisierung der Kinder aus einem dort vorliegenden Sachverständigengutachten. Diese Entscheidung lässt sich daher gleichfalls auf den vorliegenden Fall nicht übertragen.

3. Zusammenfassend bringt der Revisionsrekurs daher keine Rechtsfragen der in § 62 Abs 1 AußStrG geforderten Bedeutung zur Darstellung, sodass er spruchgemäß zurückzuweisen war.

Stichworte