OGH 6Ob134/13v

OGH6Ob134/13v28.8.2013

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Hon.‑Prof. Dr. Pimmer als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofs Dr. Schramm, Dr. Gitschthaler, Univ.‑Prof. Dr. Kodek und Dr. Nowotny als weitere Richter in der Außerstreitsache des Antragstellers M***** S*****, Frankreich, vertreten durch Mag. Peter Blaschke, Rechtsanwalt in Wien, gegen die Antragsgegnerin Mag. C***** B*****, vertreten durch Mag. Dr. Herbert Blum, Rechtsanwalt in Wien, wegen Rückführung der Minderjährigen A***** und M***** B*****, beide geboren am 3. März 2006, über den Revisionsrekurs des Antragstellers gegen den Beschluss des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Wien als Rekursgericht vom 7. Mai 2013, GZ 42 R 123/13v‑311, mit dem der Beschluss des Bezirksgerichts Innere Stadt Wien vom 13. August 2012, GZ 4 Ps 5/10i‑286, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2013:0060OB00134.13V.0828.000

 

Spruch:

Dem Revisionsrekurs wird Folge gegeben.

Die Entscheidungen der Vorinstanzen werden aufgehoben. Die Rechtssache wird zur neuerlichen Entscheidung an das Erstgericht zurückverwiesen.

Begründung

Die Zwillinge sind unehelich geboren. Der Vater anerkannte die Vaterschaft wenige Tage nach deren Geburt. Die Kinder besitzen ‑ ebenso wie ihre Mutter (die Antragsgegnerin) ‑ die französische und die österreichische Staatsbürgerschaft. Der Vater (der Antragsteller) ist französischer Staatsangehöriger. In Frankreich führten die Kinder den Familiennamen des Vaters, in Österreich jenen der Mutter. Bis 10. 12. 2008 lebten die Kinder im gemeinsamen Haushalt mit den Eltern in Frankreich, die sich beide um sie kümmerten. Bestimmend waren aber die Entscheidungen des Vaters, die er gegenüber der Mutter fallweise mit körperlicher Gewalt durchsetzte. Es ist aber nicht bescheinigt, dass der Vater Gewalt auch gegenüber den beiden Minderjährigen ausgeübt hätte. Ebenso ist nicht bescheinigt, dass der Vater die beiden Minderjährigen sexuell missbraucht hätte.

Bereits im November 2008 plante die Mutter, mit den Kindern nach Österreich zu übersiedeln, und teilte dem Vater ihren Wunsch nach Trennung mit. Am 10. 12. 2008 kam es zu einer Auseinandersetzung, weil die Mutter beabsichtigte, mit den Kindern gegen den Willen des Vaters für die Dauer von vier Tagen nach Paris zu reisen. Letztendlich gab der Vater sein Einverständnis, dass die Mutter mit den Kindern bei einer Freundin übernachte. Von dort fuhr sie am nächsten Tag mit den Kindern nach Paris. Anstatt ‑ wie zunächst angekündigt ‑ am 14. 12. 2008 zurückzukehren, reiste sie zu ihren ebenfalls in Frankreich wohnhaften Eltern. Am 17. 12. 2008 erklärte sie vor einer französischen Polizeistelle, ihren Hauptwohnsitz in Wien genommen zu haben und sich nunmehr dorthin zu begeben. Noch am selben Tag reiste sie mit den Kindern nach Paris und am darauf folgenden Tag mit dem Flugzeug nach Wien. Davor nahm sie noch die behördliche Mitteilung zur Kenntnis, dass der Vater inzwischen für den 31. 12. 2008 einen Termin beim zuständigen Familiengericht in Frankreich erwirkt hatte. Sie bestand jedoch darauf, dass ihr eine Ladung mit der Aufforderung zum persönlichen Erscheinen zugestellt werden müsse.

In Wien erwirkte die Mutter am 23. 12. 2008 eine einstweilige Verfügung, mit der dem Vater die Kontaktaufnahme mit der Mutter untersagt wurde. Dem lag die Behauptung zugrunde, der Vater habe sie mit dem Umbringen bedroht und eines der Kinder zu entführen versucht.

Mit einstweiliger Verfügung vom 7. 1. 2009 stellte das französische Amtsgericht auf Antrag des Vaters fest, dass die „elterliche Autorität“ über die Kinder beiden Elternteilen zustehe. Es bestimmte als ständigen Wohnsitz der Kinder den Wohnsitz des Vaters und sprach aus, dass diesem für die Zeit, welche die Kinder bei ihm verbringen, das alleinige Sorgerecht sowie die Entscheidungsbefugnis im Fall eines chirurgischen Eingriffs zukomme. Für die Mutter wurde ein „Besuchsrecht“ angeordnet. Das französische Amtsgericht legte seiner Entscheidung zugrunde, dass die Mutter Kenntnis von der über Antrag des Vaters anberaumten Verhandlung erlangt habe und bewusst zu dieser nicht erschienen sei. Ihr Verhalten, die Kinder aus ihrer gewohnten Umgebung zu reißen und dem Vater ihren jetzigen Wohnsitz zu verheimlichen, sei gegen die Interessen der Kinder gerichtet.

Ausgehend von diesem Sachverhalt und aufgrund der Bestimmungen des Haager Übereinkommens über die zivilrechtlichen Aspekte internationaler Kindesentführung, BGBl 512/1980, (HKÜ) ordnete der Oberste Gerichtshof am 13. 10. 2009 die sofortige Rückführung der Kinder nach Frankreich an.

Die Mutter erklärte sich daraufhin zwar bereit, die Kinder nach Frankreich zurückzubringen. Tatsächlich stellte sie die Kinder jedoch lediglich einem Gerichtsvollzieher beziehungsweise einem Notar in Frankreich vor und verschwand sodann wieder mit den Kindern. Ein Abnahmeversuch in Österreich scheiterte im Dezember 2009 daran, dass die Mutter mit den Kindern nicht auffindbar war.

Ein gegen den Vater in Österreich geführtes Strafverfahren, das den Verdacht des sexuellen Missbrauchs der Kinder zu Inhalt hatte, stellte die Staatsanwaltschaft Wien am 27. 8. 2010 gemäß § 190 Z 2 StPO ein. In einem in Frankreich geführten Verfahren wurde dem Vater vom beigezogenen Sachverständigen bescheinigt, weder an einer geistigen Störung noch an einer physischen oder psychischen Beeinträchtigung zu leiden, die kurz- oder langfristige Folgen für die Ausübung der elterlichen Funktion haben könnte.

Ein vom Erstgericht eingeholtes Sachverständigengutachten ergab eine schwere Traumatisierung der Kinder. Die seit Jänner 2008 (gemeint: 2009) bestehenden familiären Verhältnisse, die stabile Versorgung im Kindergarten und eine langjährige Psychotherapie könnten zwar als wesentliche protektive Faktoren für die psychische Gesundheit der schwer traumatisierten Kinder eingeschätzt werden; eine Trennung von der Mutter als Hauptbindungsperson würde für die Kinder jedoch mit hoher Wahrscheinlichkeit starkes seelisches Leid und eine tiefe Erschütterung im Sinn einer weiteren schweren Traumatisierung bewirken. Eine Rückkehr der Kinder nach Frankreich würde der Aufarbeitung des Traumas entgegenstehen; die Sicherheit durch die primäre Bindungsperson in der Person der Mutter und die Kontinuität sowie die Stabilität der derzeitigen Lebenssituation gingen verloren. Die Kinder würden alle derzeitigen protektiven Faktoren verlieren, sich stattdessen in fremder Umgebung befinden und voller Angst einer unsicheren Zukunft entgegen blicken. Für die Kinder würde dieser Umstand mit hoher Wahrscheinlichkeit eine existenzielle Krise bewirken, durch die sie in ihrer weiteren emotionalen und kognitiven Entwicklung schweren Schaden nehmen würden.

Gegen die Mutter besteht in Frankreich ein internationaler Haftbefehl wegen Entführung der Kinder.

Am 8. 7. 2011 teilte die französische Zentrale Behörde mit, dass bei einer Rückkehr der Kinder nach Frankreich diese nicht dem Vater anvertraut werden würden; der Vater habe auch keine Absichten in dieser Hinsicht geäußert. Die Zentrale Behörde führte aus, dass der zuständige (französische) Familienrichter den Schutz der Kinder überwachen werde, die Kinder also in einer französischen Kinderschutzeinrichtung unterkommen würden.

Die mütterliche Großmutter der Kinder lebt nicht ständig in Frankreich; sie hält sich immer wieder auch in Österreich auf.

Der Vater beantragte mehrmals, die Rückgabeentscheidung vom 13. 10. 2009 zu vollstrecken. Das gegen ihn geführte Strafverfahren sei eingestellt, eine Traumatisierung der Kinder bestehe nicht, diese würden sich bei einer Rückkehr nach Frankreich dort schnell wieder einleben. Allenfalls seien begleitende Maßnahmen für die Rückführung anzuordnen, so etwa die Unterbringung der Kinder in einer französischen Kinderschutzeinrichtung oder die Rückkehr der Kinder mit der mütterlichen Großmutter.

Die Mutter beantragte mehrmals, von der Fortsetzung des Rückführungsverfahrens Abstand zu nehmen und das Vollstreckungsverfahren einzustellen. Das Wohl der Kinder wäre gefährdet, würden diese in den Einflussbereich des Vaters zurückgeführt; sie seien in Österreich eingewöhnt und würden bei einer Rückführung nach Frankreich von der Mutter getrennt, gegen die ein internationaler Haftbefehl bestehe.

Die Vorinstanzen wiesen die Anträge des Vaters auf Rückführung der Kinder nach Frankreich ab, wobei sie ihren Entscheidungen erkennbar die Ausführungen der vom Erstgericht beigezogenen Sachverständigen zur Frage der Kindeswohlgefährdung zugrunde legten. Das Rekursgericht erklärte außerdem den Revisionsrekurs für zulässig; es fehle Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs zur „neuen Judikatur“ des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) betreffend das Verhältnis zwischen Art 8 EMRK einerseits und HKÜ beziehungsweise Brüssel IIa‑VO andererseits.

In der Sache selbst vertrat das Rekursgericht die Auffassung, die schwere Traumatisierung der Kinder sei erst nach der Rückführungsanordnung hervorgekommen; erst danach habe sich eine posttraumatische Belastungsstörung bei den Kindern manifestiert. Darüber hinaus seien die Kinder in die nunmehr sichere Umgebung eingewöhnt und befänden sich aufgrund der durchgeführten Psychotherapie in einem stabilisierten Zustand. Damit sei aber zu prüfen, ob nicht die Vollstreckung der Rückführungsanordnung nunmehr dem Wohl der Kinder widerspreche. Dies sei zu bejahen, würde doch das Herausreißen der Kinder aus ihrer nunmehrigen Situation und ihre Rückführung nach Frankreich ohne Begleitung der Mutter einen schweren Schaden verursachen; eine Begleitung durch die Mutter komme jedoch nicht in Frage, würde sie doch aufgrund des bestehenden Haftbefehls bereits an der Grenze enden. Im Übrigen bestehe eine Anordnung eines französischen Gerichts, dass der Aufenthaltsort der Kinder in Frankreich beim Vater liege; die Kinder würden sich damit bei einer Rückkehr bei dem ihnen nun völlig unbekannten Vater wiederfinden, allenfalls auch allein in einer Kinderschutzeinrichtung. Den französischen Jugendschutzbehörden könne zwar nicht vorgeworfen werden, sich nicht um den Vorschlag entsprechender Maßnahmen bemüht zu haben; sie könnten jedoch „nicht mehr anbieten, als ihnen zur Verfügung steht“. Eine Übersiedlung der Kinder in eine Kinderschutzeinrichtung gemeinsam mit der Mutter komme angesichts des bestehenden Haftbefehls nicht in Frage, eine solche mit der mütterlichen Großmutter schon allein deshalb nicht, weil diese dazu nicht gezwungen werden könnte. Bei der ‑ auch nach der Rechtsprechung des EGMR ‑ vorzunehmenden Abwägung der Interessen aller Beteiligten komme dem Kindeswohl Priorität zu; maßgeblich sei die Eingewöhnung der Kinder in Österreich, ebenso die Schwierigkeiten der Mutter bei einer begleiteten Rückführung nach Frankreich. Da eine Rückführung nicht automatisch oder mechanisch angeordnet werden dürfe, sobald das HKÜ Anwendung findet, müsse Art 13 HKÜ in Übereinstimmung mit Art 8 EMRK interpretiert werden. Ein Herausreißen der Kinder entspreche nicht deren Wohl, weshalb die Durchsetzung der Rückführungsanordnung abzulehnen sei.

Rechtliche Beurteilung

Der Revisionsrekurs ist zulässig; er ist auch berechtigt.

1. Der erkennende Senat hat bereits mehrfach und nachdrücklich darauf hingewiesen, dass Art 11 Abs 3 Brüssel IIa-VO die ausdrückliche Anordnung enthält, das Gericht, bei dem die Rückgabe eines Kindes beantragt wird, habe sich mit gebotener Eile mit dem Antrag zu befassen und dabei der zügigsten Verfahren des nationalen Rechts zu bedienen; Art 11 HKÜ verlangt ein Handeln der Behörden des Zufluchtsstaats mit der gebotenen Eile; diese Beschleunigungsgebote gelten auch für das Vollstreckungsverfahren, wobei Verstöße dagegen unter Umständen Art 6 und 8 EMRK verletzen können; in Österreich sind diese Vorgaben internationalen Rechts mit dem Außerstreitgesetz umgesetzt, das die sinngemäße Anwendung der Bestimmungen seines 7. Abschnitts (§§ 104 bis 110) auch auf Verfahren nach dem HKÜ anordnet (6 Ob 75/13t iFamZ 2013/120 [Fucik]; 6 Ob 86/13k).

Es widerspricht dabei auch dem Beschleunigungsgebot, die Rückführung dadurch zu verzögern oder möglicherweise letztlich zu verhindern, dass über von den Parteien gestellte Anträge nicht (6 Ob 86/13k) oder nur verspätet (hier vergingen allein zwischen der Beschlussfassung erster Instanz und der Vorlage des Aktes an den Obersten Gerichtshof elf Monate) entschieden wird. Dass es ‑ wie das Rekursgericht hier der Mutter von dieser unwidersprochen vorwirft ‑ zur Verzögerung des Rückführungsverfahrens durch das Verhalten des entführenden Elternteils gekommen ist, ändert nichts an der Verpflichtung der beteiligten Behörden, insbesondere der Gerichte des Zufluchtsstaats, für eine rasche und zielführende Umsetzung der internationalen Verpflichtungen Österreichs Sorge zu tragen.

2. Nach § 110 Abs 1 AußStrG ist zwar eine Vollstreckung nach der Exekutionsordnung zur zwangsweisen Durchsetzung einer Rückführungsentscheidung nach dem HKÜ beziehungsweise nach Art 10, 11 Brüssel IIa‑VO ausgeschlossen. Das Gericht hat aber nach Abs 2 angemessene Zwangsmittel nach § 79 Abs 2 AußStrG anzuordnen (zur konkreten Vorgangsweise näher 4 Ob 58/10y EF-Z 2010/166), wobei die Einleitung des Vollstreckungsverfahrens auch von Amts wegen erfolgen kann (6 Ob 75/13t).

2.1. Dabei kann nach ständiger Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs auf das Kindeswohl bei Vollzugsmaßnahmen nach § 110 AußStrG nur dann Bedacht genommen werden, wenn zwischen der Anordnung der Rückführung und den Vollstreckungsmaßnahmen eine Änderung der Verhältnisse eingetreten ist (1 Ob 194/10a [ergangen in diesem Verfahren]; RIS-Justiz RS0106454; zuletzt 6 Ob 86/13k); auch in der ebenfalls in diesem Verfahren ergangenen Entscheidung 1 Ob 178/10y (EvBl 2011/37 [Posani]) wurde klargestellt, dass die Fortsetzung des Vollstreckungsverfahrens davon abhängt, ob infolge der seit Ergehen der Rückführungsentscheidung eingetretenen Entwicklungen das Kindeswohl gefährdet wäre.

Dass nach dem gemäß § 111a AußStrG auch in Rückführungs‑(vollstreckungs‑)verfahren anzuwendenden § 110 Abs 3 AußStrG das Gericht ganz allgemein von der Fortsetzung der Vollstreckung absehen kann, ohne dass es auf Änderungen seit der Titelentscheidung ankäme (vgl Deixler‑Hübner in Rechberger, AußStrG² [2013] § 110 Rz 3), steht der zu Rückführungsentscheidungen ergangenen Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs jedenfalls im Anwendungsbereich der Art 10, 11 Brüssel IIa-VO nicht entgegen. Auch der Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) geht (im Zusammenhang mit Art 11 Abs 8 Brüssel IIa‑VO) von einer „erhebliche[n] Änderung der das Wohl des Kindes betreffenden Umstände“ aus, „die gegebenenfalls zur Änderung der Entscheidung des zuständigen Gerichts über die Rückgabe des Kindes führen kann“ (C-211/10 P PU [Povse/Alpago] iFamZ 2010/212 [Fucik]).

Anhaltspunkte für die von den Vorinstanzen und von der Mutter vertretene Auffassung, geänderte Verhältnisse im Sinn der dargestellten Rechtsprechung könnten auch solche sein, die zwar vor Anordnung der Rückführung entstanden, erst danach jedoch erkannt worden seien, finden sich weder in der Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs noch in jener des EuGH.

2.2. Einer endgültigen Klärung dieser Frage bedarf es im vorliegenden Fall jedoch nicht, ist doch eine „seit Ergehen der Rückführungsentscheidung eingetretene Entwicklung“ (1 Ob 178/10y [ergangen in diesem Verfahren]) auch der von den Vorinstanzen festgestellte Umstand der Eingewöhnung der Kinder in Österreich und deren Stabilisierung seit Jänner 2009 (Mutter als alleinige Bezugsperson, Kindergartenbesuch, Psychotherapie). Dieser Umstand ist aber zum weitaus größeren Teil nach der Rückführungsanordnung im Oktober 2009 eingetreten, sind doch seit damals knapp vier Jahre vergangen.

Auch wenn der Ausnahmetatbestand des Art 13 Abs 1 lit b HKÜ eng auszulegen und auf „besondere Sachverhalte“ zu beschränken ist, berücksichtigungswürdige drohende Nachteile über die zwangsläufigen Folgen eines erneuten Aufenthaltswechsels hinausgehen müssen, weil sonst das Ziel des HKÜ nicht greifen würde, und eine gelungene Integrierung der Kinder in der neuen Umgebung eine Rückführung grundsätzlich nur dann ausschließen kann, wenn der Rückführungsantrag mehr als ein Jahr nach dem Verbringen des Kindes gestellt worden wäre (1 Ob 176/09b [ergangen in diesem Verfahren]), sind hier doch die besonderen Umstände des Falles zu beachten. Ähnlich dem der Entscheidung 6 Ob 242/09w (iFamZ 2010/82) zugrunde liegenden Sachverhalt ist ‑ zumindest derzeit ‑ eine gemeinsame Rückkehr der Kinder mit der Mutter nicht möglich, eine Trennung der Kinder von der Mutter würde jedoch ihre psychische Gesundheit erheblich gefährden, allenfalls sogar zu einer Retraumatisierung führen; dazu kommt, dass aufgrund der im Ursprungsstaat bestehenden Rechtslage Obsorge und Aufenthaltsbestimmungsrecht dem Vater zukommen. Angesichts dieser ‑ von den Vorinstanzen festgestellten ‑ Situation ist von einer wirklich schweren Gefährdung (RIS-Justiz RS0074568 [T8, T12]) des Wohles der beiden Kinder auszugehen, weshalb eine weitere, vorbehaltlose Durchsetzung der Rückführungsanordnung nicht in Betracht kommt.

3.1. Im Unterschied zu dem der Entscheidung 6 Ob 242/09w zugrunde liegenden Sachverhalt geht es hier jedoch um eine Kindesentführung im Verhältnis zwischen zwei EU‑Mitgliedstaaten. Damit sind aber auch die Bestimmungen der Brüssel IIa-VO anzuwenden, aufgrund deren Art 11 Abs 4 eine Rückgabe nicht abgelehnt werden kann, wenn nachgewiesen wird, dass im Rückkehrstaat angemessene Vorkehrungen getroffen wurden, um den Schutz des Kindes zu gewährleisten und ihm dabei insbesondere den Kontakt zu allen Sorge- und Umgangsberechtigten zu ermöglichen (RIS-Justiz RS0125368). Beabsichtigt daher das Gericht des Zufluchtsstaats, den Rückführungsantrag abzuweisen oder eine Rückführungsanordnung nicht durchzusetzen, weil es eine Gefährdung des Kindeswohls im Sinne des Art 13 lit b HKÜ befürchtet, muss es vorher sichergehen, dass keine geeigneten Vorkehrungen getroffen werden können, die den Schutz des Kindes nach seiner Rückkehr gewährleisten; andernfalls läge eine schwerwiegende Gefährdung nicht vor (6 Ob 86/13k). Dabei haben die Gerichte von Amts wegen vorzugehen (vgl Kaller-Pröll in Fasching/Konecny, ZPO² Bd V/2 [2010] Art 11 EuEheKindVO Rz 13 [„Kreativität der beteiligten Behörden“]) und können sich nicht darauf beschränken, entsprechende Vorschläge jenes Elternteils abzuwarten, in dessen Mitobsorgerechte eingegriffen wurde.

3.2. Die vom Erstgericht in diesem Sinn bislang vorgenommenen Maßnahmen erscheinen dem erkennenden Senat nicht als ausreichend. Es ist nämlich Aufgabe auch der Gerichte des Zufluchtsstaats, durch zielführende, das Kindeswohl wahrende Maßnahmen eine Rückführung des tatsächlichen Entführungsopfers, nämlich des Kindes, in den Ursprungsstaat zu ermöglichen:

3.2.1. Nach den Feststellungen der Vorinstanzen bietet sich in Frankreich die Möglichkeit der Unterbringung der Kinder in einer Kinderschutzeinrichtung an. Dem steht allerdings schon einmal grundsätzlich die aufrechte französische einstweilige Verfügung entgegen, wonach der Aufenthaltsort der Kinder in Frankreich beim Vater zu sein hat. Diesbezüglich liegt es an diesem, durch entsprechende Antragstellungen in Frankreich dafür Sorge zu tragen, dass eine Unterbringung der Kinder in einer Kinderschutzeinrichtung tatsächlich rechtlich möglich ist.

3.2.2. Von den französischen Behörden werden konkrete Stellungnahmen dahin einzuholen sein, um welche Art von Kinderschutzeinrichtungen es konkret geht, ob es dort tatsächlich möglich ist, die Kinder zusammen mit einem Erwachsenen unterzubringen, und ob tatsächlich Plätze für die Kinder im räumlichen Umfeld des Vaters verfügbar sind; diese Maßnahme kann ja nur dann Sinn machen, wenn es während des Aufenthalts der Kinder in dieser Einrichtung zur Anbahnung von Kontakten zwischen ihnen und dem Vater kommt.

3.2.3. Das Haupthindernis in der Rückführung der Kinder nach Frankreich besteht im aufrechten französischen Haftbefehl gegen die Mutter. Auch diesbezüglich wird ‑ allenfalls unter Miteinbeziehung des Vaters, der offensichtlich unter der von ihm erstatteten Strafanzeige das aktuelle Rückführungshindernis geschaffen hat ‑ zu erurieren sein, ob und wie dieses Hindernis allenfalls beseitigt werden kann (vgl Kaller-Pröll aaO Rz 14).

Lediglich der Vollständigkeit halber ist in diesem Zusammenhang aber auch darauf hinzuweisen, dass der Oberste Gerichtshof bereits mehrmals ausgeführt hat, es komme nicht darauf an, ob dem Entführer im Ursprungsstaat eine Verurteilung wegen Kindesentführung und allenfalls eine Haftstrafe drohen; würde dies nämlich allein ein Rückführungshindernis darstellen, könnte das HKÜ im Verhältnis zu Ländern, die Freiheitsstrafen für derartige Entführungsfälle vorsehen, überhaupt nie zur Anwendung kommen (3 Ob 210/05m; 1 Ob 182/08h iFamZ 2009/51 [Fucik]).

3.2.4. Die Vorinstanzen haben unterstellt, dass die mütterliche Großmutter nicht dazu gezwungen werden könnte, gemeinsam mit den Kindern nach Frankreich zurückzureisen, diese dort zu betreuen und/oder allenfalls mit ihnen die Kinderschutzeinrichtung zu beziehen. Weder den Feststellungen noch dem Akteninhalt kann jedoch entnommen werden, ob die mütterliche Großmutter nicht ohnehin freiwillig bereit wäre, im Sinn des Wohles ihrer Enkelkinder konstruktiv an einer Lösung der bestehenden tatsächlichen und rechtlichen Probleme mitzuwirken.

3.3. Das Erstgericht wird daher im beschleunigt fortzusetzenden Verfahren die aufgezeigten Fragen zu erörtern und jedenfalls die entsprechenden Maßnahmen in die Wege zu leiten haben; der unter 3.2. dargestellte Maßnahmenkatalog ist dabei keineswegs als abschließend zu verstehen.

4. Die von der Sachverständigen im Verfahren erster Instanz geäußerte Überlegung, dem Vater ein begleitetes Kontaktrecht in Österreich zur Wiederherstellung einer Beziehung zwischen ihm und den Kindern einzuräumen, widerspricht der Rechtslage. Der erkennende Senat hat erst jüngst klargestellt, dass Art 11 Abs 4 Brüssel IIa‑VO Maßnahmen meint, mit denen die Rückgabe an zuvor zu erfüllende Bedingungen geknüpft beziehungsweise der Antragsteller zu bestimmten Handlungen verpflichtet wird, oder eine Kontaktaufnahme des Gerichts des Zufluchtsstaats mit den ausländischen Behörden zu verstehen ist, um die Rahmenbedingungen günstig zu beeinflussen (6 Ob 86/13k; bereits zuvor 1 Ob 176/09b). Die Vorbereitung der Rückführung durch Anbahnung eines Kontakts zwischen dem die Rückführung anstrebenden Elternteil und entführtem Kind im Zufluchtsstaat gehört jedoch nicht dazu; dies fällt in die Zuständigkeit der Behörden jenes Staats, aus dem das Kind entführt wurde (6 Ob 86/13k; ebenso Rauscher in Rauscher, EuZPR/EuIPR [2010] Art 11 Brüssel IIa‑VO Rz 24). Andernfalls würden die dem HKÜ und Art 10, 11 Brüssel IIa‑VO immanenten Ziele einer raschen Rückführung des Kindes in den Staat, aus dem es entführt wurde, völlig unterlaufen (6 Ob 86/13k) und käme es ‑ wie auch der vorliegende Fall schon bisher zeigt ‑ durch eine monate- oder gar jahrelange begleitete Kontaktausübung zu einer weiteren Versteinerung der Situation („Eingewöhnung“) der entführten Kinder im Zufluchtsstaat. Abgesehen davon, dass eine derartige Kontaktausübung im Zufluchtsstaat für jenen Elternteil, in dessen Mitobsorge eingegriffen wurde, regelmäßig nur schwer umsetzbar sein wird, während der Entführer ja die nunmehrige Situation geschaffen hat und deshalb dahin anzuspannen ist, diese unter Hinnahme allfälliger eigener Nachteile (Rückkehr in den Ursprungsstaat) zum Wohl des Kindes und im Sinn rechtsgetrauen Verhaltens wieder zu bereinigen (Gitschthaler in Schwimann/Kodek, ABGB4 [2012] § 146b Rz 18).

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