OGH 10ObS85/21d

OGH10ObS85/21d19.10.2021

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits‑ und Sozialrechtssachen durch den Vizepräsidenten Univ.‑Prof. Dr. Neumayr als Vorsitzenden, die Hofrätinnen Dr. Fichtenau und Dr. Faber sowie die fachkundigen Laienrichter Mag. Martin Lotz (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Gerald Fida (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Parteien 1. Mag. Dr. V* und 2. H*, beide *, vertreten durch Dr. Hanspeter Feix und Dr. Renate Palma, Rechtsanwälte in Innsbruck, gegen die beklagte Partei Sozialversicherungsanstalt der Selbständigen, 1051 Wien, Wiedner Hauptstraße 84–86, vertreten durch Dr. Eva‑Maria Bachmann‑Lang und Dr. Christian Bachmann, Rechtsanwälte in Wien, wegen Kinderbetreuungsgeld, über die außerordentliche Revision der klagenden Parteien gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Innsbruck als Berufungsgericht in Arbeits‑ und Sozialrechtssachen vom 25. März 2021, GZ 23 Rs 7/21 g‑21, mit dem das Urteil des Landesgerichts Innsbruck als Arbeits‑ und Sozialgericht vom 30. September 2020, GZ 43 Cgs 64/20s, 43 Cgs 66/20k‑16, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2021:E133372

Rechtsgebiet: Zivilrecht

 

Spruch:

 

Der Revision wird Folge gegeben.

Die Urteile der Vorinstanzen werden dahin abgeändert, dass die Entscheidung lautet:

„Es wird festgestellt, dass sich der Anspruch der Erstklägerin und des Zweitklägers auf Kinderbetreuungsgeld für das Kind I*, geboren am 16. 12. 2019, nicht um 1.300 EUR für jeden Elternteil reduziert.

Die beklagte Partei ist schuldig, den Klägern die mit 1.412,69 EUR (darin enthalten 235,45 EUR USt) bestimmten Kosten des Verfahrens erster Instanz und die mit 670,39 EUR (darin enthalten 111,73 EUR USt) bestimmten Kosten des Berufungsverfahrens binnen 14 Tagen zu ersetzen.“

Die beklagte Partei ist schuldig, den klagenden Parteien die mit 460,40 EUR bestimmten Kosten des Revisionsverfahrens (darin enthalten 76,73 EUR USt) binnen 14 Tagen zu ersetzen.

 

Entscheidungsgründe:

[1] Gegenstand des Verfahrens ist die Frage, ob die Kläger die verspätete – nicht in der 17., 18., 19. oder 20. Schwangerschaftswoche erfolgte – Durchführung der zweiten Mutter‑Kind‑Pass‑Untersuchung während der Schwangerschaft zu vertreten haben.

[2] Die Kläger sind die Eltern der am 16. 12. 2019 geborenen Tochter I*. Der errechnete Geburtstermin für das Kind war der 15. 12. 2019. Die 17. Schwangerschaftswoche begann am 1. 7. 2019, die 20. Schwangerschaftswoche endete am 28. 7. 2019.

[3] Die Erstklägerin wurde am 28. 6. 2019 bei einem spontanen, aufgrund von Beschwerden ausgemachten Termin von ihrer Gynäkologin untersucht. Über Initiative der Gynäkologin wurde nach dieser Untersuchung ein bereits für den 9. 7. 2019 fixierter Untersuchungstermin storniert, weil die Gynäkologin meinte, ein derart kurzfristiger Temin rund zwei Wochen später sei aus medizinischer Sicht nicht notwendig. Die Erstklägerin erhob dagegen keinen Einwand. Die Kläger rechneten die Fristen für die Mutter‑Kind‑Pass‑Untersuchungen nicht nach.

[4] Am 22. 7. 2019 suchte die Erstklägerin die Praxis ihrer Gynäkologin auf, wo die im Mutter‑Kind‑Pass vorgesehene Hebammenberatung stattfand.

[5] Am 24. 7. 2019 unterzog sich die Erstklägerin einer internen Untersuchung bei einem Facharzt für Innere Medizin.

[6] Am 9. 8. 2019 suchte sie das nächste Mal ihre Gynäkologin auf. Dabei wurden näher festgestellte Untersuchungen durchgeführt. Der Termin wurde von der Gynäkologin als Wahlärztin gegenüber der Beklagten als „zweite Untersuchung der Schwangeren zwischen der 17. und der 20. Schwangerschaftswoche“ verrechnet. Die Beklagte leistete dafür eine Vergütung unter der Bezeichnung „zweite Untersuchung der Schwangeren in der 17. bis 20. SSW“. Die Untersuchung wurde im Mutter‑Kind‑Pass mit dem Datum 9. 8. 2019 und dem Stempel der Gynäkologin als zweite Untersuchung der Mutter eingetragen.

[7] Die Kläger hatten bei der Antragstellung zum Kinderbetreuungsgeld ein Informationsblatt erhalten, in dem auf die Möglichkeit der Kürzung des Kinderbetreuungsgeldes bei Nichteinhaltung der Untersuchungszeiträume hingewiesen wurde.

[8] Mit Bescheiden vom 2. 4. 2020 sprach die beklagte Sozialversicherungsanstalt der Selbständigen gegenüber beiden Klägern aus, dass sich ihr jeweiliger Anspruch auf Kinderbetreuungsgeld um 1.300 EUR reduziere, weil der Nachweis der vorgeschriebenen Mutter‑Kind‑Pass‑Untersuchungen während der Schwangerschaft fehle. Der Betrag von 1.300 EUR wurde in der Folge bei beiden Klägern vom Kinderbetreuungsgeld einbehalten.

[9] Dagegen richten sich die von den Klägern erhobenen Klagen, mit denen sie die Feststellung begehren, der Beklagten stehe kein Recht auf Kürzung des Kinderbetreuungsgeldes zu.

[10] Das Erstgericht wies die Klagebegehren – nach Verbindung der Verfahren zur gemeinsamen Verhandlung und Entscheidung – ab.

[11] Das Berufungsgericht bestätigte diese Entscheidung und ließ die Revision nicht zu, weil sich die Entscheidung auf die höchstgerichtliche Rechtsprechung stütze. Rechtlich führte es aus, Ausnahmen von der Kürzungsregel seien nur in Fällen zuzulassen, in denen die Fristversäumnis gänzlich außerhalb der Einflusssphäre der Eltern liege; das sei hier nicht der Fall.

[12] Dagegen richtet sich die außerordentliche Revision der Kläger mit dem Antrag auf Abänderung im Sinn einer Klagestattgebung; hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.

[13] Die Beklagte beantragt in der ihr freigestellten Revisionsbeantwortung, die außerordentliche Revision zurückzuweisen, hilfsweise, ihr nicht Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

[14] Die Revision ist zulässig, weil die Beurteilung des Berufungsgerichts korrekturbedürftig ist. Sie ist auch berechtigt.

[15] Nach § 3 Abs 3 Mutter‑Kind‑Pass‑Verordnung 2002 (MuKiPassV, BGBl II 2001/470 idF BGBl II 2013/420) ist die zweite Untersuchung der Schwangeren in der 17., 18., 19. oder 20. Schwangerschafts‑woche vorzunehmen. Sie hat eine interne Untersuchung einzuschließen.

[16] Gemäß § 7 Abs 2 Z 1 KBGG besteht der Anspruch auf Kinderbetreuungsgeld in voller Höhe nur, sofern die fünf Untersuchungen während der Schwangerschaft und die erste Untersuchung des Kindes nach der MuKiPassV vorgenommen und bei der Beantragung des Kinder‑betreuungsgeldes durch Vorlage der entsprechenden Untersuchungsbestätigungen nachgewiesen werden.

[17] Werden die im § 7 Abs 2 KBGG vorgesehenen Mutter-Kind-Pass-Untersuchungen nicht bis zu den vorgesehenen Zeitpunkten nachgewiesen, so reduziert sich der Anspruch auf Kinderbetreuungsgeld für jeden Elternteil um 1.300 EUR (§ 3 Abs 4 KBGG).

[18] § 7 Abs 3 KBGG sieht Ausnahmen von dieser Kürzungsregel vor: Nach § 7 Abs 3 KBGG besteht ungeachtet dessen Anspruch auf Kinderbetreuungsgeld in voller Höhe, wenn (Z 1:) die Vornahme oder der Nachweis der Untersuchungen nur aus Gründen, die nicht von den Eltern zu vertreten sind, unterbleibt oder (Z 2:) die jeweiligen Nachweise bis spätestens zur Vollendung des 18. Lebensmonats des Kindes nachgebracht werden.

[19] Für die Beurteilung, ob die nicht rechtzeitige Vornahme oder der nicht rechtzeitige Nachweis der Untersuchungen von den Eltern zu vertreten sind, kommt es darauf an, ob den Eltern ein rechtlich relevanter Vorwurf gemacht werden kann (10 ObS 88/16p SSV‑NF 30/53; 10 ObS 2/21y; 10 ObS 33/21g ua). Nach der Rechtsprechung reicht die mangelnde Kenntnis von der Nachweispflicht (10 ObS 33/21g) oder das bloße Übersehen der Verpflichtung zur Vornahme oder zur Erbringung eines rechtzeitigen Nachweises einer Mutter‑Kind‑Pass‑Untersuchung nicht aus, um einen nicht von den Eltern zu vertretenden Grund annehmen zu können (10 ObS 157/14g SSV‑NF 29/31), ebenso wenig das allgemeine Ansteckungsrisiko während einer Grippewelle im Warteraum eines Kinderfacharztes als Grund für eine verspätete Vornahme der Untersuchung (10 ObS 45/15p SSV‑NF 29/27; 10 ObS 26/16w SSV‑NF 30/35). Hingegen billigte der Oberste Gerichtshof jüngst die Rechtsansicht, die wegen der Erkrankung des Kindes vom Kinderarzt vorgenommene Verschiebung des ursprünglich innerhalb der dafür vorgesehenen Frist angesetzten Untersuchungstermins über den von § 7 Abs 6 MuKiPassV vorgeschriebenen Untersuchungszeitraum hinaus sei von der Mutter nicht zu vertreten (10 ObS 15/20h; vgl die zu RIS‑Justiz RS0130213 indizierten Entscheidungen).

[20] Auch im hier zu beurteilenden Fall hatte die Mutter für die Durchführung der zweiten Mutter‑Kind‑Pass‑Untersuchung während der Schwangerschaft einen innerhalb des Untersuchungszeitraums des § 3 Abs 3 MuKiPassV liegenden Untersuchungstermin bei ihrer Gynäkologin vereinbart, der aufgrund medizinischer Erwägungen von der behandelnden Ärztin storniert und auf einen wenige Tage nach dem Untersuchungszeitraum liegenden Termin verschoben wurde. Die nach § 3 Abs 3 MuKiPassV im Zuge der zweiten Untersuchung der Schwangeren vorzunehmende interne Untersuchung wurde bei einem Facharzt für Innere Medizin innerhalb des Untersuchungszeitraums durchgeführt.

[21] Der Klägerin kann daher nur der Vorwurf gemacht werden, nach der von der behandelnden Gynäkologin initiierten Verschiebung des (ursprünglich innerhalb des vorgeschriebenen Zeitraums liegenden) Untersuchungstermins die Einhaltung der Fristen für die Mutter‑Kind‑Pass‑Untersuchung nicht gesondert nachgerechnet zu haben. Zieht man ergänzend in Betracht, dass Grund für die – von der Ärztin ausgehende – Terminverschiebung eine aufgrund von Beschwerden der Mutter nur drei Tage vor Beginn des relevanten Untersuchungszeitraums durchgeführte Unter‑suchung war, trifft die Eltern an der Versäumung der Untersuchungsfrist im vorliegenden Fall kein rechtlich relevanter Vorwurf.

[22] Der Revision ist daher Folge zu geben.

[23] Die Kostenentscheidung beruht auf § 77 Abs 1 Z 2 lit a ASGG. Bei Rechtsstreitigkeiten, die die Pflicht des Klägers zum Rückersatz einer Versicherungsleistung zum Gegenstand haben, ist für die Kostenberechnung von einem Streitwert in Höhe des Rückersatzanspruchs auszugehen (RS0085754 [T3]; vgl Neumayr in ZellKomm zum Arbeitsrecht³ [2018] § 77 ASGG Rz 16). Entsprechend den von der Beklagten erhobenen Einwendungen gemäß § 54 Abs 1a ZPO ist daher für die – sämtlich erst nach der Verfahrensverbindung entstandenen – Vertretungskosten der Kläger ein Streitwert von 2.600 EUR zugrunde zu legen. Dieser Streitwert ist auch den Kosten der Rechtsmittelverfahren zugrunde zu legen. Die Zeugenbekanntgabe vom 10. 6. 2020 ist nur nach TP 1.I. lit a RATG zu honorieren. Der Schriftsatz vom 23. 8. 2020 diente nicht der zweckentsprechenden Rechtsverfolgung iSd § 41 Abs 1 ZPO, weil die Kläger das darin enthaltene Vorbringen, soweit es sich nicht ohnehin um Wiederholungen handelte, auch in der mündlichen Streitverhandlung am 30. 9. 2020 erstatten hätten können.

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