European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2021:E132979
Rechtsgebiet: Zivilrecht
Spruch:
Dem Rekurs wird Folge gegeben.
Der angefochtene Beschluss wird aufgehoben und in der Sache selbst dahin zu Recht erkannt, dass das Ersturteil wie folgt zu lauten hat:
„1. Das Klagebegehren, die beklagte Partei sei schuldig, der klagenden Partei 25.000 EUR zuzüglich 4 % Zinsen seit 23. 1. 2019 binnen 14 Tagen zu zahlen, wird abgewiesen.
2. Die klagende Partei ist schuldig, der beklagten Partei die mit 7.738,74 EUR (darin enthalten 1.282,22 EUR an USt und 45,40 EUR an Barauslagen) bestimmten Kosten des Verfahrens binnen 14 Tagen zu ersetzen.“
Die klagende Partei ist schuldig, der beklagten Partei die mit 6.602,90 EUR (darin enthalten 655,65 EUR an USt und 2.669 EUR an Barauslagen) bestimmten Kosten des Rechtsmittelverfahrens binnen 14 Tagen zu ersetzen.
Entscheidungsgründe:
[1] Zum Unfallszeitpunkt bestand zwischen der R* und der Rechtsvorgängerin der Beklagten ein Versicherungsvertrag aus der Sparte der privaten Unfallversicherung. Der Kläger war als Kontoinhaber eines Jugend‑/Studentenkontos mitversicherte Person. Die Höchstleistung bei 100 % Invalidität beträgt 25.000 EUR. Diesem Versicherungsvertrag liegen die Allgemeinen Unfallbedingungen 2015 (AUVB) zugrunde. Diese lauten auszugsweise:
„ Art 2
Was gilt als Versicherungsfall?
Versicherungsfall ist der Eintritt eines Unfalls (Art 6 Was ist ein Unfall?)
[...]
Art 6
Was ist ein Unfall?
1. Ein Unfall liegt vor, wenn die versicherte Person durch ein plötzlich von außen auf ihren Körper wirkendes Ereignis (Unfallereignis) unfreiwillig eine Gesundheitsschädigung erleidet.
[...]
Artikel 19
Was ist vor Eintritt des Versicherungsfalls zu beachten?
1. Obliegenheiten vor Eintritt des Versicherungsfalls
Als Obliegenheit, deren Verletzung unsere Leistungsfreiheit gemäß den Voraussetzungen und Begrenzungen des § 6 Abs 2 VersVG (siehe Anhang) bewirkt, wird bestimmt, dass die versicherte Person als Lenker eines Kraftfahrzeugs die jeweilige kraftfahrrechtliche Berechtigung, die zum Lenken dieses oder eines typengleichen Kraftfahrzeugs erforderlich wäre, besitzt; dies gilt auch dann, wenn das Fahrzeug nicht auf Straßen mit öffentlichem Verkehr gelenkt wird.
[...]
Artikel 22
Wem steht die Ausübung des Rechts aus dem Versicherungsvertrag zu, wer hat die Pflichten aus dem Versicherungsvertrag zu erfüllen?
[...]
2. Alle für Sie getroffenen Bestimmungen gelten sinngemäß auch für die versicherten Personen und jene Personen, die Ansprüche aus dem Versicherungsvertrag geltend machen. Diese Personen sind neben Ihnen für die Erfüllung der Obliegenheiten, der Schadenminderungs‑ und Rettungspflicht verantwortlich.“
[2] Am 20. 7. 2018 ereignete sich auf der F* Straße im Ortsgebiet von L* ein Verkehrsunfall, an dem ein PKW, ein Sattelzugfahrzeug und der Kläger als Lenker eines Motorrads beteiligt waren. Der Kläger setzte zum Überholen des vor ihm fahrenden PKW und des Sattelfahrzeugs an. Bei Durchführung dieses Überholvorgangs hatte er den Vorderreifen seines Motorrads gehoben und führte den Überholvorgang größtenteils nur am Hinterrad fahrend durch („Wheelie“). Während des Überholvorgangs kam es zumFrontalzusammenstoß zwischen dem Kläger und dem nach rechts in die bevorrangte F* Straße einbiegenden PKW. Dadurch wurde der Kläger von seinem Motorrad unter das Sattelzugfahrzeug geschleudert. Er erlitt dabei schwerste Verletzungen, die zu einer 100 % Invalidität führten.
[3] Am 22. 6. 2018 hatte der Kläger die Lenkerberechtigung lediglich für die Klasse A2 erworben. Am Vergaser des vom Kläger gefahrenen Motorrads war zum Zeitpunkt des Unfalls keine Drossel verbaut, sodassesdie Leistung laut Typisierung vom 18. 6. 2018 von 25 kW nicht (mehr) aufwies. Unverdrosselt hatte das Motorrad des Klägers am Unfalltag eine Motorleistung von 40 kW, was eine Lenkerberechtigung der Klasse A erfordert hätte. Damit war der Kläger nicht berechtigt, dieses Motorrad zu lenken.
[4] Bereits im Alter von vier Jahren begann der Kläger mit dem Motocrossfahren im Gelände, zumindest seit seinem achten Lebensjahr fuhr er regelmäßig auch nur auf dem Hinterrad. Zum Unfallzeitpunkt verfügte er über große Geschicklichkeit und Übungim „Wheelie-Fahren“. Es wäre ihm daher – auch wenn das vorschriftsmäßig gedrosselte Motorrad für einen durchschnittlichen Fahrer schwerer als das Unfallfahrzeug in den „Wheelie-Fahrzustand“ zu bringen ist – gleichermaßen möglich gewesen, mit dem gedrosselten Motorrad einen „Wheelie“ zu fahren. Der Unfall des Klägers hätte sich mit einem Motorrad mit einer Leistung von 25 kW ebenso zugetragen, das Risiko des Unfalls erhöhte sich durch die höhere Motorleistung von 40 kW nicht gegenüber einer Motorleistung von 25 kW.
[5] Der Kläger begehrte aufgrund der bei ihm eingetretenen 100%igen Invalidität die Versicherungsleistung von 25.000 EUR. Er habe bei ausreichender Sicht und freier Gegenfahrbahn einen Überholvorgang eingeleitet. Die Lenkerin des PKW sei dann aus dem benachrangten K*weg in die bevorrangte F* Straße eingebogen und habe dabei den Kläger auf seinem Motorrad übersehen. Der Kläger habe keine Obliegenheitsverletzung zu verantworten, weil sein Motorrad aufgrund eines Glasdrehgriffbegrenzers lediglich eine Leistung von 31 kW gehabt habe. Mit seiner Lenkerberechtigung dürfe er ein solches Fahrzeug lenken. Selbst wenn er eine Obliegenheitsverletzung begangen haben sollte, habe sich diese nicht ausgewirkt. Wegen seiner besonderen Geschicklichkeit und seiner Fähigkeiten sei es dem Kläger möglich gewesen, mit jedem Motorrad lediglich auf dem Hinterrad zu fahren.
[6] Die Beklagte beantragte die Abweisung des Klagebegehrens. Dem Kläger sei eine Obliegenheitsverletzung gemäß § 6 Abs 2 VersVG anzulasten. Er habe zum Unfallzeitpunkt keine Lenkerberechtigung für das von ihm gelenkte Fahrzeug gehabt. Er habe auch einen Fahrfehler begangen, weil er das Überholmanöver nur am Hinterrad fahrend durchgeführt habe. Der Kläger sei seit Erlangen des Führerscheins regelmäßig auf dem Hinterrad gefahren und ziehe das Vorderrad hoch („Wheelie“). Das sei eine Gesinnungsart, die der Kläger im öffentlichen Straßenverkehr an den Tag lege. Durch diese Art der Ausübung des Motorradfahrens habe der Kläger die Gefahr gegenüber dem normalen Motorradfahren erhöht.
[7] Das Erstgericht gab dem Klagebegehren statt. Zwar habe der Kläger keine Lenkerberechtigung für das von ihm gelenkte „schwere“ Motorrad gehabt. Für den Unfall sei aber ein Fahrfehler kausal gewesen, der schon seiner Art nach außerhalb jedes denkbaren Zusammenhangs mit dem erhöhten Risiko des Fehlens der Lenkerberechtigung stehe. Das Fahren allein auf dem Hinterreifen sei unfallkausal gewesen, allerdings nicht im Zusammenhang mit dem Risiko gestanden, dem die Führerscheinklausel entgegenwirken wolle. Der Kläger hätte diesen Fahrfehler mit jedem anderem vorschriftsmäßig gedrosselten Fahrzeug ebenso begangen.
[8] Das Berufungsgericht gab der dagegen von der Beklagten erhobenen Berufung Folge, hob das Ersturteil auf und verwies die Rechtssache zur Verfahrensergänzung und neuerlichen Entscheidung an das Erstgericht zurück. Es billigte die Rechtsansicht des Erstgerichts zum Vorliegen einer Obliegenheitsverletzung und zum gelungenen Kausalitätsgegenbeweis. Im Hinblick auf die von der Beklagten eingewandte Gefahrenerhöhung und Leistungsfreiheit nach den §§ 23, 25 VersVG lägen jedoch sekundäre Feststellungsmängel vor. Regelmäßiges „Wheelie- Fahren“ im Straßenverkehr könnte eine Gefahrenerhöhung begründen, die die Leistungsfreiheit der Beklagten zur Folge hätte.
[9] Das Berufungsgericht ließ den Rekurs an den Obersten Gerichtshof zu, weil dieser noch nicht zu beurteilen gehabt habe, ob ein derartiger Fahrfehler tatsächlich seiner Art nach außer jedem Zusammenhang mit dem durch das Fehlen einer Lenkerberechtigung für stärkere Motorräder erhöhten Risiko stehen könne.
[10] Dagegen richtet sich der Rekurs der Beklagten mit einem Abänderungsantrag.
[11] Der Kläger begehrt, dem Rekurs nicht Folge zu geben.
[12] Der Rekurs ist zulässig, er ist auch berechtigt.
Rechtliche Beurteilung
[13] 1.1 Die Beklagte gründet ihre Leistungsfreiheit auf die Verletzung der Obliegenheit nach Art 19.1 AUVB.
[14] 1.2 Gemäß § 6 Abs 2 VersVG kann sich der Versicherer bei der Verletzung einer Obliegenheit, die der Versicherungsnehmer zum Zweck der Verminderung der Gefahr oder der Verhütung einer Erhöhung der Gefahr dem Versicherer gegenüber – unabhängig von der Anwendbarkeit des Abs 1a – zu erfüllen hat, auf die vereinbarte Leistungsfreiheit nicht berufen, wenn die Verletzung keinen Einfluss auf den Eintritt des Versicherungsfalls oder soweit sie keinen Einfluss auf den Umfang der dem Versicherer obliegenden Leistung gehabt hat (vorbeugende Obliegenheit).
[15] 1.3 Abs 2 eröffnet dem Versicherungsnehmer somit im Unterschied zu den Obliegenheiten, die unter § 6 Abs 1 – und Abs 1a – VersVG fallen, einen Kausalitätsgegenbeweis (7 Ob 159/18k).
[16] 2. Der Versicherer muss daher die objektive Verletzung der Obliegenheit durch den Versicherungsnehmer (oder die Person, für die er haftet), der Versicherungsnehmer mangelndes Verschulden sowie die mangelnde Kausalität beweisen (RS0043728).
[17] 2.1 Art 19.1 AUVB sieht als vor Eintritt des Versicherungsfalls zu beachtende Obliegenheit vor, dass die versicherte Person als Lenker eines Kraftfahrzeugs die jeweilige kraftfahrrechtliche Berechtigung, die zum Lenken dieses oder eines typengleichen Kraftfahrzeugs erforderlich ist, besitzt, was auch dann gilt, wenn das Fahrzeug nicht auf Straßen mit öffentlichen Verkehr gelenkt wird.
[18] 2.2 Dass der Kläger diese Obliegenheit (vgl 7 Ob 159/18k zu Art 24.1 UB00 mwN) verletzte, indem er am Unfalltag das gegenständliche Motorrad lenkte, ohne über eine Lenkerberechtigung dafür zu verfügen, ist im Revisionsverfahren zutreffend nicht mehr strittig; fehlendes Verschulden hat der Kläger nicht dargetan.
[19] 3. Entgegen der Ansicht der Vorinstanzen ist dem Kläger auch der Kausalitätsgegenbeweis nicht gelungen:
[20] 3.1 Unter Kausalitätsgegenbeweis ist der Nachweis zu verstehen, dass die Obliegenheitsverletzung weder auf die Feststellung des Versicherungsfalls noch die Feststellung oder den Umfang der Leistungspflicht des Versicherers einen Einfluss gehabt hat (RS0116979). Der Versicherungsnehmer hat den Beweis der fehlenden Kausalität seiner Obliegenheitsverletzung „strikt“ zu führen. An diesen Beweis sind strenge Anforderungen zu stellen. Es ist nicht etwa nur die Unwahrscheinlichkeit des ursächlichen Zusammenhangs darzutun (RS0079993; RS0081313 [T18, T26]).
[21] 3.2 Nach der ständigen Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs kann der Kausalitätsgegenbeweis bei Fehlen der allgemeinen Lenkerberechtigung nicht durch den Nachweis des tatsächlichen Fahrkönnens ersetzt werden. Ebenso wenig ist der Nachweis zulässig, dass der Lenker vor dem Versicherungsfall eine Fahrprüfung bestanden hätte. Für den Fahrer ohne Lenkerberechtigung bleibt nur ein eingeschränkter Kausalitätsgegenbeweis in der Richtung, dass der Unfall durch keinerlei Fahrfehler, sondern durch ein technisches Gebrechen oder das ausschließliche Verschulden von Dritten verursacht wurde (7 Ob 19/93; 7 Ob 33/95; 7 Ob 36/95; 7 Ob 159/18k; vgl auch RS0081197). Beim Fehlen der allgemeinen Fahrerlaubnis ist die mangelnde Kausalität für einen Unfall kaum je anzunehmen, wenn der Unfall auf einem Fahrfehler beruht (RS0081124). Dabei ist jeder Fahrfehler, der mit der fehlenden Lenkerberechtigung im Zusammenhang stehen kann dem Lenker zuzurechnen. Höchstens der Nachweis eines solchen eigenen Fahrfehlers kann für den Kausalitätsgegenbeweis hinreichen, der schon seiner Art nach außerhalb jedes Zusammenhangs mit demerhöhten Risiko besteht. Der Nachweis aber, dass der Unfall einem anderen geprüften Lenker ebenso widerfahren könnte, genügt nicht; erforderlich ist vielmehr der Beweis dafür, dass der Versicherungsfall auch ohne die Verletzung der Obliegenheit mit Sicherheit eingetreten wäre, dass also der Eintritt und der Umfang des Versicherungsfalls nicht auf der erhöhten Gefahrenlage beruhen, die typischerweise durch die Obliegenheitsverletzung entsteht (7 Ob 19/93; 7 Ob 33/95; 7 Ob 36/95).
[22] 3.3.1 Der Kläger, der nur über eine Lenkerberechtigung für die Klasse A2 verfügte, (mit‑)verursachte im Zuge eines gegen die Verkehrsvorschriften (§ 102 Abs 3 vierter Satz KFG 1967) verstoßenden Fahrmanövers (vgl VwGH Ra 2020/11/0229 mwN) durch Fahren auf nur einem Hinterreifen („Wheelie“) während des Überholvorgangs den gegenständlichen Unfall mit einem Motorrad, für das er eine Lenkerberechtigung für die Klasse A benötigt hätte.
[23] 3.3.2 Wie ausgeführt genügt der Nachweis, dass ein bestimmter Fahrfehler auch einem anderen Fahrer mit Lenkerberechtigung unterlaufen kann, für den strengen Kausalitätsgegenbeweis nicht (7 Ob 36/95). Darauf, dass der Unfalllenker selbst mit Lenkerberechtigung denselben Fahrfehler begangen hätte, kann es daher gleichfalls nicht ankommen. Zu berücksichtigen ist weiters, dass das Fehlen der vom Gesetz geforderten erhöhten Eignung und Zuverlässigkeit jedenfalls einen Fahrfehler wie den vorliegenden begünstigen kann, womit er seiner Art nach nicht außerhalb jedes Zusammenhangs mit dem erhöhten Risiko des Fehlens der entsprechenden Lenkerberechtigung steht (SZ 50/114). Die Erteilung einer Lenkerberechtigung für die Klasse A setztden Besitz einer Lenkerberechtigung für die Klasse A2 seit zumindest zwei Jahren oder die Vollendung des 24. Lebensjahrs (§ 18a Abs 2 und 3 FSG idF BGBl I 15/2017) und damit implizit eine erhöhte Eignung und Zuverlässigkeit des Lenkers voraus. Der Kläger erfüllte diese Voraussetzungen nicht.
[24] 3.4 Der Kläger hat damit den Kausalitätsgegenbeweis nicht erbracht, dass die Obliegenheitsverletzung keinen Einfluss auf den Eintritt des Versicherungsfalls hatte. Die Beklagte ist daher leistungsfrei.
[25] 4. Der Oberste Gerichtshof kann gemäß § 519 Abs 2 letzter Satz ZPO über einen Rekurs gegen einen Beschluss des Berufungsgerichts nach § 519 Abs 1 Z 2 ZPO durch Urteil in der Sache selbst erkennen, wenn die Sache zur Entscheidung reif ist. Dem Rekurs der Beklagten ist daher Folge zu geben, der angefochtene Beschluss aufzuheben und in der Sache selbst im Sinn einer Klagsabweisung zu entscheiden.
[26] 5.1 Die Kostenentscheidung hinsichtlich der Kosten des erstgerichtlichen Verfahrens gründet auf § 41 ZPO. Zu den Einwendungen des Klägers nach § 54 Abs 1a ZPO ist auszuführen, dass der Schriftsatz vom 23. 11. 2020 nicht zu honorieren war, weil er nicht aufgetragen wurde und das – lediglich das Sachverständigengutachten kurz zusammenfassende – Vorbringen in der folgenden mündlichen Tagsatzung erstattet werden hätte können. Die Vertagungsbitte vom 21. 12. 2020 war ebenfalls nicht zu honorieren, weil diese in der Sphäre der Beklagten lag (RS0121621).
[27] 5.2 Die Kostenentscheidung hinsichtlich der Kosten des Rechtsmittelverfahrens gründen auf die §§ 41, 50 ZPO.
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