OGH 10ObS126/21h

OGH10ObS126/21h13.9.2021

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Vizepräsidenten Univ.‑Prof. Dr. Neumayr als Vorsitzenden, die Hofrätinnen Dr. Fichtenau und Dr. Grohmann sowie die fachkundigen Laienrichter Helmut Purker (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Mag. Werner Pletzenauer (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei S*, vertreten durch Dr. Karin Prutsch und Mag. Michael F. Damitner, Rechtsanwälte in Graz, gegen die beklagte Partei Allgemeine Unfallversicherungsanstalt, 1100 Wien, Wienerbergstraße 11, wegen Feststellung und Versehrtenrente, über die außerordentliche Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Graz als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 15. Juli 2021, GZ 7 Rs 34/21 f‑18, den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2021:E132935

Rechtsgebiet: Zivilrecht

 

Spruch:

Die außerordentliche Revision wird gemäß § 508a Abs 2 ZPO mangels der Voraussetzungen des § 502 Abs 1 ZPO zurückgewiesen.

 

Begründung:

[1] Der am 29. 1. 2001 geborene Kläger war als Schüler einer Höheren Teschnischen Bundeslehr- und Versuchsanstalt in der Zeit von 2. 2. 2020 bis 15. 2. 2020 im Rahmen eines work-placements-Aufenthalts (einer Schulveranstaltung im Sinn des § 13 Schulunterrichtsgesetz) mit weiteren Schülern seiner Schulklasse in K* (Irland), um die Sprachkenntnisse zu verbessern und um (in Form eines Projekts) in dort ansässigen Betrieben zu arbeiten. Der Kläger war bei Gasteltern untergebracht. Am letzten Abend suchte etwa die Hälfte bis zwei Drittel der Schüler im Rahmen ihrer Freizeit ein Pub auf, um die Reise ausklingen zu lassen. Der Pub-Besuch wurde nicht von den Lehrern organisiert. Weder die Lehrer noch die Gasteltern waren beim Treffen im Pub anwesend. Auf seinem zu Fuß vom Pub zu seiner Unterkunft bei den Gasteltern zurückgelegten Rückweg wurde der Kläger von einem PKW erfasst und schwer verletzt.

[2] Mit Bescheid vom 17. 11. 2020 lehnte die beklagte Allgemeine Unfallversicherungsanstalt die Anerkennung des Unfalls als Arbeitsunfall ab und sprach aus, dass kein Anspruch auf Leistungen aus der Unfallversicherung besteht.

[3] Die Vorinstanzen wiesen die Klage ab.

[4] Die außerordentliche Revision des Klägers ist wegen Fehlens einer Rechtsfrage von erheblicher Bedeutung iSd § 502 Abs 1 ZPO unzulässig.

Rechtliche Beurteilung

[5] 1.1 In der Schüler‑Unfallversicherung gelten Unfälle, die sich im örtlichen, zeitlichen und ursächlichen Zusammenhang mit der die Versicherung begründenden Schulausbildung ereignen, als Arbeitsunfälle (§ 175 Abs 4 ASVG).

[6] 1.2 Nach § 175 Abs 5 Z 1 ASVG gelten als Arbeitsunfälle auch Unfälle, die sich bei der Teilnahme an Schulveranstaltungen, schulbezogenen Veranstaltungen sowie individuellen Berufs‑(bildungs‑)orientierungen nach den §§ 13, 13a und 13b des Schulunterrichtsgesetzes ereignen.

[7] 2. In der Unfallversicherung der Schüler und Studenten (§ 175 Abs 4 und 5 ASVG) soll nach der Grundintention des Gesetzes jede Tätigkeit geschützt sein, die sich als Ausübung der Rolle des Schülers darstellt (10 ObS 106/15h SSV‑NF 29/62; RS0085063 [T1]; RS0085097 [T4]).

[8] 3. Bei Schulveranstaltungen erstreckt sich der Schutz nicht auf die gesamte Zeit der Schulveranstaltung. Daher ist zu prüfen, ob sich der Unfall bei einer Tätigkeit ereignet, die im örtlichen, zeitlichen und ursächlichen Zusammenhang mit der Schulveranstaltung steht (RS0085097). Die Tätigkeit muss einem vernünftigen Menschen als Ausübung der Ausbildung erscheinen (objektive Bedingung) und sie muss vom Handelnden in dieser Intention entfaltet werden (subjektive Bedingung; RS0084680).

[9] 3.1 Auch für die Abgrenzung des Schutzbereichs der Unfallversicherung bei Schülern ist entscheidend, ob die Gesamtumstände dafür sprechen, das unfallbringende Verhalten dem geschützten Bereich oder der Privatsphäre des Versicherten zurechnen (RS0084490).

[10] 3.2 Nach der Rechtsprechung des deutschen Bundessozialgerichts erfordert der organisatorische Verantwortungsbereich der Schule (auf den der Versicherungsschutz der gesetzlichen Unfallversicherung begrenzt ist) einen unmittelbaren räumlichen und zeitlichen Zusammenhang zum Schulbesuch, der grundsätzlich entfällt, wenn schulische Aufsichtsmaßnahmen nicht mehr gewährleistet sind (BSG B 2 U 8/16 R, NZS 2018 734 [Ziegler]).

[11] 4. Ob die von einem Schüler konkret verrichtete Tätigkeit vom rollenbezogenen Unfallversicherungsschutz umfasst ist, ist nach der Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs anhand der jeweiligen Umstände des Einzelfalls zu beurteilen (RS0085063 [T2]).

[12] 5.1 Das von den Vorinstanzen erzielte Ergebnis, der Kläger habe bei dem Pub-Besuch und bei dem zu Fuß angetretenen Heimweg zu den Gasteltern in der privaten (eigenwirtschaftlichen) Sphäre gehandelt, liegt innerhalb des Rahmens der Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs.

[13] 5.2 Der Pub-Besuch war kein „Programmpunkt“ des work-placements‑Aufenthalts. Es steht auch nicht fest. dass der Pub-Besuch dazu diente, die Kultur der einheimischen Bevölkerung näher kennenzulernen. Insofern gehen die Revisionsausführungen nicht vom festgestellten Sachverhalt aus.

[14] 6.1 Ungeachtet des privaten Charakters einer Verrichtung kann ein rechtlich wesentlicher innerer Zusammenhang mit der versicherten Tätigkeit dann gegeben sein, wenn gefahrbringende Umstände den Unfall wesentlich bedingt haben, die in ihrer besonderen Eigenart dem Beschäftigten am Wohn- oder Beschäftigungsort nicht begegnet wären (RS0084819 [T4]). Beispielhaft ist eine Entscheidung, in der es darum ging, dass eine Schülerin während eines Schulskikurses von einem Stockbett stürzte, das nicht gegen die Gefahr des Herabfallens gesichert war. Obwohl das Schlafen an sich nicht dem geschützten Bereich zuzurechnen ist, wurde ein qualifiziert ursächlicher Zusammenhang mit dem Schulunterricht angenommen, weil sich die Schülerin zwangsläufig und ohne ihr Zutun dem erhöhten Risiko aussetzen musste (10 ObS 41/91 SSV‑NF 5/13).

[15] 6.2 Die Ansicht der Vorinstanzen, im vorliegenden Fall sei kein ausbildungsbedingt erhöhtes Risiko gegeben, ist jedenfalls zu billigen. Der Kläger unternahm den Besuch des Pubs freiwillig und auf eigenen Wunsch. Aus dem Umstand, dass der Pub-Besuch und der daran anschließende zu Fuß zurückgelegte Rückweg zur Unterkunft im Rahmen des work-placements-Aufenthalts erfolgte, ergaben sich im Hinblick auf eine Unfallgefahr nicht zwangsläufig gefahrenerhöhende Momente.

[16] Die außerordentliche Revision des Klägers ist daher mangels der Voraussetzungen des § 502 Abs 1 ZPO zurückzuweisen.

Stichworte