OGH 10ObS106/15h

OGH10ObS106/15h22.10.2015

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits‑ und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten Dr. Fellinger als Vorsitzenden, den Hofrat Univ.‑Prof. Dr. Neumayr und die Hofrätin Mag. Korn sowie die fachkundigen Laienrichter Mag. Dr. Werner Hallas (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Mag. Ernst Bassler (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei W*****, vertreten durch Mag. Dr. Helmut Blum, Rechtsanwalt in Linz, gegen die beklagte Partei Allgemeine Unfallversicherungsanstalt, Adalbert-Stifter-Straße 65, 1200 Wien, wegen Versehrtenrente und Feststellung, über die außerordentliche Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Linz als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 18. August 2015, GZ 11 Rs 75/15a‑19, den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2015:010OBS00106.15H.1022.000

 

Spruch:

Die außerordentliche Revision wird gemäß § 508a Abs 2 ZPO mangels der Voraussetzungen des § 502 Abs 1 ZPO zurückgewiesen.

 

Begründung:

Der am 22. 11. 1959 geborene Kläger befand sich im Jahr 1975 als Internats-Zögling im Bundeskonvikt W***** und besuchte das öffentliche Bundesrealgymnasium in W*****. Obwohl in seinem Jahrgang kein Chemieunterricht am Lehrplan stand, beschäftigte er sich hobbymäßig mit Chemie und führte mit einem selbst gebauten Chemielabor Versuche und Experimente durch. Am 4. 6. 1975 kam es im Rahmen eines solchen vom Kläger und zwei weiteren Schülern in der Freizeit im Schlafsaal des Bundeskonvikts durchgeführten Versuchs zu einer Explosion, bei der der Kläger schwer verletzt wurde.

Mit Bescheid vom 28. 1. 2014 sprach die beklagte Allgemeine Unfallversicherungsanstalt aus, dass dieser Unfall nicht als Arbeitsunfall anerkannt werde und kein Anspruch auf Leistungen aus der Unfallversicherung bestehe.

Mit seiner gegen diesen Bescheid gerichteten Klage begehrt der Kläger „den Ersatz der ihm seit dem Unfall entgangenen Entschädigung inklusive Versehrtenrente im gesetzlichen Ausmaß samt gesetzlicher Zinsen“ sowie die Feststellung der Haftung der Beklagten „für weitere Entschädigung im Rahmen der gesetzlich festgelegten Versehrtenrente oder sonstiger Geldleistung in diesem Zusammenhang“. Unfälle in Schulen unterlägen der Unfallversicherung. Das Bundeskonvikt habe zur organisatorischen Verantwortung des Bundesrealgymnasiums gehört.

Die beklagte Partei beantragte die Abweisung des Klagebegehrens und brachte vor, das Bundeskonvikt sei nicht unter der organisatorischen Verantwortung der Schule gestanden. Es fehle am örtlichen, zeitlichen und ursächlichen Zusammenhang mit der Schulausbildung, weil der Kläger mit selbst gekauften Chemikalien heimlich private Chemieexperimente durchgeführt habe.

Sowohl das Erstgericht als auch das Berufungsgericht beurteilten das Klagebegehren als nicht berechtigt. Es fehle jedenfalls ein innerer bzw ursächlicher Zusammenhang der dem privaten Bereich zuzuordnenden Vornahme eines chemischen Versuchs mit der geschützten Ausbildungstätigkeit. Der Unfall sei auch keine Folge der typischen Gefahrenlage, der der Kläger durch seinen Schulbesuch bzw durch die Unterbringung im Schulinternat ausgesetzt gewesen sei.

Die ordentliche Revision wurde vom Berufungsgericht für nicht zulässig erklärt, weil keine Rechtsfrage iSd § 502 Abs 1 ZPO zu entscheiden sei.

Rechtliche Beurteilung

Die außerordentliche Revision des Klägers ist mangels Vorliegens der Voraussetzungen des § 502 Abs 1 ZPO nicht zulässig.

1. Schüler und Studenten sind seit der 32. ASVG‑Novelle, die am 1. 1. 1977 in Kraft trat, in den Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung einbezogen. Nach den Übergangsbestimmungen (BGBl Nr 704/1976, Art VI Abs 27) sind darüber hinaus einer Person, die am 1. 1. 1977 aufgrund der Folgen eines Unfalls, der erst gemäß § 175 Abs 4 und 5 ASVG idF BGBl Nr 704/1976 als Arbeitsunfall anerkannt wird, völlig erwerbsunfähig ist, die Leistungen der Unfallversicherung zu gewähren, wenn der Versicherungsfall nach dem 31. 12. 1955 eingetreten ist. Allerdings gebühren bei Antragstellung nach dem 31. 12. 1977 die Leistungen erst ab dem auf die Antragstellung folgenden Monatsersten. Dass sich der Unfall des Klägers vor dem 1. 1. 1977 ereignet hat, schließt daher Ansprüche nicht grundsätzlich aus.

2. Das Berufungsgericht hat im Sinne der in Lehre und Rechtsprechung herrschenden Auffassung zutreffend darauf hingewiesen, dass in der Unfallversicherung der Schüler und Studenten (§ 175 Abs 4 und 5 ASVG) nach der Grundintention des Gesetzes jede Tätigkeit geschützt sein soll, die sich als Ausübung der Rolle des Schülers oder Studenten darstellt (RIS-Justiz RS0085063). Die Frage, ob die von einem Schüler oder Studenten konkret verrichtete Tätigkeit vom rollenbezogenen Unfallversicherungsschutz umfasst ist, ist anhand der jeweiligen Umstände des Einzelfalls zu beurteilen.

Dabei ist zu prüfen, ob sich der Unfall im örtlichen, zeitlichen und ursächlichen Zusammenhang mit der die Versicherung begründenden Schul-(Universitäts-)ausbildung ereignet hat (vgl RIS-Justiz RS0085097). Die Tätigkeit muss einem vernünftigen Menschen als Ausübung der Ausbildung erscheinen (objektive Bedingung), und sie muss vom Handelnden (subjektive Bedingung) in dieser Intention entfaltet werden (vgl RIS‑Justiz RS0084680, RS0084368 mwN). Für die Abgrenzung des Schutzbereichs der gesetzlichen Unfallversicherung ist bei Schülern neben der Frage ihrer Verpflichtung zur Befolgung konkreter Pflichten und Weisungen vor allem auch zu berücksichtigen, dass die geschützten Tätigkeiten in einer engen Beziehung zur jeweiligen Schulstufe und zum Lehrplan stehen müssen. Was deutlich darüber hinaus geht, ist als eine auf privaten (eigenwirtschaftlichen) Interessen beruhende Tätigkeit des Schülers anzusehen (vgl dazu insbesondere die einen ähnlichen Sachverhalt betreffende Entscheidung 10 ObS 164/03w, SSV‑NF 17/79). Dabei ist es erforderlich, sämtliche Gesichtspunkte und Überlegungen einzubeziehen und sie sowohl einzeln als auch in ihrer Gesamtheit zu werten. Entscheidend ist, ob die Gesamtumstände dafür oder dagegen sprechen, das unfallbringende Verhalten dem geschützten Bereich oder der Privatsphäre des Versicherten zuzurechnen (RIS-Justiz RS0084490).

3. Die nach diesen Grundsätzen erfolgte Beurteilung des Berufungsgerichts, dass die vom Kläger ohne Bezug zum Unterricht mit eigenen Mitteln in seiner Freizeit durchgeführten Experimente eine private Tätigkeit des Klägers ohne inneren Zusammenhang zum Schulbesuch darstellen und damit nicht dem Unfallversicherungsschutz unterliegen, ist nicht korrekturbedürftig. Die vom Kläger in der Revision zitierte Entscheidung 1 Ob 337/98k ist mit dem vorliegenden Fall nicht vergleichbar. Nach dem dieser Entscheidung zugrundeliegenden Sachverhalt ereignete sich der Unfall damals bei einer von der Schule organisierten und beaufsichtigten Aktivität, welche aufgrund des Schultyps als ausbildungsbezogene Tätigkeit beurteilt wurde und daher ‑ im Gegensatz zum vorliegenden Fall ‑ nicht überwiegend privaten (außerschulischen) Interessen des damaligen Klägers diente.

4. Aufgrund des im vorliegenden Fall fehlenden inneren Zusammenhangs zur geschützten Tätigkeit ist es auch nicht von Relevanz, inwieweit der Aufenthalt des Klägers im Internat ganz allgemein dem organisatorischen Verantwortungsbereich der besuchten Schule zuzurechnen ist.

Die Revision ist mangels erheblicher Rechtsfragen iSd § 502 Abs 1 ZPO zurückzuweisen.

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