European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2022:E132976
Rechtsgebiet: Zivilrecht
Spruch:
Dem außerordentlichen Revisionsrekurs wird Folge gegeben.
Die Beschlüsse der Vorinstanzen werden aufgehoben und dem Erstgericht wird die neuerliche Entscheidung nach Verfahrensergänzung aufgetragen.
Begründung:
[1] Der * 2010 geborene Minderjährige ist das leibliche Kind der M* R* und des G* L*. Mit Beschluss vom 8. 6. 2016 wurde die Annahme des Kindes durch den damals mit der Mutter verheirateten Wahlvater bewilligt. Der leibliche Vater hatte dem zugestimmt; der Annahme war die Aufhebung der Adoption durch einen früheren Partner der Mutter vorausgegangen.
[2] In einem Vorverfahren beantragten die Mutter und der Wahlvater die Aufhebung der Wahlkindschaft nach § 201 Abs 1 Z 3 ABGB. Die stattgebende Entscheidung des Erstgerichts wurde vom Rekursgericht abgeändert, weil das Kindeswohl durch Aufrechterhalten der Wahlkindschaft nicht gefährdet sei. Im dagegen gerichteten Revisionsrekurs machte der Wahlvater ausschließlich geltend, dass der leibliche Vater nicht rekurslegitimiert gewesen sei. Der Senat bejahte die Rekurslegitimation und bestätigte daher die abweisende Entscheidung des Rekursgerichts (2 Ob 73/19b).
[3] Daraufhin beantragten der Wahlvater und die Mutter als Vertreterin des Kindes die Aufhebung der Wahlkindschaft nach § 201 Abs 1 Z 4 ABGB, hilfsweise (neuerlich) nach § 201 Abs 1 Z 3 ABGB. Zur letztgenannten Bestimmung brachten sie vor, dass die Aufhebung im Interesse des Kindes liege, weil keine Beziehungen zwischen dem Kind und dem Wahlvater mehr bestünden und die Aufhebung zu einer Verbesserung des Verhältnisses zwischen dem Kind und dem leiblichen Vater führen werde. Zudem sei die Aufhebung auch im finanziellen Interesse des Kindes: Aus der (mittlerweile geschiedenen) Ehe zwischen der Mutter und dem Wahlvater resultierten Schulden von 40.000 EUR. Es sei vereinbart, dass der Wahlvater bei Aufhebung der Wahlkindschaft diese Schulden in das alleinige Zahlungsversprechen übernehme. Damit würde die Zahlungsunfähigkeit und ein Schuldenregulierungsverfahren der Mutter verhindert. Bei Aufhebung der Wahlkindschaft wäre die Mutter schuldenfrei, und das Kind hätte gegen den leiblichen Vater einen einbringlichen Geldunterhaltsanspruch.
[4] Der leibliche Vater sprach sich gegen die Aufhebung aus. Die Mutter könne das Kind nicht vertreten, weil eine Interessenkollision vorliege. Die Aufhebung diene nicht dem Wohl des Kindes, sondern ausschließlich finanziellen Interessen der Mutter.
[5] In weiterer Folge bestellte das Erstgericht den Kinder- und Jugendhilfeträger zum Kollisionskurator. Dessen Vertreter gab eine Stellungnahme dahin ab, dass weder eine Aufhebung noch ein Aufrechterhalten der Wahlkindschaft das Kindeswohl gefährde.
[6] Auf dieser Grundlage wies das Erstgericht den Antrag ab. Die Voraussetzungen für eine Aufhebung nach § 201 Abs 1 Z 3 ABGB lägen nicht vor, weil nicht festgestellt werden könne, dass die Aufhebung dem Kindeswohl entspreche. Die Z 4 sei nicht anwendbar, weil das Kind keinen Aufhebungsantrag gestellt habe.
[7] Gegen diese Entscheidung richtete sich ein Rekurs des Wahlvaters, in dem er insbesondere darauf hinwies, dass die Mutter den Aufhebungsantrag namens des Kindes gestellt habe.
[8] Das Rekursgericht ersuchte den Kinder- und Jugendhilfeträger um Bekanntgabe, ob er als Kollisionskurator die Antragstellung und Verfahrensführung der Mutter als Vertreterin des Kindes genehmige. Dieser bejahte dies ohne weitere Begründung, worauf das Rekursgericht die Wahlkindschaft nach § 201 Abs 1 Z 4 ABGB aufhob. Ein gemeinsamer Antrag von Wahlelternteil und Wahlkind bedürfe keiner Begründung und führe zur Aufhebung, ohne dass weitere Voraussetzungen vorliegen müssten. Den ordentlichen Revisionsrekurs ließ das Rekursgericht mangels erheblicher Rechtsfrage nicht zu.
[9] Gegen diese Entscheidung richtet sich ein außerordentlicher Revisionsrekurs des leiblichen Vaters. Er vertritt die Auffassung, dass auch im Fall des § 201 Abs 1 Z 4 ABGB das Kindeswohl berücksichtigt werden müsse. Dieses sei hier gefährdet, weil das Wahlkind Unterhalts- und erbrechtliche Ansprüche gegen den Wahlvater verliere.
[10] Der Wahlvater beantragt in der ihm freigestellten Revisionsrekursbeantwortung, den Revisionsrekurs zurückzuweisen, hilfsweise ihm nicht Folge zu geben. Nach dem klaren Wortlaut des § 201 Abs 1 Z 4 ABGB hänge die Aufhebung der Wahlkindschaft im Fall des gemeinsamen Antrags von keinen weiteren Voraussetzungen ab.
Rechtliche Beurteilung
[11] Der Revisionsrekurs ist zulässig, weil § 201 Abs 1 Z 4 ABGB einer verfassungskonformen Interpretation bedarf. Er ist aus diesem Grund im Sinn des Aufhebungsantrags berechtigt.
[12] 1. Nach § 201 Abs 1 Z 4 ABGB idF des 2. ErwSchG ist die Wahlkindschaft aufzuheben, wenn der Wahlvater oder die Wahlmutter und das Wahlkind dies beantragen. Diese Bestimmung ist seit ihrer Änderung mit dem 2. ErwSchG auch bei fehlender Entscheidungsfähigkeit des Wahlkindes anzuwenden; in diesem Fall kann der Antrag – mangels ausdrücklich angeordneter Vertretungsfeindlichkeit (vgl etwa § 141 Abs 3 Satz 3 ABGB) – vom gesetzlichen Vertreter gestellt werden. Nach dem Wortlaut ist die Aufhebung nur vom gemeinsamen Antrag abhängig, weitere Voraussetzungen sind nicht vorgesehen (Höllwerth in Schwimann/Kodek 5,§ 201 Rz 12; Rudolf in Deixler-Hübner, Handbuch Familienrecht2 [2020] 372; Deixler-Hübner in Kletečka/Schauer, ABGB-ON1.07 § 203 Rz 12; Hopf/Weixelbraun-Mohr in KBB6 §§ 201–203 Rz 3 [die allerdings den Entfall des Erfordernisses der Eigenberechtigung übersehen]). Folgt man dieser Auffassung, hat – anders als bei der Bewilligung der Wahlkindschaft (§ 194 Abs 1 ABGB) – eine Prüfung des Kindeswohls zu unterbleiben.
[13] 2. Diese Auslegung von § 201 Abs 1 Z 4 ABGB hätte die folgenden Konsequenzen:
[14] 2.1. § 201 Abs 1 Z 4 ABGB (vor dem KindNamRÄG 2013 § 184a Abs 1 Z 4 ABGB) sah von der Neuregelung des Adoptionsrechts mit dem BG BGBl 1960/58 bis zur Änderung mit dem 2. ErwSchG die Aufhebung der Wahlkindschaft vor,
„wenn der Wahlvater (die Wahlmutter) und das eigenberechtigte Wahlkind die Aufhebung beantragen“.
[15] Für die Aufhebung genügten daher übereinstimmende Anträge des Wahlelternteils und des eigenberechtigten Wahlkindes, weitere Voraussetzungen gab es nicht. Dies wurde zwar schon früh rechtspolitisch kritisiert, weil die Möglichkeit der einvernehmlichen Beendigung einer Wahlkindschaft nur schwer mit dem der Neuregelung zugrunde liegenden Modell einer „starken“ Adoption – also einer Nachbildung von familienrechtlichen Beziehungen, die aufgrund von Verwandtschaft im engeren Sinn bestehen – vereinbar war (V. Steininger, Kritische Studien zum Adoptionsrecht, JBl 1963, 453, 511, 555 [561]). Trotzdem war die Bestimmung grundsätzlich nachvollziehbar: Da die Adoption auf einem Vertrag beruht, sollte es für eigenberechtigte Vertragspartner auch möglich sein, sie einvernehmlich aufzuheben.
[16] 2.2. § 201 Abs 1 Z 4 ABGB wurde durch Art 1 Z 33 2. ErwSchG dahin geändert, dass das Wort „eigenberechtigte“ entfiel. Das hat zur Folge, dass die Aufhebung nun auch vom gesetzlichen Vertreter eines nicht entscheidungsfähigen (§ 24 Abs 2 ABGB idF des 2. ErwSchG) Wahlkindes beantragt werden kann. Die Materialien (EB zur RV, 1461 BlgNR 25. GP 13) begründen das wie folgt:
„Durch die Aufhebung des Wortes 'eigenberechtigte' in Z 4 erfolgt eine Anpassung an Z 3. In dieser ist schon bisher das Antragsrecht des Wahlkindes nicht von dessen Eigenberechtigung abhängig.“
[17] Die Aufhebung der Wahlkindschaft nach dem (unverändert gebliebenen) § 201 Abs 1 Z 3 ABGB setzt allerdings voraus, dass sie dem Wohle des Wahlkindes dient. Das gilt zwar auch bei Anträgen volljähriger Wahlkinder, und zwar offenkundig deswegen, weil die Aufhebung hier (möglicherweise) gegen den Willen des Wahlelternteils erfolgt und daher überwiegende Interessen des Wahlkindes vorliegen müssen. Bei minderjährigen Kindern führt diese Bestimmung aber zu einer Prüfung des Kindeswohls im engeren Sinn.
[18] Im Bereich der Z 4 ist eine solche Prüfung demgegenüber nicht vorgesehen. Das formale Argument der Anpassung der Z 4 an die Z 3 kann daher nicht begründen, weshalb es nun im Anwendungsbereich der Z 4 zu einer automatischen Aufhebung ohne Kindeswohlprüfung kommen sollte.
[19] 2.3. Diese Problematik wird dadurch verschärft, dass die Vertretungshandlungen des gesetzlichen Vertreters nach § 192 Abs 4 ABGB „in Angelegenheiten der Annahme an Kindesstatt“ nicht der Genehmigung des Gerichts bedürfen.
[20] (a) Diese Bestimmung steht zwar im systematischen Zusammenhang mit dem Abschluss des Adoptionsvertrags. Ihr Wortlaut erfasst aber auch den Antrag auf Aufhebung; Gründe für eine Differenzierung sind nicht erkennbar. Damit braucht aber auch eine „andere mit der Obsorge betraute Person“ (§ 204 ABGB), also insb ein Kollisionkurator, für den Antrag auf Aufhebung der Wahlkindschaft keine gerichtliche Genehmigung iSv § 213 Abs 1 ABGB („wichtige die Person des Kindes betreffende Angelegenheiten“). Denn dieses Genehmigungserfordernis gilt nur, „soweit nicht anderes bestimmt ist“. Ebenso wird § 192 Abs 4 ABGB auch als lex specialis zu § 250 Abs 3 ABGB (Genehmigungspflicht in wichtigen Angelegenheiten der Personensorge in Fällen der Vorsorgevollmacht oder Erwachsenenvertretung) anzusehen sein.
[21] (b) Nur zur Klarstellung ist in diesem Zusammenhang festzuhalten, dass der (hier zum Kollisionskurator bestellte) Kinder- und Jugendhilfeträger nach § 210 Abs 1 ABGB auch ohne die Sonderregel des § 192 Abs 4 ABGB keiner Genehmigung bedürfte. Gleiches würde mangels ausdrücklicher Anordnung einer Genehmigungspflicht für eine Antragstellung durch einen Elternteil als gesetzlichen Vertreter gelten.
[22] (c) Die in § 192 Abs 4 ABGB vorgesehene – und für Eltern und den Kinder- und Jugendhilfeträger auch unabhängig davon geltende – Befreiung von einem Genehmigungserfordernis war bis zur Änderung des § 201 Abs 1 Z 4 ABGB mit dem 2. ErwSchG unproblematisch. Denn bis dahin hatte ohnehin das Gericht im Bewilligungs- oder Aufhebungsverfahren das Kindeswohl zu prüfen, soweit die Bewilligung oder die Aufhebung vom Antrag eines gesetzlich vertretenen Wahlkindes abhing (§ 194 Abs 1 ABGB [Bewilligung], § 201 Abs 1 Z 3 ABGB [Aufhebung]). Durch die Neufassung von § 201 Abs 1 Z 4 ABGB führt die Befreiung von der Genehmigungspflicht aber dazu, dass das Kindeswohl bei einem gemeinsamen Antrag von Wahlelternteil und Wahlkind weder in einem Verfahren zur Genehmigung des Antrags des Kindes noch, folgt man dem Wortlaut der Z 4, im Aufhebungsverfahren selbst geprüft werden kann.
[23] 3. Auf dieser Grundlage wäre ein Ausschluss der Kindeswohlprüfung bei einem gemeinsamen Antrag nach § 201 Abs 1 Z 4 ABGB aus zwei Gründen verfassungswidrig:
[24] 3.1. Die Bestimmung verstieße in diesem Fall gegen Art 7 B‑VG.
[25] (a) Der Gleichheitsgrundsatz bindet auch den Gesetzgeber (VfSlg 13.327/1993, 16.407/2001, zuletzt etwa G 409/2017). Er setzt ihm insofern inhaltliche Schranken, als er verbietet, sachlich nicht begründbare Regelungen zu treffen (VfSlg 14.039/1995, 16.407/2001; zuletzt etwa G 391/2020 ua). Diese Schranken wären hier überschritten:
[26] (b) Dies folgt zum einen aus der unterschiedlichen Behandlung der Bewilligung und der Aufhebung der Wahlkindschaft bei minderjährigen Wahlkindern:
- Die Bewilligung beruht in einem solchen Fall auf einem Vertrag, der von den Wahleltern bzw einem Wahlelternteil einerseits und einem gesetzlich vertretenen Minderjährigen geschlossen wird, also auf Einvernehmen zwischen den Wahleltern (dem Wahlelternteil) und dem gesetzlich vertretenen Wahlkind. Trotzdem hat das Gericht nach § 194 Abs 1 ABGB zu prüfen, ob die Annahme an Kindesstatt dem Wohl des Kindes dient.
- Auch die Aufhebung nach § 201 Abs 1 Z 4 ABGB beruht auf einem Einvernehmen zwischen den Wahleltern (dem Wahlelternteil) und dem gesetzlich vertretenen Wahlkind. Hier wäre aber nach dem Wortlaut der Bestimmung im gerichtlichen Verfahren das Kindeswohl nicht zu prüfen.
[27] Diese Ungleichbehandlung ist sachlich nicht gerechtfertigt: Durch die Aufhebung erlöschen nach § 202 ABGB die Rechtsverhältnisse zwischen Wahleltern (Wahlelternteil) und Wahlkind, jene mit den leiblichen Eltern bzw dem leiblichen Elternteil und deren Verwandten leben, soweit sie durch die Annahme an Kindesstatt erloschen waren, wieder auf. Die Aufhebung der Wahlkindschaft führt daher ebenso wie deren Bewilligung zu einer Änderung der familienrechtlichen Verhältnisse.
[28] Diese Änderung wiegt zumindest in Teilbereichen sogar schwerer als jene bei der Annahme an Kindesstatt. Denn bei der Annahme bleiben nach den §§ 198 f ABGB sowohl eine (subsidiäre) Unterhaltspflicht der leiblichen Eltern als auch die im Erbrecht begründeten Rechte des Wahlkindes – also insbesondere dessen Pflichtteilsrecht – gegen die leiblichen Eltern und deren Verwandte bestehen. Hingegen bewirkt die Aufhebung der Wahlkindschaft den Wegfall der entsprechenden Ansprüche des Wahlkindes gegen die bzw nach den Wahleltern (bzw Wahlelternteilen). Bezogen auf den jeweiligen status quo ante hat daher die Aufhebung der Wahlkindschaft aus Sicht des Unterhalts- und Erbrechts für das Wahlkind nachteiligere Wirkungen als deren Bewilligung. Umso weniger kann es sachlich gerechtfertigt sein, dass bei der auf Einvernehmen beruhenden Aufhebung eine Kindeswohlprüfung unterbleibt.
[29] (c) Ebenso fehlt eine sachliche Rechtfertigung für die unterschiedlichen Regelungen in § 201 Abs 1 Z 3 und Z 4 ABGB. In beiden Bestimmungen setzt die Aufhebung einen Antrag des Wahlkindes voraus. § 201 Abs 1 Z 3 ABGB regelt den Fall, dass die Nahebeziehung zu einem Wahlelternteil durch Auflösung der Ehe oder eingetragenen Partnerschaft der Wahleltern oder des Wahlelternteils mit dem leiblichen Elternteil oder durch den Tod des Wahlelternteils erloschen ist. Hier hat die Aufhebung nur zu erfolgen, wenn sie dem Wohl des Wahlkindes dient, was bei minderjährigen Wahlkindern eine Prüfung des Kindeswohls im engeren Sinn ermöglicht. Beantragt allerdings – in derselben Konstellation – auch der Wahlelternteil die Aufhebung, ist das Kindeswohl nach dem Wortlaut von § 201 Abs 1 Z 4 ABGB nicht mehr zu prüfen. Der Antrag auch des Wahlelternteils kann aber als bloß formales Element nicht begründen, weshalb im Fall der Minderjährigkeit eine inhaltliche Prüfung des Kindeswohls nicht mehr erforderlich sein sollte.
[30] 3.2. Ein Ausschluss der Kindeswohlprüfung verstieße weiters gegen Art 1 Satz 2 BVG über die Rechte von Kindern, BGBl I 2011/4 (BVG Kinderrechte). Danach muss bei
„allen Kinder betreffenden Maßnahmen öffentlicher und privater Einrichtungen […] das Wohl des Kindes eine vorrangige Erwägung sein“.
[31] Diese Bestimmung erfasst auch Maßnahmen und Regelungen im Adoptionsrecht (VfGH G 18/2014). Eine Aufhebung der Annahme an Kindesstatt ohne Prüfung des Kindeswohls steht damit offenkundig im Widerspruch. Eine Rechtfertigung nach Art 7 BVG Kinderrechte ist nicht erkennbar.
[32] 4. Diese Erwägungen sprächen an sich für eine Anfechtung von § 201 Abs 1 Z 4 ABGB nach Art 89 iVm Art 140 B‑VG. Allerdings kann die Bestimmung auch verfassungskonform ausgelegt werden.
[33] 4.1. Die Möglichkeit einer verfassungskonformen Auslegung schließt nach ständiger Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofs eine Aufhebung wegen Verfassungswidrigkeit aus (vgl zuletzt G 168/2019, G 302/2019; G 77/2018, G 152/2015). Dabei bilden nach Auffassung des Verfassungsgerichtshofs weder der Wortlaut noch Aussagen in Gesetzesmaterialien eine unüberwindliche Grenze (G 69/2018 mwN). Daher ist zu prüfen, ob im vorliegenden Fall eine verfassungskonforme Interpretation möglich ist.
[34] 4.2. Das trifft zu. Zwar sieht der Wortlaut von § 201 Abs 1 Z 4 ABGB keine Kindeswohlprüfung vor. Darin liegt aber eine planwidrige Lücke, die durch Analogie zu schließen ist.
[35] (a) Eine Analogie setzt die planwidrige Unvollständigkeit des Gesetzes voraus (vgl RS0106092; RS0008866 [insb T2, T4, T11]), die nur dann angenommen werden kann, wenn Wertungen und Zweck der gesetzlichen Regelung die Annahme rechtfertigen, der Gesetzgeber hätte einen nach denselben Maßstäben regelungsbedürftigen Sachverhalt übersehen (RS0008866 [T27]). Sie ist unzulässig, wenn Gesetzeswortlaut und klare gesetzgeberische Absicht in die Gegenrichtung weisen (RS0008880 [T19]; 2 Ob 35/20s mwN).
[36] (b) Im vorliegenden Fall hat der Gesetzgeber offenkundig übersehen, dass die Neufassung von § 201 Abs 1 Z 4 ABGB nach ihrem Wortlaut zu einem eindeutig verfassungswidrigen Ergebnis führt (oben Punkt 3). Sowohl der Gleichheitssatz als auch Art 1 BVG Kinderrechte erfordern auch bei einem gemeinsamen Antrag zwingend eine Berücksichtigung des Kindeswohls. Die Gesetzesmaterialien enthalten aufgrund ihrer bloß formalen Argumentation keine Begründung für die gegenteilige Ansicht (oben 2.2.). Daher liegt eine Lücke vor, die durch Analogie zu füllen ist.
[37] (c) Als Analogiegrundlage ist § 194 Abs 1 ABGB heranzuziehen, da diese Bestimmung ebenso wie § 201 Abs 1 Z 4 ABGB eine auf dem Einvernehmen der Beteiligten beruhende Gestaltung familienrechtlicher Beziehungen vorsieht. Auch die Aufhebung der Wahlkindschaft hat daher bei Minderjährigkeit des Wahlkindes nur zu erfolgen, wenn sie dessen Wohl dient. Maßgebend ist somit die Förderung des Kindeswohls durch die Aufhebung, nicht das Fehlen einer Gefährdung im Fall der Aufhebung.
[38] (d) Diese Erwägungen führen zwar dazu, dass § 201 Abs 1 Z 4 ABGB im konkreten Fall seine eigenständige Bedeutung verliert. Denn wenn die Aufhebung dem Kindeswohl dient, ist ohnehin auch der Tatbestand der Z 3 erfüllt. Die Novellierung der Z 4 mit dem 2. ErwSchG verliert dadurch aber nicht jeden Anwendungsbereich. Denn die Neuregelung ermöglicht nun auch dann die einvernehmliche Aufhebung der Wahlkindschaft, wenn die Nahebeziehung iSd Z 3 nicht weggefallen ist. Nach altem Recht war das nur bei Eigenberechtigung des Kindes möglich.
[39] 5. Verfassungskonforme Auslegung von § 201 Abs 1 Z 4 ABGB führt zur Aufhebung in die erste Instanz.
[40] Das Erstgericht hat umfassend zu prüfen, ob die Aufhebung der Wahlkindschaft im konkreten Fall dem Kindeswohl dient. Dabei könnten unter Umständen auch mittelbare finanzielle Vorteile (hier durch die Übernahme von Schulden der Mutter durch den Wahlvater) relevant sein. Diese müssten jedoch mit dem Wegfall von Unterhalts- und Pflichtteilsansprüchen abgewogen werden und zudem auf einer rechtlich abgesicherten Grundlage beruhen. Den Antragstellern wird Gelegenheit zu geben sein, dazu – und zu allfälligen weiteren Gründen für eine Förderung des Kindeswohls durch die Aufhebung – ein Vorbringen zu erstatten.
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