European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2022:E132117
Rechtsgebiet: Zivilrecht
Spruch:
Die Revision der beklagten Partei wird zurückgewiesen.
Die klagende Partei hat die Kosten der Revisionsbeantwortung selbst zu tragen.
Begründung:
[1] Die Klägerin ist ein gemäß § 29 KSchG zur Erhebung von Unterlassungsansprüchen nach den §§ 28 f KSchG befugter Verband.
[2] Die Beklagte ist eine Gesellschaft mit beschränkter Haftung und bewirtschaftet (unter anderem) ihren Immobilienbesitz durch Vermietung und Verpachtung. Sie ist Eigentümerin von über 60 Wohnungen bzw Geschäftslokalen in Wien.
[3] Die Beklagte verwendete insbesondere im Vollanwendungsbereich des MRG im geschäftlichen Verkehr mit Verbrauchern allgemeine Geschäftsbedingungen/ Vertragsformblätter, die mehr als 40 von der Klägerin beanstandete Klauseln enthielten. Die Beklagte anerkannte das Unterlassungsbegehren mit Ausnahme dreier beanstandeter Klauseln, die wie folgt lauteten:
„4. Das Mietverhältnis beginnt am […] und wird auf unbestimmte Zeit abgeschlossen. Es kann von beiden Teilen unter Einhaltung einer jährlichen Kündigungsfrist zum Ende eines jeden Quartales gerichtlich aufgekündigt werden.
5a. Der Mieter verzichtet auf die Kündigung des Vertrages für die ersten drei Bestandsjahre.
5b. Der Mieter verzichtet auf die Kündigung des Vertrages für die ersten fünf Bestandsjahre.“
[4] Zum Teil saniert die Beklagte die von ihr vermieteten Objekte und stattet diese neu aus, wodurch ihr laufende Fixkosten entstehen, zum Teil vermietet sie aber auch unsanierte Wohnungen unter Zugrundelegung der angeführten Klauseln. Die Beklagte schloss zwar seit April 2020 keine neuen Mietverträge ab; den bestehenden Mietverträgen liegen aber diese Klauseln nach wie vor zugrunde.
[5] Das Berufungsgericht gab – in teilweiser Abänderung der Entscheidung des Erstgerichts – dem Unterlassungs- und Veröffentlichungsbegehren der Klägerin hinsichtlich der noch strittigen Klauseln statt. Die ordentliche Revision wurde vom Berufungsgericht mangels Vorliegens einer oberstgerichtlichen Rechtsprechung – die Klauseln 5a bzw 5b betreffend – zur Frage zugelassen, inwieweit § 6 Abs 1 Z 1 KSchG der Vereinbarung eines (mehrjährigen) Kündigungsverzichts des Mieters entgegen stehe. Dem schloss sich die Revisionswerberin zwecks Begründung der Zulässigkeit ihres Rechtsmittels nach § 502 Abs 1 ZPO an. Eine andere, die Klausel 4 bzw das Veröffentlichungsbegehren betreffende erhebliche Rechtsfrage wird von ihr nicht geltend gemacht.
Rechtliche Beurteilung
[6] Die Revision ist entgegen dem – den Obersten Gerichtshof nicht bindenden – Ausspruch des Berufungsgerichts mangels einer Rechtsfrage iSd § 502 Abs 1 ZPO nicht zulässig. Die Zurückweisung der ordentlichen Revision kann sich auf die Ausführung der Zurückweisungsgründe beschränken (§ 510 Abs 3 Satz 4 ZPO).
[7] 1. Der Oberste Gerichtshof ist auch zur Auslegung von AGB‑Klauseln nicht „jedenfalls“, sondern nur dann berufen, wenn die zweite Instanz Grundsätze höchstgerichtlicher Rechtsprechung missachtete oder für die Rechtseinheit und Rechtsentwicklung bedeutsame Fragen zu lösen sind (RS0121516). Demnach genügt für die Anrufbarkeit des Obersten Gerichtshofs nicht schon der Umstand, dass es an einer höchstgerichtlichen Rechtsprechung zu gleichen oder ähnlichen Klauseln mangelt (RS0121516 [T4]). Auch die bloße Häufigkeit der Verwendung strittiger Klauseln vermag die Zulässigkeit der Revision nicht zu begründen (1 Ob 224/06g; RS0121516 [T38]).
[8] 2. Gemäß § 6 Abs 1 Z 1 zweiter Fall KSchG sind für den Verbraucher besonders solche Vertragsbestimmungen iSd § 879 ABGB jedenfalls nicht verbindlich, nach denen sich der Unternehmer eine unangemessen lange oder nicht hinreichend bestimmte Frist ausbedingt, während deren der Verbraucher an den Vertrag gebunden ist. Bei der Prüfung, ob eine unangemessen lange Vertragsbindung gemäß § 6 Abs 1 Z 1 zweiter Fall KSchG vorliegt, ist eine Gesamtwertung aller einschlägigen Vertragsumstände vorzunehmen. Die Interessen des Unternehmers auf Durchführung des Vertrags sind gegen die Interessen des Verbrauchers auf angemessene und feststellbare Erfüllungszeit abzuwägen. Die Angemessenheit der Frist richtet sich nach der Art des Geschäfts und den von redlichen Vertragsparteien üblicherweise vereinbarten Fristen. Die sachliche Rechtfertigung einer längeren Bindung des Verbrauchers an den Vertrag kann sich etwa auch aus dem Interesse des Unternehmers ergeben, aufgrund des Umfangs seiner Investitionen und dem damit verbundenen wirtschaftlichen Risiko für länger klare Verhältnisse zu schaffen, um ihr kaufmännisches Risiko durch eine sachgerechte Kalkulation beschränken zu können (9 Ob 69/11d Pkt. 3.1. = ecolex 2012, 965 [Graf]; 7 Ob 73/15h Pkt. 3.2.; 4 Ob 110/17f Pkt. 2.; vgl RS0123616). Dem gegenüber steht das Interesse des Verbrauchers an einer nicht allzu langen Bindungsfrist, weil sich nicht nur die gesellschaftlichen Lebensgewohnheiten, sondern auch die persönlichen Lebensumstände des Verbrauchers im Verlauf eines längeren Zeitraums erheblich ändern können (Mayrhofer/Tangl in Klang³ § 6 Abs 1 Z 1 KSchG Rz 18; vgl 3 Ob 132/15f Pkt 4.5.). Diese Interessenabwägung kann naturgemäß immer nur aufgrund der Gesamtumstände des konkreten Vertragswerks beantwortet werden. Die angefochtene Entscheidung des Berufungsgerichts bewegt sich im Rahmen des den Gerichten eingeräumten Beurteilungsspielraums.
[9] 3. Im Rahmen der vorzunehmenden Interessenabwägung hat das Berufungsgericht den wirtschaftlichen Nachteilen des Vermieters bei Mieterwechsel (etwa Suche nach einem neuen Mieter oder Kosten für notwendige Arbeiten am Mietgegenstand vor Neuvermietung) die wirtschaftlichen Nachteile des Mieters bei einem Wohnungswechsel (etwa Kosten für Übersiedlung oder Makler) gegenüber gestellt. Dabei hat es berücksichtigt, dass ein Mietvertrag für den Verbraucher typischerweise von hoher wirtschaftlicher Bedeutung ist. Dem Mieter, der die Wohnung wegen einer Änderung seiner persönlichen Lebensverhältnisse nicht weiter benötigt, droht bei einer langen Bindung eine finanzielle Doppelbelastung, weil der alte Mietvertrag noch aufrecht ist, während ein neues Mietverhältnis bereits begründet ist. Eine längerfristige Bindung an den Mietvertrag, die den Verbraucher im Ergebnis zur Zahlung doppelten Mietzinses verpflichten könnte, kann sehr rasch zu einer existenziell bedrohenden Einschränkung seiner wirtschaftlichen Dispositionsfreiheit führen. Im Regelfall kommt dem Mieter bei Veränderung seiner Lebensumstände, die eine Änderung seiner Wohnsituation erfordern, auch kein außerordentliches Kündigungsrecht nach § 1117 ABGB zu (vgl RS0102015). Hingegen ist eine sachliche Rechtfertigung für die nicht weiter nach erfolgten Investitionen oder anderen Parametern differenzierende Vereinbarung eines dreijährigen/fünfjährigen Kündigungsverzichts nicht zu erkennen. Abgesehen, dass die Beklagte nach den bindenden Feststellungen auch unsanierte Wohnungen vermietet, kann die bloße Sanierung einer Wohnung vor der Vermietung eine derart lange Bindung des Mieters nicht rechtfertigen. Die Rechtsansicht des Berufungsgerichts, das Interesse des Mieters, auf massive Veränderungen in seiner eigenen Sphäre in zeitlich angemessener Frist reagieren und die für ihn oft existenziell bedeutsame Wohnungsfrage nach seinen Bedürfnissen regeln zu können, überwiege nach Lage des Falls das wirtschaftliche Interesse des Vermieters am langjährigen Bestand von Mietverhältnissen, ist daher – insbesondere auch unter Heranziehung der aus § 29 Abs 2 MRG hervorgehenden Wertungen (vgl Lovrek in Fasching/Konecny³ IV/1 § 560 ZPO Rz 66 mwN; Bresich, Die Zulässigkeit des mietrechtlichen Kündigungsverzichts, RdW 2008/338 Pkt 2.4.; RV 1268 BlgNR XVIII GP 14) – nicht zu beanstanden. Die Beklagte zeigt in ihrer Revision keine konkreten Umstände auf, die zu einer anderen Beurteilung dieser Interessenlage führen müssten.
[10] 4. Die Entscheidung 9 Ob 141/06k (vgl RS0121742), auf die die Revisionswerberin ihre weitere Rechtsansicht stützt, dass im Anlassfall gar keine Interessenabwägung vorzunehmen sei, weil dies bereits der Gesetzgeber durch § 29 Abs 2 MRG getan habe, ist nicht einschlägig. Darin wurde bloß ausgesprochen, dass eine analoge Anwendung der Kündigungsmöglichkeit befristeter Mietverträge des § 29 Abs 2 MRG auf einen unbefristeten Bestandvertrag mit fünfjährigem Kündigungsverzicht des Mieters nicht in Betracht kommt. Mit der Angemessenheit der sich aus dem Kündigungsverzicht ergebenden Vertragsbindung vor dem Hintergrund des § 6 Abs 1 Z 1 KSchG setzte sich der Oberste Gerichtshof nicht auseinander.
[11] Die Kostenentscheidung gründet sich auf §§ 40, 50 ZPO. Für die Revisionsbeantwortung steht kein Kostenersatz zu, weil von der Klägerin die Unzulässigkeit des Rechtsmittels nicht geltend gemacht wurde (RS0035979).
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