OGH 10ObS46/21v

OGH10ObS46/21v30.3.2021

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits‑ und Sozialrechtssachen durch den Vizepräsidenten Univ.‑Prof. Dr. Neumayr als Vorsitzenden, die Hofrätinnen Dr. Fichtenau und Dr. Grohmann sowie die fachkundigen Laienrichter Dr. Martin Gleitsmann (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Mag. Werner Pletzenauer (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei N*, vertreten durch Mag. Markus Hager, Rechtsanwalt in Linz, gegen die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt, 1021 Wien, Friedrich‑Hillegeist‑Straße 1, vertreten durch Dr. Anton Ehm und Mag. Thomas Mödlagl, Rechtsanwälte in Wien, wegen Berufsunfähigkeitspension und Rehabilitationsgeld, über die Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Linz als Berufungsgericht in Arbeits‑ und Sozialrechtssachen vom 26. Jänner 2021, GZ 11 Rs 62/20 x‑27, mit dem das Urteil des Landesgerichts Linz als Arbeits‑ und Sozialgericht vom 16. Juli 2020, GZ 9 Cgs 152/19x‑22, teilweise abgeändert wurde, zu Recht erkannt:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2021:E131579

 

Spruch:

 

Der Revision wird nicht Folge gegeben.

Die klagende Partei hat die Kosten ihrer Revision selbst zu tragen.

 

Entscheidungsgründe:

[1] Der 1975 in Österreich geborene Kläger arbeitete von 1. 4. 2010 bis Mitte 2017 in Deutschland als Außendienstmitarbeiter eines deutschen Unternehmens. Das Dienstverhältnis wurde 2017 nach einem einjährigen Krankenstand beendet. Aufgrund der Tätigkeit als Außendienstmitarbeiter wohnte der Kläger mehrere Jahre in Deutschland. Seit 1. 2. 2020 hat er seinen Wohnsitz wieder in Österreich. Er war aufgrund seiner Tätigkeit in Deutschland dort bereits seit 1. 4. 2010 krankenversichert. Seit 1. 4. 2019 bezieht er von der deutschen Rentenversicherung eine Rente wegen voller Erwerbsminderung.

[2] Strittig ist der Export des Rehabilitationsgeldes für den Zeitraum vom 1. 10. 2018 (Stichtag) bis zum 31. 1. 2020, als der Kläger noch in Deutschland wohnte.

[3] Mit Bescheid vom 29. 5. 2019 lehnte die beklagte Pensionsversicherungsanstalt die Gewährung einer Berufsunfähigkeitspension sowie den Anspruch auf medizinische und berufliche Maßnahmen der Rehabilitation sowie auf Rehabilitationsgeld aus der Krankenversicherung ab, weil keine Berufsunfähigkeit vorliege.

[4] Der Kläger begehrt mit seiner Klage die Gewährung der Berufsunfähigkeitspension, weil er seit 4. 6. 2018 berufsunfähig sei.

[5] Die Beklagte hielt in der Klagebeantwortung den im Bescheid vertretenen Standpunkt aufrecht.

[6] Das Erstgericht wies das Klagebegehren auf Gewährung einer Berufsunfähigkeitspension im gesetzlichen Ausmaß ab 1. 10. 2018 ab (Spruchpunkt 1), stellte fest, dass beim Kläger ab 1. 10. 2018 vorübergehende Berufsunfähigkeit im Ausmaß von mindestens sechs Monaten vorliege (Spruchpunkt 2) und wies das Klagebegehren, soweit damit die Feststellung begehrt wurde, dass der Kläger ab 1. 10. 2018 für die Dauer der vorübergehenden Berufsunfähigkeit Anspruch auf Gewährung von Rehabilitationsgeld aus der Krankenversicherung im gesetzlichen Ausmaß habe, ab (Spruchpunkt 3). Zum Anspruch des Klägers auf Rehabilitationsgeld führte es aus, dass der Kläger aufgrund seiner beruflichen Tätigkeit und seines Wohnsitzes in Deutschland sowie der nunmehrigen Rente der deutschen Rentenversicherung seit mehreren Jahren nur der Krankenversicherung in Deutschland und nicht mehr dem österreichischen System der Sozialversicherung unterliege. Der bloße Wohnortwechsel nach Österreich ändere daran nichts.

[7] Das Berufungsgericht gab der Berufung des Klägers, der die Ablehnung seines Anspruchs auf Rehabilitationsgeld aus der Krankenversicherung ab 1. 10. 2018 bekämpfte, teilweise Folge und wies das diesbezügliche Klagebegehren nur für den Zeitraum von 1. 10. 2018 bis 31. 1. 2020 ab. Es stellte ergänzend fest, dass der Kläger in Österreich 228 Versicherungsmonate, davon 206 Beitragsmonate in der Pflichtversicherung aufgrund einer Erwerbstätigkeit bis Jänner 2010 erworben hat. In der rechtlichen Beurteilung verneinte es mit Hinweis auf die Entscheidung des EuGH zu C‑135/19 , Pensionsversicherungsanstalt, die Verpflichtung zum Export des Rehabilitationsgeldes für den Zeitraum, in dem der Kläger keinen Wohnsitz in Österreich hatte. Es ließ die Revision zu, weil noch keine Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs zur Frage vorliege, ob und inwieweit seine Rechtsprechung zum Export von Rehabilitationsgeld nach der in der Rechtssache C‑135/19 , Pensionsversicherungsanstalt, ergangenen Entscheidung des EuGH weiterhin für Fälle relevant sei, in denen die weit überwiegenden Versicherungszeiten im Inland erworben worden seien.

Rechtliche Beurteilung

[8] Die – beantwortete – Revision des Klägers ist aus dem vom Berufungsgericht angegebenen Grund zulässig, sie ist aber nicht berechtigt.

[9] 1.1 Der Oberste Gerichtshof sah zu 10 ObS 133/15d (SSV‑NF 30/79 = SZ 2016/141) und zahlreichen Folgeentscheidungen (RIS‑Justiz RS0131207) das österreichische Rehabilitationsgeld grundsätzlich als Geldleistung bei Krankheit im Sinn des Art 3 Abs 1 lit a der VO (EG) 883/2004 an. Diese Einordnung hindere aber nicht die Berücksichtigung des Sondercharakters des – die befristete Invaliditäts‑ und Berufsunfähigkeitspension ersetzenden – Rehabilitationsgeldes (10 ObS 133/15d Punkt 3.4.4). Dieser Sondercharakter müsse auch bei der Anwendung der Koordinierungsvorschriften der VO 883/2004 berücksichtigt werden (10 ObS 133/15d Punkt 5.7). Die alleinige Zuständigkeit des ausländischen Wohnmitgliedstaats und der damit einhergehende Leistungsverlust trotz bereits im Inland erworbener Versicherungszeiten könnte in bestimmten Fällen die unionsrechtliche Freizügigkeit beschränken. Um eine Vereinbarkeit mit dem Primärrecht herzustellen, sei Anknüpfungspunkt für die Zuständigkeit für diese Leistung mit Sondercharakter nicht der Wohnsitz, sondern die erworbenen Versicherungszeiten (10 ObS 133/15d Punkt 5.9 und 6.2).

[10] 1.2 Dieser Judikatur lag zugrunde, dass die versicherten Personen mit Wohnsitz in einem anderen Mitgliedstaat zuvor von den beklagten österreichischen Sozialversicherungsträgern eine befristete Invaliditäts‑ oder Berufsunfähigkeitspension bezogen hatten, an die das Rehabilitationsgeld unmittelbar angeschlossen hätte (10 ObS 133/15d; 10 ObS 10/17v, 10 ObS 12/17p; 10 ObS 17/17y; 10 ObS 31/17g; 10 ObS 57/17f).

[11] 2.1 In seinem Urteil vom 5. 3. 2020, C‑135/19 , Pensionsversicherungsanstalt (Rehabilitationsleistung), beantwortete der EuGH die vom Obersten Gerichtshof zu 10 ObS 66/18f (RS0132457) gestellte erste Vorlagefrage, ob das österreichische Rehabilitationsgeld nach den Bestimmungen der VO (EG) 883/2004 als Leistung bei Krankheit nach Art 3 Abs 1 lit a, als Leistung bei Invalidität nach Art 3 Abs 1 lit c oder als Leistung der Arbeitslosigkeit nach Art 3 Abs 1 lit h zu qualifizieren sei, eindeutig so, dass das Rehabilitationsgeld als Leistung bei Krankheit im Sinn des Art 3 Abs 1 lit a der genannten Verordnung anzusehen ist.

[12] 2.2 Zur zweiten Vorlagefrage stellte der EuGH zu C‑135/19 klar, dass die VO (EG) 883/2004 dahin auszulegen ist, dass sie einer Situation nicht entgegensteht, in der eine Person, die in ihrem Herkunftsmitgliedstaat nicht mehr sozialversichert ist, nachdem sie dort ihre Erwerbstätigkeit aufgegeben und ihren Wohnsitz in einen anderen Mitgliedstaat verlegt hat, in dem sie gearbeitet und den größten Teil ihrer Versicherungszeiten zurückgelegt hat, von der zuständigen Stelle ihres Herkunftsmitgliedstaats die Gewährung einer Leistung über das Rehabilitationsgeld versagt wird, da diese Person nicht den Rechtsvorschriften ihres Herkunftsmitgliedstaats unterliegt, sondern den Rechtsvorschriften des Mitgliedstaats, in dem sie ihren Wohnsitz hat (siehe dazu Fuchs, NZS‑Jahresrevue 2020: Die Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union zum Sozialrecht, NZS 2020, 121 [121 f]).

[13] 2.3 Der EuGH verwies auf die Regel der Einheitlichkeit der Sozialvorschriften in Art 11 Abs 1 sowie die Zuständigkeitsregel des Art 11 Abs 3 lit e der VO (EG) 883/2004 , wonach eine Person, die keine Beschäftigung oder selbständige Erwerbstätigkeit ausübt, nur den Sozialrechtsvorschriften ihres Wohnmitgliedstaats unterliegt (Rn 52). Die Versagung des Rehabilitationsgeldes führt nicht dazu, dass eine Person vom Anwendungsbereich der fraglichen Rechtsvorschriften ausgeschlossen wird, für die diese Rechtsvorschriften nach der VO (EG) 883/2004 gelten, und ihr somit der Schutz auf dem Gebiet der sozialen Sicherheit vorenthalten wird, weil keine nationalen Rechtsvorschriften für sie gelten (Rn 53).

[14] 3.1 Der Oberste Gerichtshof qualifizierte in dem nach Einlangen der Entscheidung des EuGH zu 10 ObS 35/20z fortgesetzten Anlassverfahren und in mehreren Folgeentscheidungen (10 ObS 54/20v; 10 Ob 41/20g; 10 ObS 64/20i; 10 ObS 38/20s, 10 ObS 36/20x; RS0132457) das österreichische Rehabilitationsgeld als Leistung bei Krankheit im Sinn des Art 3 Abs 1 lit a VO (EG) 883/2004 . Die Kläger würden nach Einstellung ihrer Erwerbstätigkeit und Verlegung ihres Wohnsitzes in einen anderen Mitgliedstaat ausschließlich den Sozialrechtsvorschriften ihres Wohnmitgliedstaats unterliegen und nicht mehr dem System der sozialen Sicherheit des Herkunftsstaats angehören. Damit bestehe keine Verpflichtung, das Rehabilitationsgeld an die im EU‑Ausland wohnenden Kläger zu zahlen.

[15] 3.2 Seit der klaren Einordnung des österreichischen Rehabilitationsgeldes als Leistung bei Krankheit im Sinn des Art 3 Abs 1 lit a VO (EG) 883/2004 durch die Entscheidung des EuGH vom 5. 3. 2020, C‑135/19 und der darauf basierenden österreichischen höchstgerichtlichen Judikatur ist die in der früheren Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs (10 ObS 133/15d und andere) vertretene Ansicht, dem Rehabilitationsgeld komme aufgrund seiner Berührungspunkte mit Leistungen bei Invalidität ein Sondercharakter zu, nicht mehr aufrecht zu erhalten.

[16] 3.3 Nach den unmissverständlichen Vorgaben des EuGH in seiner Entscheidung C‑135/19 ist es ausgeschlossen, die Zuständigkeitsregelung des Art 11 Abs 3 lit e der VO (EG) 883/2004 unter dem Aspekt der unionsrechtlichen Freizügigkeit auszulegen und damit den Export des Rehabilitationsgeldes im Sinn der früheren, sich insbesondere an den Überlegungen des EuGH in seinem Urteil vom 30. 6. 2011, C‑388/09 , da Silva Martins, orientierenden Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs zu rechtfertigen (aA Sonntag, Erste EuGH‑Entscheidung zur Koordinierung des Rehabiliationsgeldes. Das EuGH‑Urteil Pensionsversicherungsanstalt gegen CW überzeugt weder in Begründung noch im Ergebnis, ASoK 2020, 242).

[17] 3.4 In dieser Entscheidung hatte der EuGH das deutsche Pflegegeld als eine einer Leistung bei Krankheit gleichgestellte Leistung qualifiziert, billigte ihr jedoch einen Sondercharakter zu, der bei Auslegung der Zuständigkeitsregeln zu beachten sei (Rz 48 und 69). Das deutsche Pflegegeld stelle die Gegenleistung für Beiträge dar, welche die betroffene Person aufgrund eines eigenständigen Versicherungssystems gezahlt habe, das nicht das Risiko der Krankheit im eigentlichen Sinn betreffe, sondern das des Sondercharakters (Rz 74, 78). Der Gerichtshof sah es daher als nicht mit dem Zweck von Art 48 AEUV vereinbar an, dass der aus Portugal stammende, jahrelang in Deutschland beschäftigte Kläger nach der Rückkehr in den Herkunftsstaat das bisher bezogene deutsche Pflegegeld nur deshalb nicht mehr erhielt, weil er nach den unionsrechtlichen Koordinierungsregelungen nach der Rückkehr in den Herkunftsstaat nur dessen Rechtsvorschriften für Leistungen bei Krankheit im eigentlichen Sinn unterlag (Rz 78).

[18] 4.1 Hier unterlag der Kläger seit April 2010 während der Ausübung seiner Beschäftigung in Deutschland zufolge Art 11 Abs 3 lit a VO (EG) 883/2004 sowie seit der krankheitsbedingten Aufgabe der Beschäftigung zufolge Art 11 Abs 3 lit e VO (EG) 883/2004 ausschließlich den Rechtsvorschriften Deutschlands als Beschäftigungs- bzw Wohnstaat, soweit Leistungen bei Krankheit betroffen sind. Dem österreichischen Rehabilitationsgeld kommt gegenüber anderen Leistungen bei Krankheit im eigentlichen Sinn kein Sondercharakter zu.

[19] 4.2 Die Leistungszuständigkeit nach der VO (EG) 883/2004 für versicherte Personen, die keine Beschäftigung (mehr) ausüben, bestimmt sich ausschließlich nach dem Wohnort und nicht danach, in welchem Mitgliedstaat die versicherte Person die meisten Versicherungszeiten erworben hat. Wenn sich der EuGH zu C‑135/19 auf den Erwerb des größten Teils der Versicherungszeiten in einem anderen Mitgliedstaat (Deutschland) bezieht, so antwortet er damit auf die zweite, zu 10 ObS 66/18f gestellte Vorlagefrage. Mit seinen Formulierungen billigt der Gerichtshof dieser Tatsache aber keine Relevanz für den zu klärenden Export des österreichischen Rehabilitationsgeldes zu. Er begründet seine Antwort vielmehr damit, dass die versicherte Person nicht den Rechtsvorschriften ihres Herkunftsmitgliedstaats unterliegt, sondern jenen des Wohnmitgliedstaats. Ein Abweichen von den Zuständigkeitsregeln der VO (EG) 883/2004 als Folge einer Beschränkung der primärrechtlichen Freizügigkeit wird nicht einmal erwähnt. So wie im vorliegenden Fall führte der Wechsel der Leistungszuständigkeit auch nicht zum Verlust einer zuvor in Österreich bezogenen Leistung.

[20] 5.1 Ergebnis:

[21] Der Kläger unterliegt für den noch strittigen Zeitraum von 1. 10. 2018 bis 31. 1. 2020 ausschließlich den Sozialrechtsvorschriften des Wohnmitgliedstaats Deutschland und gehört nicht mehr dem österreichischen System der sozialen Sicherheit an. Es besteht keine Verpflichtung, das österreichische Rehabilitationsgeld an den bis 31. 1. 2020 in Deutschland wohnenden Kläger zu zahlen.

[22] 6. Der Revision des Klägers ist deshalb nicht Folge zu geben.

[23] 7. Die Voraussetzungen für einen Kostenzuspruch nach Billigkeit iSd § 77 Abs 1 Z 2 lit b ASGG werden nicht dargelegt.

Lizenziert vom RIS (ris.bka.gv.at - CC BY 4.0 DEED)

Stichworte