OGH 10ObS57/17f

OGH10ObS57/17f18.5.2017

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits‑ und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten Univ.‑Prof. Dr. Neumayr als Vorsitzenden, den Hofrat Dr. Schramm und die Hofrätin Dr. Fichtenau sowie die fachkundigen Laienrichter Mag. Dr. Johanna Biereder (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Mag. Werner Pletzenauer (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei A*****, Dänemark, gegen die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt, 1021 Wien, Friedrich-Hillegeist-Straße 1, vertreten durch Dr. Josef Milchram und andere Rechtsanwälte in Wien, wegen Berufsunfähigkeitspension, über die außerordentliche Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht in Arbeits‑ und Sozialrechtssachen vom 8. November 2016, GZ 10 Rs 83/16y‑44, den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2017:010OBS00057.17F.0518.000

 

Spruch:

Die außerordentliche Revision wird gemäß § 508a Abs 2 ZPO mangels der Voraussetzungen des § 502 Abs 1 ZPO zurückgewiesen.

 

Begründung:

Der 1968 geborene Kläger ist dänischer Staatsbürger. Er hatte seinen Wohnsitz vorerst in der Tschechischen Republik. Wie sich aus der Aktenlage ergibt, lebt er nunmehr in Dänemark. Er hat keinen Beruf erlernt und erwarb in Österreich von 1993 bis 2002 insgesamt 75 Beitragsmonate der Pflichtversicherung aufgrund einer Erwerbstätigkeit. Von 1. 10. 2010 bis 30. 9. 2014 bezog er in Österreich von der beklagten Pensionsversicherungsanstalt eine befristet gewährte Berufsunfähigkeitspension. Bei ihm liegt vorübergehende Berufsunfähigkeit in der Dauer von zumindest sechs Monaten vor.

Mit Bescheid vom 3. 10. 2014 lehnte die beklagte Partei den Antrag auf Weitergewährung der befristeten Berufsunfähigkeitspension mit der Begründung ab, dass der Kläger nicht dauerhaft berufsunfähig sei. Ab 1. 10. 2014 liege jedoch vorübergehende Berufsunfähigkeit vor, weshalb Anspruch auf medizinische Maßnahmen der Rehabilitation (Therapiemaßnahmen) bestehe. Maßnahmen der beruflichen Rehabilitation seien nicht zweckmäßig. Aus der Bescheidbegründung ergibt sich, dass grundsätzlich Anspruch auf

Rehabilitationsgeld aus der gesetzlichen österreichischen Krankenversicherung bestehe, allerdings keine Leistungszuständigkeit der österreichischen Kranken-versicherung.

Das Erstgericht wies das Begehren auf Berufsunfähigkeitspension ab und sprach dem Kläger

Rehabilitationsgeld im gesetzlichen Ausmaß ab dem 1. 10. 2014 für die Dauer seiner vorübergehenden Berufsunfähigkeit zu.

Das Berufungsgericht gab der Berufung der Beklagten nicht Folge und ließ die Revision zu.

Rechtliche Beurteilung

Die gegen das Urteil des Berufungsgerichts erhobene Revision der beklagten Partei ist nicht zulässig.

1. Das Vorliegen einer Rechtsfrage von erheblicher Bedeutung ist im Zeitpunkt der Entscheidung über das Rechtsmittel durch den Obersten Gerichtshof zu beurteilen. Eine zur Zeit der Einbringung des Rechtsmittels tatsächlich erhebliche Rechtsfrage fällt daher weg, wenn die bedeutsame Rechtsfrage durch eine andere Entscheidung des Obersten Gerichtshofs geklärt wird (RIS‑Justiz RS0112921 [T5]; RS0112769 [T11]).

2. Der Oberste Gerichtshof hat in der nach Einbringung der Revision ergangenen Entscheidung 10 ObS 133http://www.ris.bka.gv.at/Ergebnis.wxe?Abfrage=Justiz&GZ=10ObS133/15d&SkipToDocumentPage=True&SucheNachRechtssatz=False&SucheNachText=True zu den im Revisionsverfahren allein noch strittigen Fragen der Zuständigkeit Österreichs zur Zahlung und Verpflichtung zum Export von

Rehabilitationsgeld ausführlich Stellung genommen.

Nach dem dieser Entscheidung zugrunde liegenden Sachverhalt hatte die damalige Klägerin in Österreich Versicherungszeiten erworben und dann von der Beklagten eine befristete Invaliditätspension bezogen, an die der Rehabilitationsgeldbezug unmittelbar anschließen sollte. Der Wohnsitz der Klägerin lag – jedenfalls bei Antragstellung auf Weitergewährung – in der Bundesrepublik Deutschland.

Der Oberste Gerichtshof kam zusammengefasst zu folgenden Ergebnissen:

3.1 Im Kontext der Sozialrechtskoordinierung stellt das

Rehabilitationsgeld eine Geldleistung bei Krankheit im Sinn des Art 3 Abs 1 lit a der Verordnung (EG) Nr 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (in weiterer Folge: VO 883/2004 ) dar. Diese Einordnung als Geldleistung bei Krankheit hat Auswirkungen auf die unionsrechtliche Leistungszuständigkeit nach der VO 883/2004 .

3.2 Grundsatz der Koordinierungsregelungen der VO 883/2004 ist nach ihrem Art 11 Abs 1, dass Personen für die die Verordnung gilt, den Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats unterliegen.

3.3 Welche Rechtsvorschriften anwendbar sind, bestimmt sich zunächst nach den Sonderkollisionsnormen der Titel III und V der VO 883/2004 , dann nach den Bestimmungen in Art 12–16 und schließlich nach Art 11 Abs 3 der VO 883/2004 .

3.4 Ist an sich der ausländische Wohnsitzmitgliedstaat für die Erbringung der Leistungen bei Krankheit zuständig, ist allerdings der Sondercharakter des Rehabilitationsgeldes zu beachten, das nicht eindeutig den Leistungen bei Krankheit bzw den Leistungen bei Invalidität zugeordnet werden kann (vgl EuGH C‑388/09, da Silva Martins, Rz 48, zum deutschen Pflegegeld). Diese Charakterisierung kann zu einer primärrechtlichen begründeten Leistungspflicht (auch Exportpflicht) des nach den Bestimmungen der VO 883/2004 nicht leistungszuständigen Mitgliedstaats führen.

3.5 Die Annahme einer alleinigen Zuständigkeit des ausländischen Wohnsitzmitgliedstaats und der damit einhergehende Leistungsverlust trotz bereits im Inland erworbener Versicherungszeiten kann nämlich in bestimmten Fällen die primärrechtlich verbürgte unionsrechtliche Freizügigkeit beschränken. Dabei spielt es keine Rolle, ob es sich um die Inanspruchnahme der Arbeitnehmerfreizügigkeit gemäß Art 45 ff AEUV oder der allgemeinen Freizügigkeit von Unionsbürgern gemäß Art 18 ff AEUV handelt (EuGH C‑503/09, Stewart, Rz 77 ff).

3.6 Der Gerichtshof der Europäischen Union stellt darauf ab, ob die Leistung mit Sondercharakter eine begünstigende Gegenleistung für die in einem bestimmten Mitgliedstaat (hier: Österreich) in ein separates Versicherungssystem eingezahlten Versicherungsbeiträge darstellt. Der Sondercharakter führt (nur) dann zur Leistungszuständigkeit dieses Mitgliedstaats, wenn die betroffene Person diese Vergünstigung deshalb verliert, weil sie von ihrem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch gemacht hat, indem sie ihren Wohnsitz in einen anderen Mitgliedstaat verlegt. Eine Beschränkung der Freizügigkeit wird insbesondere dann vorliegen, wenn der aktuelle Wohnsitzmitgliedstaat keine dem

Rehabilitationsgeld entsprechende Leistung kennt.

3.7 In diesem Sinn ist im Einzelfall zu prüfen, ob ein primärrechtlich fundierter Exportanspruch gegeben ist. Das

Rehabilitationsgeld ist eine Vergünstigung, die eine Gegenleistung für die vom Versicherten in Österreich entrichteten Pensionsversicherungsbeiträge darstellt. Aufgrund des Sondercharakters des Rehabilitationsgeldes ist im Zuständigkeitswechsel und im Leistungsverlust allein durch die Wohnsitzverlegung eine Beschränkung der primärrechtlichen Freizügigkeit zu sehen. Der Leistungsverlust wäre auf die Inanspruchnahme der Freizügigkeit zurückzuführen. Der Wohnsitzmitgliedstaat Deutschland kennt keine dem

Rehabilitationsgeld entsprechende Geldleistung. Die Nahebeziehung zum österreichischen System der sozialen Sicherheit ist durch die erworbenen Versicherungszeiten sowie durch den Bezug einer befristeten Invaliditätspension dokumentiert.

3.8 Um die Vereinbarkeit mit dem Primärrecht herzustellen, ist der Umstand, dass der Versicherte Versicherungszeiten in Österreich erworben hat, deretwegen überhaupt erst Anspruch auf

Rehabilitationsgeld besteht, in die Beurteilung der Leistungszuständigkeit einzubeziehen. Da das

Rehabilitationsgeld als Leistung zwischen Krankheit und Invalidität einzuordnen ist und die Anknüpfung an erworbene Versicherungszeiten den Bestimmungen über Leistungen bei Invalidität entsprechen, sind diese Bestimmungen bei der Prüfung der Zuständigkeit für die einzelnen Versicherungszeiten zu beachten.

3.9 Um den Leistungsverlust zu verhindern und die Vereinbarkeit mit dem Primärrecht herzustellen, haben dem Versicherten die Regeln des Art 45 ff iVm Art 50 ff VO 883/2004 zugute zu kommen. Erfüllte er die übrigen Anspruchsvoraussetzungen für das

Rehabilitationsgeld nach nationalem Recht, ist dieses nach Art 21 Abs 1 der VO 883/2004 in die Bundesrepublik Deutschland zu exportieren.

4.1 Diese Grundsätze, die das Berufungsgericht in seiner Entscheidung beachtet hat, treffen auch im vorliegenden Fall zu.

Demnach ist auch für den Kläger die Zuständigkeit seines jeweils im EU‑Ausland gelegenen Wohnsitzstaats für Geldleistungen bei Krankheit gegeben, sodass grundsätzlich kein Anspruch auf

Rehabilitationsgeld gegeben wäre. Im Hinblick auf den Sondercharakter des Rehabilitationsgeldes kann aber auf die in der Entscheidung 10 ObS 133/15d enthaltenen Aussagen verwiesen werden. Um den Leistungsverlust zu verhindern und die Vereinbarkeit mit dem Primärrecht herzustellen, ist unter Anwendung der Art 45 ff iVm Kapitel 5 der VO 883/2004 an die in Österreich erworbenen Versicherungszeiten anzuknüpfen. Da der Kläger die Anspruchsvoraussetzungen für das

Rehabilitationsgeld nach nationalem Recht erfüllt, ist dieses nach Art 21 Abs 1 VO 883/2004 an seinen Wohnsitz im EU-Ausland zu exportieren.

Ausgehend davon war die Revision zurückzuweisen.

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