OGH 10ObS31/17g

OGH10ObS31/17g25.4.2017

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits‑ und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten Univ.‑Prof. Dr. Neumayr als Vorsitzenden, die Hofräte Dr. Schramm und Mag. Ziegelbauer sowie die fachkundigen Laienrichter Dr. Christoph Wiesinger (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Mag. Hannes Schneller (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei N*****, Deutschland, vertreten durch Dr. Ingrid Neyer, Rechtsanwältin in Feldkirch, gegen die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt, 1021 Wien, Friedrich-Hillegeist-Straße 1, vertreten durch Dr. Josef Milchram, Dr. Anton Ehm und Mag. Thomas Mödlagl, Rechtsanwälte in Wien, wegen Invaliditätspension (Rehabilitationsgeld), über die Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Innsbruck als Berufungsgericht in Arbeits‑ und Sozialrechtssachen vom 29. November 2016, GZ 25 Rs 21/16y‑10, womit das Urteil des Landesgerichts Feldkirch als Arbeits‑ und Sozialgericht vom 14. Oktober 2015, GZ 33 Cgs 148/15i‑6, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2017:010OBS00031.17G.0425.000

 

Spruch:

Die Revision wird zurückgewiesen.

Die beklagte Partei ist schuldig, der klagenden Partei binnen 14 Tagen die mit 418,78 EUR (darin enthalten 69,80 EUR USt) bestimmten Kosten des Verfahrens zu ersetzen.

 

Begründung:

Die 1985 geborene Klägerin hat ihren Wohnsitz in Deutschland. Sie bezog von der Beklagten seit 1. 9. 2009 eine zuletzt bis 31. 7. 2014 befristete Invaliditätspension. Bei der Klägerin besteht über den 1. 8. 2014 hinaus vorübergehende Invalidität für die Dauer von mindestens sechs Monaten.

Mit Bescheid vom 23. 4. 2015 lehnte die beklagte Pensionsversicherungsanstalt die Weitergewährung der Invaliditätspension mit der Begründung ab, dass die Klägerin nicht dauerhaft invalid sei. Ab 1. 8. 2014 liege jedoch vorübergehende Invalidität vor, weshalb als Maßnahme der medizinischen Rehabilitation zur Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit der weitere Krankheitsverlauf abzuwarten sei. Maßnahmen der beruflichen Rehabilitation seien nicht zweckmäßig. Aus der Bescheidbegründung ergibt sich, dass grundsätzlich Anspruch auf Rehabilitationsgeld aus der gesetzlichen österreichischen Krankenversicherung bestehe. Leistungszuständig sei aber nicht diese, sondern der für die Klägerin zuständige ausländische Sozialversicherungsträger.

Das Erstgericht stellte fest, dass die Klägerin ab 1. 8. 2014 für die Dauer der vorübergehenden Invalidität Anspruch auf Rehabilitationsgeld aus der Krankenversicherung im gesetzlichen Ausmaß habe.

Das Berufungsgericht gab der von der Beklagten gegen dieses Urteil erhobenen Berufung nicht Folge und sprach aus, dass die Revision zulässig sei.

Gegen dieses Urteil richtet sich die Revision der Beklagten, mit der sie die Abweisung des Klagebegehrens anstrebt.

In ihrer Revisionsbeantwortung beantragt die Klägerin, der Revision nicht Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision ist unzulässig.

1. Das Vorliegen einer erheblichen Rechtsfrage ist im Zeitpunkt der Entscheidung über das Rechtsmittel durch den Obersten Gerichtshof zu beurteilen. Eine zur Zeit der Einbringung des Rechtsmittels tatsächlich erhebliche Rechtsfrage fällt daher weg, wenn die bedeutsame Rechtsfrage durch eine andere Entscheidung des Obersten Gerichtshofs geklärt wird (RIS‑Justiz RS0112921 [T5]; RS0112769 [T11]).

2. Der Oberste Gerichtshof hat in der zwar vor Einbringung der Revision ergangenen, aber erst nach ihrer Einbringung dem auch dort beklagten Pensionsversicherungsträger zugestellten Entscheidung 10 ObS 133/15d zu den hier strittigen Fragen der Zuständigkeit Österreichs zur Zahlung und Verpflichtung zum Export von Rehabilitationsgeld ausführlich Stellung genommen.

Nach dem dieser Entscheidung zugrunde liegenden Sachverhalt hatte die damalige Klägerin in Österreich Versicherungszeiten erworben und dann von der Beklagten eine befristete Invaliditätspension bezogen, an die der Rehabilitationsgeldbezug unmittelbar anschließen sollte. Der Wohnsitz der Klägerin lag – jedenfalls bei Antragstellung auf Weitergewährung – in der Bundesrepublik Deutschland.

Der Oberste Gerichtshof kam zusammengefasst zu folgenden Ergebnissen:

3.1 Im Kontext der Sozialrechtskoordinierung stellt das Rehabilitationsgeld eine Geldleistung bei Krankheit im Sinne des Art 3 Abs 1 lit a der Verordnung (EG) Nr 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit dar. Diese Einordnung als Geldleistung bei Krankheit hat Auswirkungen auf die unionsrechtliche Leistungszuständigkeit nach der VO 883/2004 .

3.2 Grundsatz der Koordinierungsregelungen der VO 883/2004 ist nach ihrem Art 11 Abs 1, dass Personen für die die Verordnung gilt, den Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats unterliegen.

3.3 Welche Rechtsvorschriften anwendbar sind, bestimmt sich zunächst nach den Sonderkollisionsnormen der Titel III und V der VO 883/2004 , dann nach den Bestimmungen in Art 12‑16 und schließlich nach Art 11 Abs 3 der VO 883/2004 .

3.4 Ist an sich der ausländische Wohnsitzmitgliedstaat für die Erbringung der Leistung bei Krankheit zuständig, ist allerdings der Sondercharakter des Rehabilitationsgeldes zu beachten, das nicht eindeutig den Leistungen bei Krankheit bzw den Leistungen bei Invalidität zugeordnet werden kann (vgl EuGH C‑388/09, da Silva Martins, Rz 48, zum deutschen Pflegegeld). Diese Charakterisierung kann zu einer primärrechtlich begründeten Leistungspflicht (auch Exportpflicht) des nach den Bestimmungen der VO 883/2004 nicht leistungszuständigen Mitgliedstaats führen.

3.5 Die Annahme einer alleinigen Zuständigkeit des ausländischen Wohnsitzmitgliedstaats und der damit einhergehende Leistungsverlust trotz bereits im Inland erworbener Versicherungszeiten kann nämlich in bestimmten Fällen die primärrechtlich verbürgte unionsrechtliche Freizügigkeit beschränken. Dabei spielt es keine Rolle, ob es sich um die Inanspruchnahme der Arbeitnehmerfreizügigkeit gemäß Art 45 ff AEUV oder der allgemeinen Freizügigkeit von Unionsbürgern gemäß Art 18 ff AEUV handelt (EuGH C‑503/09, Stewart , Rz 77 ff).

3.6 Der Gerichtshof der Europäischen Union stellt darauf ab, ob die Leistung mit Sondercharakter eine begünstigende Gegenleistung für die in einem bestimmten Mitgliedstaat (hier: Österreich) in ein separates Versicherungssystem eingezahlten Versicherungsbeiträge darstellt. Der Sondercharakter führt (nur) dann zur Leistungszuständigkeit dieses Mitgliedstaats, wenn die betroffene Person diese Vergünstigung deshalb verliert, weil sie von ihrem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch gemacht hat, indem sie ihren Wohnsitz in einen anderen Mitgliedstaat verlegt. Eine Beschränkung der Freizügigkeit wird insbesondere dann vorliegen, wenn der aktuelle Wohnsitzmitgliedstaat keine dem Rehabilitationsgeld entsprechende Leistung kennt.

3.7 In diesem Sinn ist im Einzelfall zu prüfen, ob ein primärrechtlich fundierter Exportanspruch gegeben ist. Das Rehabilitationsgeld ist eine Vergünstigung, die eine Gegenleistung für die vom Versicherten in Österreich entrichteten Pensionsversicherungsbeiträge darstellt. Aufgrund des Sondercharakters des Rehabilitationsgeldes ist im Zuständigkeitswechsel und Leistungsverlust allein durch die Wohnsitzverlegung eine Beschränkung der primärrechtlichen Freizügigkeit zu sehen. Der Leistungsverlust wäre auf die Inanspruchnahme der Freizügigkeit zurückzuführen. Der Wohnsitzmitgliedstaat Deutschland kennt keine dem Rehabilitationsgeld entsprechende Geldleistung. Die Nahebeziehung zum österreichischen System der sozialen Sicherheit ist durch den Bezug einer befristeten Invaliditätspension, daher einer Geldleistung infolge von von der Klägerin im Inland erworbenen Versicherungszeiten dokumentiert.

3.8 Um die Vereinbarkeit mit dem Primärrecht herzustellen, ist der Umstand, dass die Versicherte Versicherungszeiten in Österreich erworben hat, deretwegen überhaupt erst Anspruch auf Rehabilitationsgeld besteht, in die Beurteilung der Leistungszuständigkeit einzubeziehen. Da das Rehabilitationsgeld als Leistung zwischen Krankheit und Invalidität einzuordnen ist und die Anknüpfung an erworbene Versicherungszeiten den Bestimmungen über Leistungen bei Invalidität entsprechen, sind diese Bestimmungen bei der Prüfung der Zuständigkeit für die einzelnen Versicherungszeiten zu beachten.

3.9 Um den Leistungsverlust zu verhindern und die Vereinbarkeit mit dem Primärrecht herzustellen, haben der Versicherten die Regeln des Art 45 ff iVm Art 50 ff VO 883/2004 zugute zu kommen. Erfüllte sie die übrigen Anspruchsvoraussetzungen für das Rehabilitationsgeld nach nationalem Recht, ist dieses nach Art 21 Abs 1 der VO 883/2004 in die Bundesrepublik Deutschland zu exportieren.

4. Diese Grundsätze, die das Berufungsgericht in seiner Entscheidung beachtet hat, treffen auch im vorliegenden Fall zu. Ausgehend davon hat das Berufungsgericht den Anspruch der Klägerin auf Rehabilitationsgeld zutreffend bejaht.

Die Revision ist daher zurückzuweisen.

5. Die Kostenentscheidung beruht auf § 77 Abs 1 Z 2 lit a ASGG. Konnte der Revisionsgegner bei Erstattung der Rechtsmittelbeantwortung die Unzulässigkeit der Revision nicht erkennen, weil zu diesem Zeitpunkt jene Entscheidung des Obersten Gerichtshofs noch nicht ergangen war, welche die auch im Anlassfall entscheidungswesentliche erhebliche Rechtsfrage beantwortete, so stehen ihm in analoger Anwendung des § 50 Abs 2 ZPO die Kosten der Revisionsbeantwortung auch dann zu, wenn er auf die Unzulässigkeit der Revision nicht hinwies (RIS‑Justiz RS0123861). Davon kann – unter Berücksichtigung der in § 77 Abs 1 Z 2 lit b ASGG zum Ausdruck kommenden Wertungen des Gesetzgebers – im vorliegenden Einzelfall gerade noch ausgegangen werden, weil die Entscheidung 10 ObS 133/15d erst am 30. 1. 2017, daher nur wenige Tage vor Ablauf der der Klägerin zur Verfügung stehenden Frist zur Einbringung der Revisionsbeantwortung (am 7. 2. 2017) und der von ihr tatsächlich am 6. 2. 2017 elektronisch eingebrachten Revisionsbeantwortung, in der Datenbank RIS‑Justiz veröffentlicht wurde.

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