European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2021:0200DS00012.20Z.0315.000
Spruch:
Der Beschwerde wird nicht Folge gegeben.
Gründe:
[1] Der Kammeranwalt beantragte am 1. Oktober 2020 aufgrund des ihm zur Kenntnis gebrachten Aktenvermerks einer Mitarbeiterin der Treuhandeinrichtung der OÖ Rechtsanwaltskammer vom 8. September 2020 (AZ K 69/20) die Einleitung des Disziplinarverfahrens und die Bestellung eines Untersuchungskommissärs wegen des Verdachts der Disziplinarvergehen der Verletzung von Berufspflichten und der Beeinträchtigung von Ehre und Ansehen des Standes. Rechtsanwalt ***** habe sich nämlich dem Aktenvermerk zufolge während seines Urlaubs zumindest vom 3. September bis 13. September 2020 vom Elektronischen Rechtsverkehr (ERV) abgemeldet, wodurch es der Treuhandeinrichtung zu THB 2020/4241 nicht mehr möglich gewesen sei, die Bestätigung der von ***** am 2. September 2020 erstattete Erstmeldung am darauffolgenden Tag per ERV an ihn zu übermitteln. Rechtsanwalt ***** habe der Mitarbeiterin der Treuhandeinrichtung auf telefonische Nachfrage am 3. September 2020 mitgeteilt, er befände sich bis 13. September 2020 auf Urlaub und er wäre „Einzelkämpfer“, weshalb sie ihm die Erstmeldung am 14. September 2020 per ERV übermitteln solle.
[2] Mit dem angefochtenen Beschluss legte der Disziplinarrat gemäß § 29 Abs 2 DSt die Anzeige zurück. Begründend verwies er darauf, dass eine wie hier zeitlich beschränkte urlaubsbedingte Abwesenheit eines Rechtsanwalts weder als Hinderung an der Berufsausübung (§ 34a Abs 1 RAO) noch als andauernde Verhinderung oder längere Abwesenheit im Sinn des § 14 RAO zu verstehen sei, solange diese Abwesenheit nicht länger als 14 (Kalender‑)Tage andauere, vorausgesetzt der Rechtsanwalt trägt dafür Sorge, dass seinen Mandanten aufgrund der Abwesenheit keine Nachteile entstehen. Der Disziplinarrat schließe sich damit der von den Präsidenten der Disziplinarräte in ihrer Sitzung vom 2. Oktober 2020 vertretenen Rechtsauffassung an, wonach ein Urlaub (Ortsabwesenheit) von Rechtsanwälten verbunden mit der „Schließung“ der Kanzlei (Abmeldung vom ERV/Einrichtung eines Urlaubspostfaches für sonstige Post) mit der Folge, dass keine fristauslösenden Zustellungen erfolgen können, für eine angemessene, 14 Tage nicht übersteigende Dauer unter den sonst genannten Rahmenbedingungen zulässig sei. Die vorübergehende Abwesenheit und die damit verbundene Unerreichbarkeit für Ämter, Behörden und Gerichte stelle dann auch keinen Missbrauch dar. Werde darüber hinaus Sorge getragen, dass den Mandanten im Bedarfsfall zeitnahe ein Ansprechpartner oder sonst die Möglichkeit zur Kontaktaufnahme zur Verfügung steht, sei zudem zu berücksichtigen, dass Substitutionen, insbesondere in umfangreichen Verfahren, aber auch in Treuhandsachen, bei einer kurzen, zwei Wochen nicht überschreitenden urlaubsbedingten Abwesenheit des Rechtsanwalts zumeist unzumutbar, vom Mandanten nicht gewollt und mit untunlichen Aufwänden verbunden wären, die in keiner Relation zur Sache stehen. Würde man das nicht gestatten, mache man es kleineren Anwaltskanzleien und sogenannten „Einzelkämpfern“ praktisch unmöglich, auf Urlaub zu gehen.
Rechtliche Beurteilung
[3] Gegen diesen Rücklegungsbeschluss richtet sich die rechtzeitige, die Bestellung eines Untersuchungskommissärs begehrende Beschwerde des Kammeranwalts, der durch die mit einer wenn auch nur vorübergehenden Abmeldung vom ERV verbundenen Verhinderung der Zustellung von Schriftstücken eine Verletzung der sich aus § 9 Abs 1a RAO, § 40 RL‑BA 2015 und § 89c Abs 5 GOG ergebenden Verpflichtung sieht. Im Fall der Abmeldung würden die anderen Teilnehmer am ERV gezwungen, mit zusätzlichem (auch finanziellem) Mehraufwand eine postalische Zustellung zu veranlassen, um etwa der Verpflichtung nach § 112 ZPO nachzukommen. Das widerspräche den Erfordernissen einer geordneten Rechtspflege, die § 9 Abs 1a RAO anstrebt. Auch werde damit die sich aus den genannten Bestimmungen ergebende Verpflichtung, alle Fristen während der Abwesenheit zu beachten und einlangende Schriftstücke zeitgerecht zu bearbeiten, faktisch unterlaufen. Das wiederum widerspräche der Wahrung und Durchsetzung der dem Rechtsanwalt anvertrauten Interessen der Mandanten.
[4] Der Oberste Gerichtshof hat erwogen:
[5] Ein Rücklegungsbeschluss ist dann zu fassen, wenn schon nach dem Inhalt der Anzeige weder eine Berufspflichtenverletzung noch eine Beeinträchtigung der Ehre oder des Ansehens des Standes vorliegt oder eine Verfolgung wegen Verjährung ausgeschlossen ist (§ 29 Abs 1 1. Fall iVm § 22 Abs 2 DSt) oder das Disziplinarvergehen nach § 3 DSt nicht zu verfolgen ist (Lehner in Engelhart et al, RAO10 § 29 DSt Rz 1).
[6] Durch eine Abwesenheit des Rechtsanwalts dürfen die Interessen der Mandanten nicht beeinträchtigt (§ 9 Abs 1 1. Satz RAO) und die Sorgfalt und Umsicht der Kanzleiführung (§ 40 Abs 1, Abs 2 RL‑BA 2015) nicht gefährdet werden. Insofern hat der Rechtsanwalt im Verhinderungsfall zur Vermeidung von Nachteilen für seine Mandanten gemäß § 14 1. Satz RAO einen anderen Rechtsanwalt zu substituieren, wobei die Substitution im Fall andauernder Verhinderung oder längerer Abwesenheit dem Ausschuss der Rechtsanwaltskammer anzuzeigen ist (Rohregger in Engelhart et al, RAO10 § 14 RAO Rz 4, 22; RIS‑Justiz RS0071988, RS0056549). § 14 letzter Satz RAO stellt im Gegensatz dazu klar, dass der Rechtsanwalt – selbst im Fall einer längeren Abwesenheit – keine Urlaubsbewilligung braucht. Er hat allerdings – im Sinn der ihn nach den §§ 9 Abs 1, 14 RAO, § 40 Abs 1 und Abs 2 RL‑BA 2015 treffenden Pflichten – dafür Sorge zu tragen, dass auch während seiner urlaubsbedingten Abwesenheit alle Fristen beachtet, neue Fristen in Evidenz genommen, einlangende Schriftstücke zeitgerecht bearbeitet und dringliche Angelegenheiten (gegebenenfalls durch Substitution) einer rechtzeitigen Erledigung zugeführt werden, mit anderen Worten, dass seinen Mandanten durch seine Abwesenheit keine Nachteile entstehen (Rohregger in Engelhart et al, RAO10 § 14 RAO Rz 26, RIS‑Justiz RS0071988 [T2]). Werden die Interessen des Mandanten gewahrt (insbesondere durch Erreichbarkeit des Rechtsanwalts in dringenden Fällen oder durch Substitution), steht der (vorübergehenden) Schließung der Kanzlei, etwa für Urlaubszwecke, kein gesetzliches Verbot entgegen, sofern die Schließung nicht für missbräuchliche Zwecke verwendet wird.
[7] Nach § 9 Abs 1a RAO ist der Rechtsanwalt entsprechend den technischen und organisatorischen Möglichkeiten und den Erfordernissen einer geordneten Rechtspflege und nach Maßgabe von Richtlinien gemäß § 37 Abs 1 Z 6 RAO verpflichtet, für die zur Wahrung, Verfolgung und Durchsetzung der ihm anvertrauten Interessen notwendigen Einrichtungen Sorge zu tragen, insbesondere um sich im Verkehr mit Gerichten des elektronischen Rechtsverkehrs (§ 89a GOG) bedienen zu können. In diesem Sinn hat der Rechtsanwalt nach § 40 Abs 4 RL‑BA Einrichtungen zur Beteiligung am ERV mit den Gerichten zu schaffen.
[8] Die Teilnahme am elektronischen Rechtsverkehr im Verkehr mit Gerichten (§§ 89a ff GOG; ERV 2006) und Staatsanwaltschaften (§ 34a Abs 5 StAG) ist für Rechtsanwälte aufgrund des § 89c Abs 5 Z 1 GOG nach Maßgabe der technischen Möglichkeiten verpflichtend (Engelhart in Engelhart et al, RAO10 § 40 RL‑BA 2015 Rz 17).
[9] Im Zusammenhang mit der Abwicklung von über die Treuhandeinrichtung der Rechtsanwaltskammer zu sichernden Treuhandschaften (§§ 10a Abs 2, 23 Abs 6 RAO) verpflichtet Punkt 7.8.4 des nach § 27 Abs 1 lit g) RAO erlassenen Statuts „Elektronisches Treuhandbuch der Oberösterreichischen Rechtsanwaltskammer (eTHB 2020)“ in der – hier relevanten – Fassung ab 1. Jänner 2020 („Statut“)den Rechtsanwalt dafür Sorge zu tragen, dass ihm die erforderlichen Einrichtungen zur Beteiligung am Elektronischen Treuhandbuch (vgl Punkte 7.8.1., 7.8.2. und 7.8.3. des Statuts) und demnach zur Übermittlung von Schriftstücken im Weg des ERV zwischen der Rechtsanwaltskammer, dem Rechtsanwalt und dem Kreditinstitut zur Verfügung stehen (vgl Punkte 5.7. und 7.8.6. des Statuts). Von dieser Verpflichtung kann der Rechtsanwalt – aber auch das nur befristet – aus besonderen berücksichtigungswürdigen Gründen befreit werden (vgl Punkt 7.8.5. des Statuts).
[10] Die in den genannten Bestimmungen enthaltenen Verpflichtungen des Rechtsanwalts im Verkehr mit Gerichten und Staatsanwaltschaften sowie – in concreto – mit der Treuhandeinrichtung der OÖ Rechtsanwaltskammer bedeuten jedoch nicht, dass der Rechtsanwalt für die genannten Institutionen und andere Teilnehmer am ERV permanent und uneingeschränkt erreichbar sein muss. Der Rechtsanwalt muss nur, nicht anders als im Fall sonstiger Abwesenheit, dafür Sorge tragen, dass dadurch die Interessen der Mandanten nicht beeinträchtigt werden. Auch Feil/Wenig (Anwaltsrecht8, 780 Rz 7) erwähnen in ihren Ausführungen zum elektronischen Rechtsverkehr die Möglichkeit einer vorübergehenden Abwesenheitsmeldung mit der Folge, dass dann die Zustellung der Schriftstücke eben in Papierform geschieht, ohne dies als unzulässig zu bezeichnen.
[11] Dementsprechend ist nach Ansicht des Obersten Gerichtshofs (vgl auch RIS‑Justiz RS0119857 [T4]) die vorübergehende Abwesenheitsmeldung im ERV nur dann disziplinär, wenn dadurch die Interessen der Mandanten des Rechtsanwalts nicht mehr ordnungsgemäß verfolgt werden können oder wenn den Mandanten aus dem Unterlassen der Teilnahme sonstige Nachteile erwachsen. Die Tatsache allein, dass die Teilnahme am ERV kurzfristig unterbrochen wird, stellt per se noch keine Beeinträchtigung der schutzwürdigen Interessen der Mandanten dar. Die mit der kurzfristigen Nichtteilnahme am ERV für Gerichte, Staatsanwaltschaften oder andere Institutionen sowie für die übrigen Teilnehmer zweifellos verbundene Beeinträchtigung ist bei einer Interessenabwägung nicht so weitgehend, um vom Rechtsanwalt die permanente Erreichbarkeit zu fordern; das gilt insbesondere mit Blick auf die Tätigkeit von Einzelanwälten oder sogenannten „kleinen Anwaltskanzleien“. Voraussetzung ist allerdings, dass die Abschaltung nicht missbräuchlich geschieht, etwa, um die ordnungsgemäße Durchführung von Verfahren zu hindern oder sonst Dritten zu schaden (vgl Rohregger in Engelhart et al, RAO10 § 14 RAO Rz 26).
[12] Rechtsanwalt ***** war – wie der Anruf durch die Mitarbeiterin der Treuhandeinrichtung zeigt – während seines Urlaubs telefonisch erreichbar. Die – innerhalb angemessener Frist vorzunehmende – Übermittlung der Bestätigung der Erstmeldung durch die Treuhandeinrichtung (vgl Punkt 13.2. des Statuts) löst weder Fristen noch sonstige unmittelbare Handlungspflichten des Rechtsanwalts aus, sodass eine Gefährdung der Interessen des eigenen Mandanten oder sonstiger Beteiligter durch die Übermittlung der Bestätigung der Erstmeldung vom 2. September 2020 (erst) am 14. September 2020 nicht ersichtlich ist.
[13] Nachdem sich in den Akten keinerlei Anhaltspunkte dafür finden lassen, dass die zehntägige Abmeldung vom ERV durch Rechtsanwalt ***** missbräuchlich erfolgte oder dass Interessen seiner Mandanten beeinträchtigt worden wären, lag darin weder eine Berufspflichtenverletzung noch eine Beeinträchtigung von Ehre oder Ansehen des Standes.
[14] Der Beschwerde war also – wie bereits die Generalprokuratur ausführte – nicht Folge zu geben.
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