OGH 10ObS141/20p

OGH10ObS141/20p24.11.2020

Der Oberste Gerichtshof hat in Arbeits‑ und Sozialrechtssachen durch den Vizepräsidenten Univ.‑Prof. Dr. Neumayr als Vorsitzenden sowie die Hofrätin Dr. Fichtenau und den Hofrat Mag. Ziegelbauer als weitere Richter (Senat gemäß § 11a Abs 3 ASGG) in der Sozialrechtssache der klagenden Partei S*, vertreten durch Mag. Alois Pirkner, Rechtsanwalt in Tamsweg, gegen die beklagte Partei Allgemeine Unfallversicherungsanstalt, 1200 Wien, Adalbert-Stifter-Straße 65–67, wegen Versehrtenrente, über den außerordentlichen Revisionsrekurs der klagenden Partei gegen den Beschluss des Oberlandesgerichts Linz als Rekursgericht in Arbeits‑ und Sozialrechtssachen vom 21. September 2020, GZ 12 Rs 62/20 d‑9, den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2021:E130215

 

Spruch:

Der außerordentliche Revisionsrekurs wird gemäß § 526 Abs 2 ZPO mangels der Voraussetzungen des § 528 Abs 1 ZPO zurückgewiesen.

 

Begründung:

[1] Die beklagte Allgemeine Unfallversicherungsanstalt anerkannte die Erkrankung des Klägers – durch Lärm verursachte Schwerhörigkeit – mit Bescheid vom 6. 3. 2020 als Berufskrankheit Nr 33 gemäß Anlage 1 zum ASVG und sprach aus, dass weder ein Anspruch auf Versehrtenrente noch ein Anspruch auf Bildung einer Gesamtrente mit dem Versicherungsfall vom 24. 11. 2018 bestehe.

[2] Dieser Bescheid wurde dem Kläger am 11. 3. 2020 mit der Post – unstrittig – wirksamzugestellt. Gegen diesen Bescheid richtet sich die am 29. 5. 2020 bei Gericht elektronisch eingebrachte Klage.

[3] Das Erstgericht wies die Klage wegen Unzulässigkeit des Rechtswegs gemäß § 73 ASGG zurück. Auch unter Berücksichtigung der durch § 2 1. COVID‑19‑JuBG normierten Fristenhemmung habe die vierwöchige Frist des § 67 Abs 2 ASGG zur Erhebung der Klage am 18. 5. 2020 geendet, sodass die erst am 29. 5. 2020 eingebrachte Klage verspätet und daher wegen Unzulässigkeit des Rechtswegs zurückzuweisen sei.

[4] Das Rekursgericht gab dem Rekurs des Klägers nicht Folge. Entgegen der Rechtsansicht des Klägers sei nicht § 1 Abs 1, sondern § 2 1. COVID‑19‑JuBG anzuwenden, sodass die Klage verspätet eingebracht worden sei. Der Revisionsrekurs sei mangels Vorliegens einer Rechtsfrage von erheblicher Bedeutung im Sinn des § 502 Abs 1 ZPO nicht zulässig.

[5] Gegen diesen Beschluss richtet sich der außerordentliche Revisionsrekurs des Klägers, mit dem dieser die Fortsetzung des Verfahrens unter Abstandnahme vom gebrauchten Zurückweisungsgrund der Unzulässigkeit des Rechtswegs anstrebt.

[6] Der außerordentliche Revisionsrekurs ist zwar wegen § 528 Abs 2 Z 2 ZPO nicht absolut unzulässig. Der Kläger zeigt jedoch in seinem Rechtsmittel keine Rechtsfrage von erheblicher Bedeutung im Sinn des § 528 Abs 1 ZPO auf.

Rechtliche Beurteilung

[7] Der Kläger macht geltend, dass keine Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs zur Abgrenzung des Anwendungsbereichs des § 1 Abs 1 von § 2 1. COVID‑19‑JuBG vorliege. Auf die Frist zur Einbringung einer Klage gemäß § 67 Abs 2 ASGG sei § 1 Abs 1 1. COVID‑19‑JuBG anzuwenden, denn es handle sich dabei um eine verfahrensrechtliche Frist. Auch eine teleologische Auslegung führe zu diesem Ergebnis, weil alle Argumente, die in den Erläuterungen des Gesetzgebers zu § 1 1. COVID‑19‑JuBG enthalten seien, auch auf die Frist des § 67 Abs 2 ASGG zutreffen. Es existiere keine sachliche Rechtfertigung dafür, dass die Frist des § 67 Abs 2 ASGG anders zu behandeln wäre, als andere verfahrensrechtliche Fristen.

[8] Diesem Standpunkt kann nicht gefolgt werden.

[9] 1. Zur besseren Übersichtlichkeit ist voranzustellen: Die §§ 1 und 2 1. COVID‑19‑JuBG wurden mit dem 2. COVID‑19‑Gesetz, BGBl I 2020/16, geschaffen und sind Teil des in dessen Art 21 enthaltenen „Bundesgesetzes betreffend Begleitmaßnahmen zu COVID‑19 in der Justiz“. § 1 Abs 1 dieses Bundesgesetzes wurde mit Art 32 Z 2 des 4. COVID‑19‑Gesetzes, BGBl I 2020/24, geändert. Auch die Kurzbezeichnung des Bundesgesetzes betreffend Begleitmaßnahmen zu COVID‑19 in der Justiz, 1. COVID‑19‑JuBG, wurde mit Art 32 Z 1 des 4. COVID‑19‑Gesetzes geschaffen.

[10] 2. Trotz Fehlens einer ausdrücklichen Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs liegt dann keine erhebliche Rechtsfrage vor, wenn das Gesetz selbst eine klare und eindeutige Regelung trifft (RIS‑Justiz RS0042656). Das ist hier in Bezug auf §§ 1 Abs 1 und § 2 des 1. COVID‑19‑JuBG der Fall.

[11] 3.1 Hat der Versicherungsträger in einer Leistungssache nach § 65 Abs 1 Z 1, 4 und 6 bis 8 ASGG oder über die Kostenersatzpflicht eines Versicherungsträgers nach § 65 Abs 1 Z 5 ASGG wie hier mit Bescheid entschieden (§ 67 Abs 1 Z 1 ASGG), muss die Klage gemäß § 67 Abs 2 ASGG bei sonstigem Verlust der Möglichkeit der gerichtlichen Geltendmachung des Anspruchs innerhalb der unerstreckbaren Frist von – im konkreten Fall unstrittig: – vier Wochen ab Zustellung des Bescheids erhoben werden. Die Tage des Postlaufs werden in die Frist nicht eingerechnet. Bei der gesetzlichen Frist für die Klage gegen einen Bescheid eines Versicherungsträgers handelt es sich, worauf der Kläger im Revisionsrekurs zutreffend hinweist, um eine prozessuale Frist (RS0036524 [T1]). Wird eine Klage erhoben, obwohl ua die in § 67 Abs 2 ASGG genannte(n) Frist(en) verstrichen ist, ist die Klage gemäß § 73 ASGG in jeder Lage des Verfahrens wegen Unzulässigkeit des Rechtswegs zurückzuweisen (RS0085778).

[12] 3.2 Ausgehend von der unstrittig wirksamen Zustellung des angefochtenen Bescheids am 11. 3. 2020 wäre die vierwöchige Frist des § 67 Abs 2 ASGG zur Einbringung der Klage daher hier am 8. 4. 2020 abgelaufen gewesen.

[13] 4.1 Mit Ablauf des 21. 3. 2020 (Tag der Kundmachung) trat das 2. COVID‑19‑Gesetz, BGBl I 2020/16 in Kraft (§ 12 1. COVID‑19‑JuBG). §§ 1 und 2 1. COVID‑19‑JuBG lauten in dieser Fassung auszugsweise:

Unterbrechung von Fristen

§ 1  (1) In gerichtlichen Verfahren werden alle verfahrensrechtlichen Fristen, deren fristauslösendes Ereignis in die Zeit nach Inkrafttreten dieses Bundesgesetzes fällt, sowie verfahrensrechtliche Fristen, die bis zum Inkrafttreten dieses Bundesgesetzes noch nicht abgelaufen sind, bis zum Ablauf des 30. April 2020 unterbrochen. Sie beginnen mit 1. Mai 2020 neu zu laufen. Dies gilt nicht für Verfahren, in denen das Gericht über die Rechtmäßigkeit eines aufrechten Freiheitsentzuges nach dem Unterbringungsgesetz, … Heimaufenthaltsgesetz, … Tuberkulosegesetz, … oder nach dem Epidemiegesetz 1950 …, entscheidet, sowie für Leistungsfristen.

(2) …

Hemmung von Fristen für die Anrufung des Gerichts

§ 2  Die Zeit vom Inkrafttreten dieses Bundesgesetzes bis zum Ablauf des 30. April 2020 wird in die Zeit, in der bei einem Gericht eine Klage oder ein Antrag zu erheben oder eine Erklärung abzugeben ist, nicht eingerechnet.“

[14] 4.2 Der Gesetzgeber erläutert dazu auszugsweise wie folgt (IA 397/A 27. GP  34 f):

Zu § 1 :

Die derzeitigen Einschränkungen des öffentlichen Lebens durch COVID‑19 (Quarantänemaßnahmen sowohl örtlich als auch personenbezogen) wirken sich auch auf Gerichtsverfahren aus. Aufgrund krankheitsbedingter oder maßnahmenbedingter Ausfälle sowohl des Gerichtspersonals als auch der rechtsberatenden Berufe und der Parteien ist ein Tätigwerden innerhalb der gesetzlich vorgesehenen Fristen nicht immer möglich oder tunlich, …. Es sollen daher für eine gewisse Zeit in bürgerlichen Rechtssachen (Zivilprozesse, Außerstreitverfahren, Grundbuchs‑ und Firmenbuchverfahren, Exekutionsverfahren, Insolvenzverfahren) alle prozessualen Fristen (sowohl gesetzliche als auch richterliche Fristen), mit Ausnahme jener, die in Verfahren über die Aufrechterhaltung einer freiheitsentziehenden Maßnahme beginnen oder laufen, unterbrochen werden (Abs 1). Zur Klarstellung werden Leistungsfristen explizit ausgenommen, … . Diese allgemeine Anordnung soll für alle Parteien eines Gerichtsverfahrens und für deren Vertreter rasch Rechtssicherheit schaffen. … .

Es wäre auch denkbar, nur eine Hemmung der Fristen vorzusehen, wie dies etwa in § 222 ZPO für bestimmte Zeiten im Sommer und rund um die Weihnachtszeit vorgesehen ist. Die Anordnung einer Unterbrechung wird der gegebenen Situation aber besser gerecht, weil bereits jetzt in manchen Rechtsanwaltskanzleien wenig Personal vorhanden und auch nicht sicher ist, dass dieses mit Ablauf der Unterbrechungsfrist wieder voll zur Verfügung steht. Damit können etwa Fristen, in denen nur mehr wenige Tage offen sind, möglicherweise nicht eingehalten werden. Es soll daher zur Erleichterung der Tätigkeit der rechtsberatenden Berufe, aber auch der unvertretenen Parteien … eine Unterbrechung und damit ein Neubeginn des Fristenlaufs vorgesehen werden. …

Zu § 2 :

Nicht nur innerhalb eines anhängigen Verfahrens laufen Fristen, sondern es wird in einer Vielzahl von Gesetzen eine Frist für das Anhängigmachen eines Verfahrens vor Gericht festgelegt. Dies betrifft etwa Verjährungsfristen, die Frist für die Besitzstörungsklage nach § 454 ZPO, die Anrufung des Gerichts gegen einen Bescheid des Sozialversicherungsträgers nach § 67 Abs 2 ASGG oder die Anrufung der Schlichtungsstelle nach § 40 MRG. Auch in arbeitsrechtlichen Gesetzen finden sich solche Fristen, etwa für die Kündigungsanfechtung nach § 105 ArbVG. In solchen und vergleichbaren Fällen soll die Frist für die Anrufung des Gerichts gehemmt werden. … .“

[15] 4.3 § 1 Abs 1 1. COVID‑19‑JuBG wurde mit dem 4. COVID‑19‑Gesetz, BGBl I 2020/24, geändert. § 1 Abs 1 Sätze 2 bis 4 1. COVID‑19‑JuBG lauten seither:

„… Sie beginnen neu zu laufen. Bei der Berechnung einer Frist nach § 125 Abs 1 ZPO gilt der 1. Mai 2020 als Tag, in den der Zeitpunkt oder das Ereignis fällt, wonach sich der Anfang der Frist richten soll. Bei der Berechnung einer Frist nach § 125 Abs 2 ZPO gilt der 1. Mai 2020 als Tag, an dem die Frist begonnen hat.“

[16] Grund für diese Novellierung war die Erforderlichkeit der Klarstellung, dass der 1. 5. 2020 als fristauslösendes Ereignis im Sinn des § 125 Abs 1 ZPO gelten soll. Eine vierwöchige, durch § 1 1. COVID‑19‑JuBG unterbrochene Frist endete daher am 29. 5. 2020 (IA 403/A 27. GP  33). Dies war der Tag, an dem im vorliegenden Verfahren die Klage eingebracht wurde.

[17] 5. Zutreffend haben die Vorinstanzen im vorliegenden Fall schon nach ihrem Wortlaut die Bestimmung des § 2 1. COVID‑19‑JuBG angewendet („Die Zeit, … in der bei einem Gericht eine Klage … zu erheben … ist“). Der Gesetzgeber erwähnt den Fall der Einbringung einer Klage nach § 67 Abs 2 ASGG ausdrücklich in den dargestellten Erläuterungen. Er nennt in diesen weitere Beispielfälle, bei denen es sich sowohl um materiell‑rechtliche Fristen, nämlich Verjährungsfristen (§§ 1478 ff ABGB, zB 6 Ob 183/10w) und die Frist zur Einbringung einer Besitzstörungsklage (hM, vgl nur G. Kodek in Fasching/Konecny III/2³ § 454 ZPO Rz 236 mzN), als auch um verfahrensrechtliche Fristen handelt, wie jene für die Anrufung des Gerichts nach Befassung der Schlichtungsstelle nach § 40 MRG (RS0106183) oder für die gerichtliche Anfechtung einer Kündigung gemäß § 105 ArbVG (RS0052033). Der Gesetzgeber unterscheidet darüber hinaus ausdrücklich die Fälle der Unterbrechung einer Frist in § 1 1. COVID‑19‑JuBG von jenen der Hemmung einer Frist in § 2 1. COVID‑19‑JuBG, die er, wie sich aus den Erläuterungen zu § 1 1. COVID‑19‑JuBG ergibt, für weniger günstig hält („Es wäre auch denkbar, nur eine Hemmung der Fristen vorzusehen, …“). Er hat dennoch für den in § 2 1. COVID‑19‑JuBG geregelten Fall der Erhebung von Klagen bei einem Gericht ausdrücklich eine (bloße) Hemmung von Fristen angeordnet (ausführlich zur Differenzierung zwischen § 1 und § 2 1. COVID‑19‑JuBG Garber/Neumayr, Zivilverfahren in der Krise, in Resch [Hrsg]. Das Corona‑Handbuch [2020] Kap 13 Rz 48 ff).

[18] Dass die Einbringung der Klage bei Anwendung des § 2 1. COVID‑19‑JuBG verspätet erfolgte, stellt der Revisionsrekurswerber nicht in Frage.

[19] Mangels einer Rechtsfrage von erheblicher Bedeutung im Sinn des § 528 Abs 1 ZPO ist der außerordentliche Revisionsrekurs zurückzuweisen.

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