OGH 10Ob25/20d

OGH10Ob25/20d1.9.2020

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Vizepräsidenten Univ.‑Prof. Dr. Neumayr als Vorsitzenden sowie die Hofrätinnen Dr. Fichtenau und Dr. Grohmann, den Hofrat Mag. Ziegelbauer und die Hofrätin Dr. Faber als weitere Richter in der Pflegschaftssache der mj J*, geboren * 2008, vertreten durch das Land Oberösterreich als Kinder‑ und Jugendhilfeträger (Bezirkshauptmannschaft Schärding, 4780 Schärding, Ludwig-Pfliegl-Gasse 11–13), wegen Unterhaltsvorschuss, infolge des Revisionsrekurses des Kindes gegen den Beschluss des Landesgerichts Ried im Innkreis als Rekursgericht vom 30. Jänner 2020, GZ 14 R 5/20s‑18, womit der Beschluss des Bezirksgerichts Schärding vom 21. November 2019, GZ 1 Pu 129/18d‑13, teilweise bestätigt und teilweise aufgehoben wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2020:E129534

Rechtsgebiet: Zivilrecht

 

Spruch:

Dem Revisionsrekurs wird nicht Folge gegeben.

 

Begründung:

[1] Das Kind lebt im gemeinsamen Haushalt mit dem Vater. Die Mutter wurde mit Beschluss des Bezirksgerichts Schärding vom 10. 12. 2018 (ON 3) verpflichtet, beginnend mit 1. 7. 2018 einen Unterhaltsbeitrag von monatlich 285 EUR zu bezahlen. Die Mutter sei in der Lage, als Verkäuferin in Vollzeitbeschäftigung ein Einkommen von monatlich rund 1.280 EUR netto zu erzielen, sodass von einer Unterhaltsbemessungsgrundlage von 1.500 EUR ausgegangen werden könne.

[2] Mit Beschluss vom 22. 3. 2019 (ON 10) gewährte das Erstgericht dem Kind Unterhaltsvorschüsse gemäß §§ 3, 4 Z 1 UVG von 1. 3. 2019 bis 28. 2. 2024 in Höhe von monatlich 285 EUR.

[3] Die Mutter brachte am 14. 11. 2019 ein weiteres Kind zur Welt. Sie bezieht während ihres Mutterschutzes seit 7. 10. 2019 ein Wochengeld von täglich 26,24 EUR.

[4] Das Erstgericht beschloss die gänzliche Innehaltung der Unterhaltsvorschüsse mit Ablauf des Monats November 2019, es bejahte das Vorliegen der Voraussetzungen des § 7 Abs 1 iVm § 20 Abs 2 UVG.

[5] Das Rekursgericht gab dem Rekurs des Kindes gegen diesen Beschluss für den Zeitraum von 1. 12. 2019 bis 29. 2. 2020 nicht Folge. Hingegen gab es dem Rekurs für den Zeitraum ab 1. 3. 2020 Folge, hob den angefochtenen Beschluss in diesem Umfang auf und trug dem Erstgericht die neuerliche Entscheidung nach Verfahrensergänzung auf.

[6] Rechtlich führte es, soweit für das Revisionsrekursverfahren von Bedeutung, aus, dass der Anspannungsgrundsatz für den Zeitraum des Wochengeldbezugs nicht Anwendung finden könne. Der Mutter könne nicht vorgeworfen werden, dass sie bis zum Beginn des Beschäftigungsverbots einer zumutbaren Beschäftigung nicht nachgegangen sei und damit ein höheres Wochengeld erhalten hätte können. Die Anspannung dürfe nicht zu einer bloßen Fiktion führen. Sie müsse immer auf der hypothetischen Feststellung beruhen, welches reale Einkommen die Unterhaltspflichtige konkret zu erzielen in der Lage wäre. Auch bei sorgfaltsgemäßer Anstrengung sei es der Mutter aber nicht möglich, während des Beschäftigungsverbots und des Wochengeldbezugs einer Arbeit nachzugehen. Der Wochengeldbezug stelle ein Einkommen unterhalb des Unterhaltsexistenzminimums dar, sodass auch keine Herabsetzung der Vorschüsse im Sinn des § 7 Abs 1 Z 1 iVm § 19 Abs 1 UVG in Frage komme.

[7] Das Rekursgericht sprach aus, dass der Revisionsrekurs im Umfang des bestätigenden Teils der Entscheidung zulässig sei, weil der Frage einer Verlängerung des Anspannungsgrundsatzes auf einen Zeitraum des Beschäftigungsverbots nach dem Mutterschutzgesetz Rechtsprechung fehle.

[8] Gegen diesen Beschluss richtet sich der nicht beantwortete Revisionsrekurs des Kindes, mit dem dieses die Weitergewährung von Vorschüssen auch über den 1. 12. 2019 hinaus in Höhe von monatlich 236 EUR anstrebt.

Rechtliche Beurteilung

[9] Der Revisionsrekurs ist zur Klarstellung der Rechtslage zulässig, er ist aber nicht berechtigt.

[10] Das Kind macht in den Rechtsmittelausführungen – erkennbar unter Hinweis auf RS0047337 – im Wesentlichen geltend, dass Unterhaltsansprüche von Kindern grundsätzlich gleichrangig seien, weswegen der zum Geldunterhalt verpflichtete Elternteil, der ein Kind im gemeinsamen Haushalt vollständig betreut, seine Lebensverhältnisse derart zu gestalten habe, dass er auch seine Geldalimentationspflichten gegenüber den anderen Kindern, die nicht im gemeinsamen Haushalt leben, angemessen nachkommen könne. Mit diesen Ausführungen wird die vom Rekursgericht als erheblich bezeichnete Rechtsfrage gerade noch ausreichend angesprochen, sodass der Revisionsrekurs inhaltlich zu behandeln ist. Es ist nicht zulässig, sich in einem Rechtsmittelschriftsatz mit dem Hinweis auf die Ausführungen in einem anderen Schriftsatz (hier: auf den Rekurs und auf eine dem Revisionsrekurs beigelegte Stellungnahme des Vaters) zu begnügen, eine solche Verweisung ist unbeachtlich (RS0043616; RS0007029 [T1]).

[11] Dazu wurde erwogen:

[12] 1. Versagung und Innehaltung von Vorschüssen:

[13] In den Fällen der §§ 3 und 4 Z 1 UVG hat das Gericht gemäß § 7 Abs 1 Z 1 UVG die Vorschüsse ganz oder teilweise zu versagen, soweit sich aus der Aktenlage ergibt, dass die im Exekutionstitel festgesetzte Unterhaltsverpflichtung nicht (mehr) besteht oder, der gesetzlichen Unterhaltspflicht nicht entsprechend, zu hoch festgesetzt ist. Der aufgrund eines Exekutionstitels gewährte Vorschuss soll der jeweiligen materiellen gesetzlichen Unterhaltspflicht entsprechen (und darf den in § 6 Abs 1 UVG genannten Betrag nicht überschreiten, 6 Ob 238/98p). Liegen offenkundige Anhaltspunkte aus dem Akt vor, aus denen sich ergibt, dass die Unterhaltspflicht des Unterhaltsschuldners – etwa wegen des Wegfalls der Anspannbarkeit (1 Ob 7/04t) –materiell erlischt, sich also die Verhältnisse wesentlich geändert haben, so liegt der Versagungsgrund des § 7 Abs 1 Z 1 UVG bzw der Einstellungsgrund des § 20 Abs 1 Z 4 lit b UVG vor. Spricht nach dem Akteninhalt eine hohe Wahrscheinlichkeit dafür, dass es tatsächlich zu einer Einstellung der Vorschüsse kommen wird (IA 673/A 24. GP  44), so ist mit der weiteren Auszahlung gemäß § 20 Abs 2 Satz 2 UVG innezuhalten.

[14] 2. Der Bezug von Wochengeld als Versagungsgrund:

[15] Bei Prüfung der Voraussetzungen des § 7 Abs 1 Z 1 UVG ist ein strenger Maßstab anzulegen. Die Bedenken müssen insofern eine spezielle Qualität aufweisen, als eine hohe Wahrscheinlichkeit für die materielle Unrichtigkeit der titelmäßigen Unterhaltsfestsetzung besteht (RS0108443; IA 673/A 24. GP  24 f).

[16] Wochengeld (§ 162 ASVG) ist eine Einkommensersatzleistung für unselbständig erwerbstätige Frauen während der gesetzlichen Schutzfrist vor und nach der Geburt eines Kindes. Da die in den §§ 3 und 5 MSchG normierten (absoluten und individuellen) Beschäftigungsverbote zweiseitig zwingende Wirkung haben (RS0070590), darf eine Arbeitnehmerin in diesen Zeiträumen nicht einmal dann beschäftigt werden, wenn sie sich arbeitsbereit erklärt. Der Bezug von Wochengeld in einer unter dem (Unterhalts‑)Existenzminimum liegenden Höhe führt daher im Allgemeinen zu starken Anhaltspunkten, dass die im Exekutionstitel festgesetzte Unterhaltspflicht nicht mehr besteht, sodass die Vorschüsse ganz oder teilweise zu versagen (§ 7 Abs 1 Z 1 UVG) oder nach deren Gewährung herabzusetzen (§ 19 Abs 1 UVG) oder einzustellen sind (§ 20 Abs 1 Z 4 lit b UVG; vgl zum Bezug einer Invaliditätspension unter dem Existenzminimum: 10 Ob 5/10y). Auch der Anspannungsgrundsatz kann für diesen Zeitraum nicht mit der Begründung angewendet werden, dass die Mutter in der Lage wäre, einer Beschäftigung nachzugehen (RS0103111).

[17] 3. Zur Anspannung der Unterhaltsschuldnerin:

[18] 3.1 Die hier für den Zeitraum des Wochengeldbezugs bestehenden aktenmäßigen Anhaltspunkte für eine Versagung der Unterhaltsvorschüsse können nicht mithilfe des Anspannungsgrundsatzes beseitigt werden. Die Anspannung des Unterhaltsschuldners darf nach ständiger Rechtsprechung nicht zu einer bloßen Fiktion führen, sondern muss immer auf der hypothetischen Feststellung beruhen, welches reale Einkommen der Unterhaltspflichtige in den Zeiträumen, für die die Unterhaltsbemessung erfolgt, unter Berücksichtigung seiner konkreten Fähigkeiten und Möglichkeiten bei der gegebenen Arbeitsmarktlage zu erzielen in der Lage gewesen wäre (RS0047579; 6 Ob 80/13b). Zur Frage, welches Einkommen erzielbar ist, ist zu differenzieren (dazu ausführlich und mit weiteren Hinweisen Kolmasch, Die Grenzen der Fiktion beim Anspannungsgrundsatz, Zak 2017/519, 304):

[19] 3.2 Ein Verstoß gegen die Anspannungsobliegenheit kann in einem während des Bemessungszeitraums andauernden und jederzeit änderbaren Verhalten des Unterhaltspflichtigen liegen (zB Nachlässigkeit bei der Suche nach einem Arbeitsplatz). In diesem Fall erfolgt die Unterhaltsbemessung aufgrund des fiktiven Einkommens, das für den Unterhaltspflichtigen nach einer (möglichen und zumutbaren) Verhaltensänderung realistisch erzielbar ist. Eine Anspannung eines Unterhaltsschuldners auf tatsächlich nicht erzieltes Einkommen darf in diesem Fall nur dann erfolgen, wenn ihn ein Verschulden (zumindest leichte Fahrlässigkeit) daran trifft, dass er kein Erwerbseinkommen hat oder ihm die Erzielung eines höheren als des tatsächlichen Einkommens zugemutet werden kann (10 Ob 59/14w; RS0047495 [T1]).

[20] 3.3 Auf einer zweiten Ebene stellt sich die Frage, ob und unter welchen Voraussetzungen dem Unterhaltsschuldner eine (singuläre) nicht mehr rückgängig zu machende Fehlentscheidung als Verstoß gegen die Anspannungsobliegenheit vorgeworfen werden kann (zB Aufgabe eines gut bezahlten Arbeitsvertrags ohne vergleichbare Verdienstmöglichkeiten am Arbeitsmarkt, 1 Ob 81/10h; RS0047566). In solchen Fällen erfolgt die Unterhaltsbemessung nicht auf Basis eines im Bemessungszeitraum durch eine Verhaltensänderung noch erzielbaren Einkommens, sondern auf Basis eines Einkommens, das der Unterhaltspflichtige dann noch erzielen hätte können, wenn er den ursprünglichen Fehler unterlassen hätte. Voraussetzung für die Anspannung muss in solchen Fällen – unter Heranziehung der Wertungen des § 1295 Abs 2 ABGB – das Vorliegen einer Schädigungsabsicht zu Lasten des Unterhaltsberechtigten sein, das heißt Handeln mit zumindest bedingtem Vorsatz, den Unterhaltsberechtigten zu schädigen (6 Ob 80/13b; RS00047503; Kolmasch, Zak 2017/519, 305; kritisch Gitschthaler, Unterhaltsrecht4 Rz 369).

[21] 3.4 Dieser herrschenden, jüngeren Rechtsprechung, vor derem Hintergrund die frühere, zu RS0103111 zusammengefasste Rechtsprechung nicht aufrecht erhalten werden kann (so bereits 6 Ob 80/13b), entspricht die Entscheidung des Rekursgerichts. Dem Unterhaltstitel lag eine Anspannung der geldunterhaltspflichtigen Mutter auf ein für sie realistisch erzielbares Einkommen zugrunde. Während des Zeitraums des Beschäftigungsverbots und Wochengeldbezugs ist es der Mutter verboten, einer unselbständigen entgeltlichen Erwerbstätigkeit nachzugehen. Die Anspannung auf ein fiktives höheres Wochengeld, das die Mutter erzielen hätte können, wäre sie vor Beginn des Beschäftigungsverbots einer (besser bezahlten) Arbeit nachgegangen, würde eine bloße Fiktion bedeuten. Dafür, dass die Mutter die Aufnahme einer Arbeit vor Beginn des Mutterschutzes infolge der Geburt ihres weiteren Kindes am 14. 11. 2019 mit Schädigungsvorsatz gegenüber der Revisionsrekurswerberin unterlassen hätte, gibt es keine Anhaltspunkte

[22] Dem Revisionsrekurs war daher nicht Folge zu geben.

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