OGH 6Ob35/20w

OGH6Ob35/20w25.3.2020

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten Dr. Schramm als Vorsitzenden und die Hofräte Dr. Gitschthaler, Univ.‑Prof. Dr. Kodek, Dr. Nowotny sowie die Hofrätin Dr. Faber als weitere Richter in der Außerstreitsache der Antragstellerin * Rechtsanwalts GmbH, *, gegen die Antragsgegnerinnen 1. M*gesellschaft mbH & Co KG, 2. Marktgemeinde *, beide *, vertreten durch Stanek Raidl Konlechner Rechtsanwälte OG in Wien, 3. W* GmbH, *, wegen Gerichtserlag über den Revisionsrekurs der Erst‑ und Zweitantragsgegnerinnen gegen den Beschluss des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Graz als Rekursgericht vom 21. November 2019, GZ 3 R 189/19i‑13, mit dem der Beschluss des Bezirksgerichts Graz-Ost vom 4. Juli 2019, GZ 262 Nc 9/19m‑4, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2020:E128085

Rechtsgebiet: Zivilrecht

 

Spruch:

Dem Revisionsrekurs wird Folge gegeben.

Die Entscheidungen der Vorinstanzen werden dahin abgeändert, dass der Antrag auf Einleitung der Verwahrung des Handakts „M*“ der Antragstellerin betreffend die abgabenrechtlichen Verfahren der Erst‑ und Zweitantragsgegnerinnen sowie der Drittantragsgegnerin abgewiesen wird.

Die Antragstellerin ist schuldig, den Erst- und Zweitantragstellerinnen die mit 1.012,26 EUR (darin 168,71 EUR Umsatzsteuer) bestimmten Kosten des Rechtsmittelverfahrens binnen 14 Tagen zu ersetzen.

 

Begründung:

Die antragstellende Rechtsanwaltsgesellschaft strebt die gerichtliche Verwahrung ihres aus dem Spruch ersichtlichen Handakts an. Sie habe über Wunsch und auf Rechnung der Drittantragsgegnerin sämtliche Antragsgegnerinnen in abgabenrechtlichen Verfahren rechtsfreundlich vertreten und über ihren Auftrag für die Erst- und Zweitantragsgegnerinnen diverse Rechtsmittel ausgeführt. Schriftliche Vollmachten der Erst‑ und Zweitantragsgegnerinnen habe sie über die Drittantragsgegnerin erhalten, die diese bei Finanzierungsgeschäften und in abgabenrechtlichen Verfahren ebenfalls beraten und vertreten habe. Die Antragstellerin habe zunächst ausschließlich mit der Drittantragsgegnerin korrespondiert, allerdings habe sich das Verhältnis zwischen Erst‑ und Zweitantragsgegnerinnen auf der einen und der Drittantragsgegnerin auf der anderen Seite im Laufe der Zeit verschlechtert, woraufhin sich erstere direkt an die Antragstellerin gewandt hätten. Die Antragstellerin habe dann direkt mit diesen korrespondiert und für sie weiterhin Vertretungshandlungen gesetzt. Mittlerweile befänden sich Erst‑ und Zweitantragsgegnerinnen einerseits und Drittantragsgegnerin andererseits in einem Rechtsstreit. Am 23. 5. 2019 hätten Erst- und Zweitantragsgegnerinnen die Herausgabe von Abschriften sämtlicher Urkunden und des Schriftverkehrs gefordert, den die Antragstellerin mit der Drittantragsgegnerin geführt habe; sie begehrten damit praktisch die Herausgabe des gesamten Handakts. Die Drittantragsgegnerin habe die Antragstellerin nicht von ihrer Verschwiegenheitspflicht befreit, sondern die Ausfolgung des Handakts an die Erst- und Zweitantragsgegnerinnen ausdrücklich untersagt; Handakt und Abschriften daraus stünden ausschließlich ihr zu. Das Vertretungsverhältnis zwischen der Antragstellerin und allen Antragsgegnerinnen sei mittlerweile zwar beendet, die Verschwiegenheitsverpflichtung der Antragstellerin sei allerdings weiterhin aufrecht. Die Antragstellerin sei aufgrund der unklaren Rechtslage und der widerstreitenden Behauptungen der möglicherweise Anspruchsberechtigten auf Herausgabe des Handakts sowie aufgrund des ausdrücklich ausgesprochenen Verbots, Korrespondenz, welche (auch) die Drittantragsgegnerin betreffe, herauszugeben, nicht in der Lage zu beurteilen, welcher der drei Forderungsprätendentinnen der Handakt bzw Abschriften daraus auszufolgen seien. Erlagsgrund sei § 12 Abs 1 und 2 RAO, wonach der Rechtsanwalt die Herausgabe des Handakts oder die Ausfolgung von Abschriften daraus gegenüber seinem (vormaligen) Mandanten schuldig sei.

Die Vorinstanzen nahmen den von der Antragstellerin getätigten Erlag des Handakts zu Gericht an und bestellten einen gerichtlichen Verwahrer für diesen Handakt. Das Rekursgericht sprach darüber hinaus aus, dass der ordentliche Revisionsrekurs zulässig ist; es fehle Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs zur Frage, ob und wenn ja unter welchen Voraussetzungen der Ausfolgungsanspruch einzelner von mehreren Klienten des Rechtsanwalts hinsichtlich des gemeinsamen Handakts gemäß § 12 RAO mit der Verschwiegenheitspflicht gegenüber den Klienten konkurrieren kann, die sich gegen die Herausgabe des Handakts bzw der Ausfolgung von Kopien daraus aussprechen.

In der Sache selbst vertrat das Rekursgericht die Auffassung, einen rechtlichen Grund zum Gerichtserlag bildeten im Sinne des § 1425 ABGB sowohl Unklarheit der Rechtslage als auch das Auftreten von mehreren Forderungsprätendenten. Nach den Behauptungen der Antragstellerin zwischen Erst‑ und Zweitantragsgegnerinnen einerseits und Drittantragsgegnerin andererseits sei strittig, ob erstere gemäß § 12 RAO Anspruch auf Kopien der im Handakt befindlichen Korrespondenz haben, welche (auch) die Drittantragsgegnerin betrifft. Die Antragstellerin behaupte nicht, dass ihr die Drittantragsgegnerin bloß als Vertreterin der Erst- und Zweitantragsgegnerinnen Aufträge erteilt und lediglich in deren Namen mit ihr korrespondiert habe, sondern dass sie über Wunsch und auf Rechnung der Drittantragsgegnerin sämtliche Antragsgegnerinnen in abgabenrechtlichen Verfahren rechtsfreundlich vertreten und zunächst ausschließlich mit der Drittantragsgegnerin korrespondiert habe. Erst in der Folge hätten sich Erst- und Zweitantragsgegnerinnen direkt an die Antragstellerin gewandt, die dann direkt mit diesen korrespondiert und für sie weiterhin Vertretungshandlungen gesetzt habe. Es sei plausibel, dass die Abgrenzung des gemeinsamen Zwecks in diesem Fall für den beauftragten Rechtsanwalt schwierig ist. Da mehrere Klienten hinsichtlich des ihre Angelegenheiten betreffenden Handakts der Antragstellerin Ansprüche geltend machten, die nach den Behauptungen der Antragstellerin in schlüssiger Weise miteinander konkurrieren, seien die Voraussetzungen für den Erlag des Handakts gegeben.

Rechtliche Beurteilung

Der Revisionsrekurs der Erst- und Zweitantragsgegnerinnen ist zulässig; er ist auch berechtigt.

1. Der Oberste Gerichtshof hat in der Entscheidung 6 Ob 9/03x zwar klargestellt, dass im Verfahren über den Erlag von Geldbeträgen nach § 1425 ABGB von einem in einem Geldbetrag bestehenden Streitgegenstand auszugehen ist, weshalb das Rekursgericht eine Bewertung zu unterlassen habe. Auf diese Entscheidung hat sich das Rekursgericht hier berufen, dabei allerdings übersehen, dass in dem der Entscheidung 6 Ob 9/03x zugrunde liegenden Fall tatsächlich Geldbeträge erlegt worden waren, während hier ein Handakt einer Rechtsanwaltsgesellschaft erlegt werden sollte. Da der Entscheidungsgegenstand somit nicht in Geld besteht, sondern Geldeswert hat, hätte das Rekursgericht sehr wohl eine Bewertung vornehmen müssen.

Nach § 62 Abs 3 AußStrG – das Außerstreitgesetz ist gemäß § 1 Abs 1 letzter Satz VerwEinzG unter anderem auf Verfahren über den gerichtlichen Erlag anzuwenden (dazu Frauenberger in Gitschthaler/Höllwerth, AußStrG II [2017] § 1 VerwEinzG Rz 31) – ist der Revisionsrekurs jedenfalls unzulässig, wenn der Entscheidungsgegenstand an Geld oder Geldeswert insgesamt 30.000 EUR nicht übersteigt und das Rekursgericht den ordentlichen Revisionsrekurs für nicht zulässig erklärt hat. Da hier das Rekursgericht jedoch einen gegenteiligen Ausspruch getätigt hat, kommt es auf die Unterlassung der Bewertung nicht weiter an.

2. Nach § 1425 ABGB kann der Schuldner eine Sache bei Gericht hinterlegen, wenn er seine Schuld aus dem Grunde, weil der Gläubiger unbekannt, abwesend oder mit dem Angebotenen unzufrieden ist oder aus anderen wichtigen Gründen nicht erfüllen kann. Sowohl Unklarheit der Rechtslage als auch das Auftreten von mehreren Forderungsprätendenten bilden einen rechtlichen Grund zum Gerichtserlag iSd § 1425 ABGB (RS0033610).

2.1. Beim Auftreten mehrerer Forderungsprätendenten ist der Gerichtserlag durch den Schuldner dann berechtigt, wenn diesem objektiv nach verständigem Ermessen nicht zugemutet werden kann, den in Ansehung seiner Leistung Berechtigten auch bei sorgfältiger Prüfung zu erkennen (RS0033597). Auch wenn aufgrund verschiedener, auch einander ausschließender Ansprüche die Gefahr einer doppelten Inanspruchnahme des Schuldners durch unterschiedliche Prätendenten besteht, kann eine Hinterlegung unter Umständen gerechtfertigt sein (RS0033644 [T4]; vgl auch RS0033610 [T7]). Mehrere Prätendenten liegen dann vor, wenn diese die Forderung je für sich geltend machen und der Schuldner bei zumutbarer Prüfung nicht ohne weiteres erkennen kann, wer wirklich berechtigt ist (vgl RS0033610 [T5]). Das Hinterlegungsrecht besteht in diesem Fall nur dann, wenn die Frage, wem eine bestimmte existierende Forderung zusteht, strittig ist oder wenn mehrere Personen Rechte an ein und derselben Forderung geltend machen oder der Gläubiger aufgrund verschiedener Ansprüche mehrerer (potentieller) Gläubiger Gefahr läuft, mehrmals zahlen zu müssen (RS0033610 [T8]). Prätendent kann somit nur derjenige sein, der die „gleiche“ Forderung für sich geltend macht (RS0118340).

Das Vorhandensein mehrerer Gläubiger allein bedeutet hingegen noch keinen tauglichen Erlagsgrund (RS0033597 [T5]). So ist ein Erlag etwa nicht zulässig, wenn der Schuldner bloß für sich beschließt, zwei Gläubigern, von denen er nicht darlegt, dass diese einander ausschließende Forderungen gegen ihn erheben, insgesamt einen bestimmten Betrag zahlen zu wollen, weil er meint, die Aufteilung (und Anrechnung auf welche) Forderungsteile sei allein Aufgabe der Gläubiger (vgl RS0118340 [T7]).

2.2. Auch Unklarheit der Rechtslage kann einen Grund zum Erlag bilden (RS0033545), so etwa bei einem Streit zwischen mehreren Verpächtern über die Pachtzinsaufteilung (RS0033545 [T1]). Die Klärung der Rechtslage herbeizuführen, ist anschließend allerdings grundsätzlich nicht Sache des Erlagsgerichts, sondern Sache der Prätendenten, die zu diesem Zweck den ordentlichen Rechtsweg beschreiten müssen (vgl RS0033545 [T2]).

Die Hinterlegungsbefugnis des Schuldners ist im Fall unklarer Rechtslage daran geknüpft, dass trotz sorgfältiger Prüfung Zweifel über die Person des Gläubigers bestehen, wenn also dem Schuldner objektiv nach verständigem Ermessen nicht zugemutet werden kann, den Zweifel auf eigene Gefahr zu lösen; diese Sachlage ist auch gegeben, wenn sich der Zweifel auf die Rechtslage bezieht oder wenn mehrere Prätendenten auftreten, ohne dass der Schuldner ohne weiteres erkennen könnte, wer zur Leistung berechtigt ist (RS0033680).

3. Im vorliegenden Verfahren ist zu berücksichtigen, dass nicht mehrere Forderungsprätendenten auftreten, die die „gleiche“ oder konkurrierende Forderung geltend machen (vgl RS0118340). Vielmehr erheben Erst- und Zweitantragsgegnerinnen gegen die Antragstellerin eine Forderung, während die Drittantragsgegnerin die Ansicht vertritt, die Antragstellerin dürfe diese Forderung nicht erfüllen. Der Fall, dass mehrere Prätendenten die „gleiche“ Forderung geltend machen, wäre hier (nur) dann gegeben, wenn Erst- und Zweitantragsgegnerinnen einerseits und gleichzeitig auch die Drittantragsgegnerin andererseits die Herausgabe des (einzigen Original‑)Handakts verlangten; gerade dies wird aber nicht behauptet. Auch wenn alle Erlagsgegner Ansprüche auf Ausfolgung von Kopien geltend machen würden, läge noch kein „Prätendentenstreit“ vor; Kopien könnten ohne weiteres mehrfach ausgehändigt werden. Es liegt schließlich auch nicht der Fall vor, dass verschiedene, einander ausschließende Ansprüche geltend gemacht werden und die Gefahr einer doppelten Inanspruchnahme der Antragstellerin bestünde (vgl RS0033644 [T4]).

Tatsächlich entspricht die vorliegende Sachverhaltskonstellation am ehesten jenen Fällen, in denen nur ein Forderungsprätendent (hier: Erst‑ und Zweitantragsgegnerinnen) vorhanden, die Erlegerin (hier: Antragstellerin) als Schuldnerin aber nicht sicher ist, ob der Anspruch des Forderungsprätendenten (hier: auf Ausfolgung von Kopien bzw Originalen des Handakts) zu Recht besteht. Für einen solchen Fall steht der Erlag aber nach der dargestellten Rechtslage nicht zur Verfügung (vgl RS0033463 [T1]); vielmehr muss die Antragstellerin als Erlegerin selbst beurteilen, ob die Herausgabe eine Verletzung ihrer Standespflichten begründen würde und ob sie die Zustimmung aller drei Antragsgegner zur Herausgabe von Unterlagen an die Erst‑ und Zweitantragsgegner benötigt. Gibt sie die Unterlagen (im Zweifel) nicht heraus, wird sie sich von Erst- und Zweitantragsgegnerin neu auf Herausgabe klagen lassen müssen.

4. Damit war aber dem Revisionsrekurs Folge zu geben und der Erlags‑ bzw Verwahrungsantrag abzuweisen.

Die Entscheidung über die Kosten des Rechtsmittelverfahrens gründet sich auf § 78 Abs 2 AußStrG (dazu ausführlich Frauenberger aaO § 3 VerwEinzG Rz 49).

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