OGH 7Ob199/19v

OGH7Ob199/19v22.1.2020

Der Oberste Gerichtshof hat durch die Senatspräsidentin Dr. Kalivoda als Vorsitzende und die Hofrätinnen und Hofräte Hon.‑Prof. Dr. Höllwerth, Dr. Solé, Mag. Malesich und MMag. Matzka als weitere Richter in der Unterbringungssache der Kranken L* L*, geboren am * 1991, *, vertreten durch die Erwachsenenvertreterin C* G*, Verein VertretungsNetz – Erwachsenenvertretung, Patientenanwaltschaft, Bewohnervertretung (Patientenanwalt: Mag. B* R*), *, vertreten durch Dr. Marco Nademleinsky, Rechtsanwalt in Wien, Abteilungsleiter Univ.‑Prof. DDr. P* F*, über den Revisionsrekurs des Vereins gegen den Beschluss des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Wien als Rekursgericht vom 23. Oktober 2019, GZ 42 R 390/19t‑48, womit der Beschluss des Bezirksgerichts Donaustadt vom 26. September 2019, GZ 34 Ub 21/19y‑43, bestätigt wurde, den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2020:E127370

Rechtsgebiet: Zivilrecht

 

Spruch:

Dem Revisionsrekurs wird Folge gegeben.

Die Beschlüsse der Vorinstanzen werden dahin abgeändert, dass der Antrag des Abteilungsleiters auf Genehmigung der dauerhaften Kontrazeption mittels Kupferspirale abgewiesen wird.

 

Begründung:

Die Kranke erlitt im Alter von ca 6 Jahren ein Schädel-Hirn-Trauma und im Alter von 10 Jahren einen Verkehrsunfall. Sie leidet nur unter einem organischen Psychosyndrom nach Schädel‑Hirn‑Trauma, einer Verhaltensstörung, einer Anpassungsstörung, einer kombinierten Persönlichkeitsstörung und einer paraspastischen Gangstörung. Für sie ist eine gerichtliche Erwachsenenvertreterin zur Besorgung aller Angelegenheiten bestellt.

Ab 2. 2. 2019 war die Kranke in der psychiatrischen Abteilung des SMZ‑Ost ohne Verlangen untergebracht. Sie ist aufgrund ihres organischen Psychosyndroms nicht in der Lage, sich selbst zu versorgen, benötigt ständige Hilfe und Betreuung und kann Gefahrensituationen nicht ausreichend erkennen und vermeiden. Auch ist sie nicht in der Lage, Einsicht in ihre gesundheitliche Beeinträchtigung und die Notwendigkeit von Hilfe und Betreuung zu gewinnen. Da die erforderliche ständige, adäquate und qualifizierte Betreuung bislang nicht verfügbar ist, besteht derzeit keine alternative Behandlung außerhalb des geschlossenen stationären Aufenthalts.

Die Kranke hat bei Ausgängen immer wieder ungeschützte Sexualkontakte. Sie ist jedoch nicht in der Lage, die körperlichen Vorgänge sowie die Entstehung einer Schwangerschaft zu verstehen und die Notwendigkeit und Sinnhaftigkeit einer Empfängnisverhütung sowie die Wirkungsweise der unterschiedlichen Methoden zu erfassen. Sie kann keine vernünftige Entscheidung in Bezug auf eventuelle Vorteile, Nachteile, Risiken sowie Gefahren treffen und medizinische Maßregeln der Empfängnisverhütung nicht vollständig verstehen und einhalten, insbesondere die regelmäßige Einnahme einer Pille oder das Setzen einer 3‑Monats‑Spritze. Im Fall einer Schwangerschaft müsste die ständig notwendige medikamentöse Behandlung durch Psychopharmaka weitgehend eingestellt werden, um den Fötus nicht zu schädigen. Damit würde es mit Sicherheit zu einer erheblichen psychischen Beeinträchtigung und Verschlechterung des psychischen Befindens der Patientin kommen. Auch wäre die Behandlung ihrer Verhaltensstörungen nicht mehr möglich, wodurch wiederum die bereits mehrfach aufgetretenen selbst- und fremdgefährdenden Verhaltensweisen drohen würden. Da die Kranke aufgrund ihrer psychischen Erkrankung nicht in der Lage ist, ein Kind entsprechend zu versorgen, müsste es ihr abgenommen werden, was ebenfalls mit einer psychischen Belastung und Verschlechterung des Befindens der Kranken einhergehen würde. Die Kontrazeption mittels Spirale ist wegen der leichten Entfernbarkeit das mildeste und geeignetste Mittel, weil damit am wenigsten in die Physiologie der Kranken eingegriffen wird.

Nach Vorlage des Revisionsrekurses wurde die Unterbringung am 16. 12. 2019 aufgehoben. Gleichzeitig wurde die neuerliche Unterbringung angezeigt und dazu ein neues Verfahren beim Erstgericht eingeleitet.

Der Abteilungsleiter des SMZ‑Ost beantragte, bei der Kranken eine dauerhafte Kontrazeption im Sinne einer Spirale zu genehmigen. Durch verschiedenste Maßnahmen, unter anderem die etablierte Psychopharmakatherapie, sei es zu einer gewissen Stabilisierung der Kranken gekommen. Jedoch habe sie im Zuge der ihr gewährten Ausgänge ungeschützte Sexualkontakte gehabt. Zuletzt sei eine akute kontrazeptive Behandlung („Pille danach“) notwendig gewesen. Im Falle einer Schwangerschaft sei von einer deutlichen Verschlechterung ihres Zustandsbildes auszugehen, weil dann die zuletzt erfolgreiche Psychopharmakatherapie abgesetzt werden müsste. Dazu käme eine Traumatisierung durch die nach der Geburt unweigerlich erfolgende Kindesabnahme. Die Kranke sei prinzipiell bereit, das erforderliche Procedere durchführen zu lassen, aber nicht vollständig in der Lage, die Tragweite dieser Entscheidung zu verstehen.

Das Erstgericht genehmigte die dauerhafte Kontrazeption mittels einer Kupferspirale (inklusive Gold und Silber) als besondere Heilbehandlung für die Dauer der Unterbringung. Die Schwangerschaftsverhütung sei zur Verhinderung einer erheblichen Verschlechterung der Befindlichkeit der Patientin medizinisch indiziert. Auch prophylaktische Maßnahmen seien insofern als Heilbehandlungen zu sehen. Eine besondere Heilbehandlung iSd § 36 UbG liege vor, weil damit für fünf Jahre eine mögliche Schwangerschaft verhindert werde und die Patientin selbst nicht in der Lage sei, den Vorgang zu erfassen und die grundsätzlich jederzeit möglich Entfernung derselben ohne fremde Hilfe zu veranlassen, sodass eine gewisse Irreversibilität gegeben sei. Die Kontrazeption mittels Kupferspirale stelle das gelindeste Mittel dar.

Das Rekursgericht bestätigte diese Entscheidung. Die massiven negativen Auswirkungen einer Schwangerschaft auf die Kranke seien unter den gegebenen Umständen derart zwangsläufig und unmittelbar zu befürchten, dass das Setzen der Spirale als prophylaktische ärztliche Heilbehandlung angesehen werden könne.

Der ordentliche Revisionsrekurs sei mangels einschlägiger Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs zu den Fragen der Qualifizierung und Zulässigkeit einer Kontrazeption durch eine Spirale während der Unterbringung und der Zuständigkeit für die Entscheidung darüber zuzulassen.

Gegen diese Entscheidung richtet sich der Revisionsrekurs des Vereins mit dem Antrag, das bisherige Verfahren für nichtig zu erklären und den Antrag des Abteilungsleiters allenfalls an das zuständige Pflegschaftsgericht zu überweisen, hilfsweise den Antrag auf Bewilligung der besonderen Heilbehandlung abzuweisen.

Rechtliche Beurteilung

Der Revisionsrekurs ist zulässig; er ist auch berechtigt.

1. Das Revisionsrekursverfahren ist einseitig.

Im hier vorliegenden Verfahren nach § 38 UbG gibt es keine eigenen Vorschriften für den Revisionsrekurs und auch keinen Verweis auf § 29a UbG. In analoger Anwendung des § 29a UbG und seines Verweises auf § 28 Abs 3 UbG ist das Revisionsrekursverfahren bei einem Rechtsmittel des Kranken nach § 38 UbG einseitig.

2. Zwar besteht nach der Rechtsprechung dann, wenn eine vom Erstgericht für zulässig erklärte ärztliche Behandlung nicht durchgeführt wurde und nicht mehr erfolgen kann, weil die Unterbringung bereits aufgehoben ist, kein Rechtsschutzinteresse mehr an der Beseitigung des Beschlusses (RS0075981) und an der Klärung der Frage, ob eine zu einem früheren Zeitpunkt geplante und vom Erstgericht genehmigte, tatsächlich aber nicht durchgeführte besondere Heilbehandlung seinerzeit zu genehmigen gewesen wäre (RS0126250).

Die Aufhebung der Unterbringung setzt aber voraus, dass ihre in § 2 UbG angeführten Merkmale nicht mehr gegeben sind. Darunter ist die Aufhebung jener Beschränkungen der Bewegungsfreiheit seitens der Anstalt zu verstehen, durch welche die Unterbringung definiert ist (Kopetzki, Grundriss des Unterbringungsrechts³ Rz 774 ff). So kann zB im Fall einer von vornherein nur kurzfristig vorgesehenen Transferierung von der geschlossenen in eine offene Abteilung zur Durchführung einer medizinischen Behandlung unter Aufrechterhaltung der psychiatrischen Betreuung nicht davon gesprochen werden, dass der Kranke seine Bewegungsfreiheit wiedererlangt (7 Ob 173/13m).

Hier hat der Abteilungsleiter am 16. 12. 2019 die Aufhebung der Unterbringung über die Kranke um 11:00 Uhr wegen Fristablaufs mitgeteilt, gleichzeitig aber ein ärztliches Zeugnis über die Unterbringung ab demselben Zeitpunkt vorgelegt. Eine Aufhebung der Unterbringung im Sinn eines Wegfalls der Beschränkungen der Unterbringung erfolgte daher nicht, sodass vom fortbestehenden Rechtsschutzinteresse der Kranken auszugehen ist.

3. Das UbG definiert den Begriff Heilbehandlung nicht. Nach der Rechtsprechung sind medizinische Heilbehandlungen im Sinn des UbG alle ärztlichen Maßnahmen, die aufgrund einer medizinischen Indikation vorgenommen werden, um Krankheiten, Leiden, Körperschäden, körperliche Beschwerden oder seelische Störungen zu erkennen, zu heilen oder zu lindern. Der Begriff „Heilbehandlung“ umfasst nicht nur unmittelbar therapeutische, sondern auch diagnostische und physikalische Maßnahmen, wie etwa eine Blutabnahme (7 Ob 154/19a; 7 Ob 168/15d; RS0130547; vgl Weitzenböck in Schwimann/Kodek 5 Vor § 252 Rz 4 und Zierl/Schweighofer/Wimberger, Erwachsenenschutzrecht, Rz 247). Auch prophylaktische Maßnahmen fallen grundsätzlich unter den Begriff der Heilbehandlung (Kopetzki, Grundriss des Unterbringungsrechts³, Rz 580 f).

Abzugrenzen sind Heilbehandlungen dagegen von nicht medizinisch indizierten ärztlichen Behandlungen, zB kosmetischen Eingriffen oder fremdnützigen Eingriffen wie etwa einer Blutabnahme zu Beweiszwecken. Auch der Empfängnisverhütung fehlt in der Regel die medizinische Indikation und sie fällt unter § 250 ABGB als Maßnahme der allgemeinen Personen- und Gesundheitsfürsorge (Weitzenböck in Schwimann/Kodek 5 Vor § 252 Rz 4 und Zierl/Schweighofer/Wimberger, Erwachsenenschutzrecht, Rz 247; Barth/Marlovits in Barth/Ganner, Erwachsenenschutzrecht, 302). Eine medizinische Indikation ist aber auch nicht generell ausgeschlossen (vgl auch Kopetzki, Grundriss des Unterbringungsrechts³, Rz 673).

Hier müsste im Fall einer Schwangerschaft der Kranken die ständig notwendige Behandlung mit Psychopharmaka weitgehend eingestellt werden, was mit Sicherheit zu einer erheblichen psychischen Beeinträchtigung und einer Verschlechterung des psychischen Befindens der Kranken mit der Gefahr von selbst‑ und fremdgefährdenden Verhaltensweisen führen würde. Die Gesundheitsgefährdung würde also mit Sicherheit eintreten, wenn auch erst mittelbar dadurch, dass die notwendigen Medikamente nicht mehr verabreicht werden könnten. Die Verhinderung einer Schwangerschaft der Kranken dient somit dazu, die medikamentös erreichte Stabilisierung ihrer bestehenden Krankheit zu erhalten. Damit ist sie aber im konkreten Einzelfall eine prophylaktische Maßnahme mit medizinischer Indikation, und damit eine Heilbehandlung, und nicht nur eine Maßnahme der allgemeinen Personen- und Gesundheitsfürsorge.

Damit ist die Überprüfungszuständigkeit des Unterbringungsgerichts gegeben.

4. Besondere Heilbehandlungen sind solche, die die körperliche Integrität des Kranken in besonderer Weise beeinträchtigt oder die gewöhnlich mit einer schweren oder nachhaltigen Beeinträchtigung der körperlichen Unversehrtheit oder der Persönlichkeit verbunden ist (7 Ob 154/19a; vgl RS0076093).

Auch wenn eine Behandlung über das Ziel einer Heilung hinaus – vorübergehende oder dauernde – Veränderungen der Persönlichkeit des Kranken, andere erhebliche Nebenwirkungen oder sonst schwerwiegende Beeinträchtigungen der körperlichen oder psychischen Verfassung nach sich ziehen kann, besteht eine „besondere Heilbehandlung“ (6 Ob 62/10a; 7 Ob 154/19a; RS0076093 [T6]; vgl auch Ganner in Gitschthaler/Höllwerth, AußStrG II § 36 UbG Rz 6). So fallen unter den Begriff zB größere operative Eingriffe, Narkosen, Amputationen oder Maßnahmen, die lebenswichtige Organe betreffen, bzw das Setzen einer Sonde. Dagegen sind zB Zahnfüllungen, das Setzen eines Kavakatheters (6 Ob 2117/96h) oder die Behandlung schwerer Verbrennungen keine besonderen Heilbehandlungen (3 Ob 263/07h; RS0105308).

Es ist jeweils im Einzelfall abzuwägen, ob eine „besondere Heilbehandlung“ iSd § 36 UbG vorliegt (3 Ob 263/07h mwN = RS0076093 [T4]). Maßgebliche Kriterien sind die Intensität, Dauerhaftigkeit, Risikoneigung und Irreversibilität der Maßnahmen (Kopetzki, Grundriss des Unterbringungsrechts³, Rz 635; vgl auch Halmich, Unterbringungsgesetz, §§ 35 bis 37, 298). Dass die Wirkung der Behandlung über die Unterbringungsdauer hinausreicht, begründet allein noch keine besondere Heilbehandlung, sondern nur dann, wenn damit „erhebliche“ Nebenwirkungen einhergehen. Wird beim Kranken durch die Behandlung im Wesentlichen der Zustand wiederhergestellt oder stabilisiert, der annähernd dem der erzielten Gesundung entspricht, dann ist es gleichgültig, ob die Wirkung des Medikaments über die Frist der Unterbringung hinausgeht (vgl 7 Ob 17/97v = RS0076097 [T3]).

Die hier vorgesehene Maßnahme bedarf keiner Narkose und sie liegt in ihrer Intensität unterhalb eines kleinen operativen Eingriffs. Eine besondere Beeinträchtigung der körperlichen Integrität der Kranken oder eine damit verbundene schwere oder nachhaltige Beeinträchtigung ihrer körperlichen Unversehrtheit sind ebensowenig ersichtlich wie erhebliche Nebenwirkungen. Der Eingriff ist zwar auf eine gewisse Dauer ausgelegt, aber grundsätzlich jederzeit reversibel. Dass der Kranken dafür die Einsichts‑ und Artikulationsfähigkeit fehlt, ändert an der Reversibilität der Maßnahme an sich nichts. Zur Erreichung der Entscheidungsfähigkeit ist ihr auch für den Bereich der Gesundheitssorge und Heilbehandlung ihre Erwachsenenvertreterin beigestellt worden.

Insgesamt liegen daher die Kriterien für eine besondere Heilbehandlung nicht vor.

5. Ergebnis:

Die vorgesehene Kontrazeption bei der Kranken durch Setzen einer Spirale dient der Aufrechterhaltung der durch die medikamentöse Behandlung erreichten Stabilisierung der psychischen Krankheit und ist daher medizinisch indiziert als Heilbehandlung im Sinne des UbG zu werten. Der Beeinträchtigungsgrad einer besonderen Heilbehandlung wird aber nicht erreicht, sodass eine Genehmigung durch das Unterbringungsgericht gemäß § 36 Abs 3 UbG nicht erforderlich ist.

Es war daher dem Revisionsrekurs stattzugeben und der Antrag des Abteilungsleiters abzuweisen.

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