OGH 2Ds1/19y

OGH2Ds1/19y11.6.2019

Der Oberste Gerichtshof als Disziplinargericht für Richter und Staatsanwälte hat am 11. Juni 2019 durch die Präsidentin des Obersten Gerichtshofs Hon.‑Prof. Dr. Lovrek als Vorsitzende sowie die Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Prof. Dr. Danek, Dr. Schwab und Dr. Jensik und den Hofrat des Obersten Gerichtshofs Hon.‑Prof. Dr. Höllwerth in Gegenwart der Richteramtsanwärterin Mag. Rathgeb als Schriftführerin in der Disziplinarsache gegen ***** über die Beschwerden des Disziplinaranwalts und der Beschuldigten gegen den Beschluss des Oberlandesgerichts Linz als Disziplinargericht für Richter und Staatsanwälte vom 9. Jänner 2019, GZ 113 Ds 8/17k‑34, nach Anhörung der Generalprokuratur in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2019:0020DS00001.19Y.0611.000

 

Spruch:

In Stattgebung der Beschwerde des Disziplinaranwalts wird der angefochtene Beschluss aufgehoben und die Sache im Umfang der in diesem bezeichneten Beschuldigungspunkte 1. bis 13. zur mündlichen Verhandlung verwiesen.

Mit ihrer Beschwerde wird die Beschuldigte auf diese Entscheidung verwiesen.

 

Gründe:

Mit dem angefochtenen – gemäß § 110 Abs 2 erster Satz iVm § 160 Abs 2 RStDG ohne mündliche Verhandlung gefassten – Beschluss wurde die im Ruhestand befindliche Erste Staatsanwältin ***** eines im aktiven Dienstverhältnis begangenen Dienstvergehens nach § 101 Abs 1 RStDG schuldig erkannt (§ 158 Z 1 RStDG) und über sie die Disziplinarstrafe des Verweises (§ 159 lit a RStDG) verhängt; unter einem wurde das Disziplinarverfahren gemäß § 130 Abs 1 zweiter Satz iVm § 160 Abs 2 RStDG eingestellt.

Nach dem Inhalt des Schuldspruchs hat sie die sie gemäß § 57 Abs 1 iVm Art IIa Abs 2 RStDG treffende Pflicht, die ihr übertragenen Amtsgeschäfte so rasch wie möglich zu erledigen, dadurch verletzt, dass sie von 4. Februar 2014 bis Ende Oktober 2016 13 im Beschluss näher bezeichnete Strafverfahren verzögert bearbeitet hat (Verzögerungen zwischen zwei Monaten und zwei Jahren und neun Monaten).

Bei der Strafbemessung wertete das Disziplinargericht die Vielzahl und Dauer der Verzögerungen sowie den Umstand, dass eine der Verzögerungen zum Verlust des Verfolgungsrechts der Staatsanwaltschaft führte, als erschwerend, als mildernd hingegen die – auf Grundlage eines psychiatrischen Sachverständigengutachtens angenommene – eingeschränkte Schuldfähigkeit der Beschuldigten im Tatzeitraum und die mittlerweile eingetretene Dienstunfähigkeit, die zu ihrer Versetzung in den Ruhestand führte.

Rechtliche Beurteilung

Dagegen richten sich Beschwerden des Disziplinaranwalts und der Beschuldigten. Während ersterer die Disziplinarstrafe des Verweises als nicht ausreichend erachtet und (demnach eine strengere Sanktion anstrebend) die Verweisung der Sache zur mündlichen Verhandlung (§ 130 Abs 2 iVm § 160 Abs 2 RStDG) begehrt, strebt die Beschuldigte – ohne die Fällung eines Schuldspruchs wegen eines Dienstvergehens oder die Nichtdurchführung einer mündlichen Verhandlung zu kritisieren – ein Absehen von der Verhängung einer Disziplinarstrafe iSd § 101 Abs 3 erster Satz iVm § 160 Abs 2 RStDG an.

Grundlage für die Verhängung einer Disziplinarstrafe über den Richter oder Staatsanwalt, der seine Standes‑ oder Amtspflichten verletzt, ist ein Schuldspruch (vgl § 260 Abs 1 Z 2 StPO) wegen eines Dienstvergehens (§ 101 Abs 1 RStDG). Unter den Voraussetzungen des § 101 Abs 3 erster Satz StPO ist zwar ein Schuldspruch zu fällen, von der Verhängung einer Strafe (vgl § 260 Abs 1 Z 3 StPO) aber abzusehen.

„Disziplinarstrafen“ (gemeint: Schuldspruch und Strafausspruch; zum Begriffsverständnis vgl Ds 2/13 = RIS‑Justiz RS0128654) dürfen gemäß § 110 Abs 1 RStDG in der Regel nur nach öffentlicher (§ 133 Abs 1 RStDG) mündlicher Verhandlung durch Erkenntnis verhängt werden. Bejaht das Disziplinargericht das Vorliegen eines Dienstvergehens und beabsichtigt es, nur die Disziplinarstrafe des Verweises (§ 104 Abs 1 lit a, § 159 lit a RStDG) zu verhängen, kann es aber gemäß § 110 Abs 2 RStDG Schuldspruch und Strafausspruch (Verweis) ohne mündliche Verhandlung mit Beschluss festsetzen. Diesfalls ist dem Beschuldigten zuvor Gelegenheit zu geben, sich schriftlich oder mündlich zu verteidigen, das heißt eine Stellungnahme zu den Ergebnissen der Disziplinaruntersuchung abzugeben (Wanke/Perl/Sachs, RStDG § 130 Anm 3).

Eine verfassungskonforme (Art 6 Abs 1 MRK; vgl RIS‑Justiz RS0127061 [T1]; Wanke/Perl/Sachs, RStDG § 110 Anm 3) restriktive Auslegung des § 110 Abs 2 RStDG erfordert darüber hinaus, dass die Abstandnahme von einer öffentlichen mündlichen Verhandlung einen (zumindest konkludenten) Verzicht des Beschuldigten auf deren Durchführung voraussetzt. Ein solcher liegt hier vor, weil die (anwaltlich vertretene) Beschuldigte vor der Beschlussfassung vom Disziplinargericht über das beabsichtigte Vorgehen informiert wurde (ON 33) und die eingeräumte Gelegenheit zur Stellungnahme ungenützt ließ (vgl RIS‑Justiz RS0014126). Im Übrigen hat sie die Unterlassung der Durchführung einer öffentlichen mündlichen Verhandlung auch im Beschwerdeverfahren nicht in Frage gestellt.

Die Beschwerde des Disziplinaranwalts ist berechtigt.

Bei Verfahrens‑ und Erledigungsverzögerungen ist nicht nur für die Beurteilung, ob die dadurch verwirklichte Pflichtverletzung (§ 57 Abs 1 RStDG) ein Dienstvergehen darstellt (§ 101 Abs 1 RStDG), ein strenger Maßstab geboten (Ds 10/09; RIS‑Justiz RS0115557; Fellner/Nogratnig, RStDG-GOG § 101 RStDG Anm 15), sondern es gilt dies gleichermaßen auch für die Straffrage (§ 104 Abs 1 RStDG).

Auf Basis der bisherigen Aktenlage ist nicht nur die Annahme des Vorliegens eines Dienstvergehens gerechtfertigt, sondern es sprechen auch die – deutlich über das Subsumtionserfordernis (§ 101 Abs 1 RStDG) hinausgehende – Vielzahl und Dauer der vorgeworfenen Verzögerungen sowie der Umstand, dass eine derselben zum Verlust des Verfolgungsrechts führte, dafür, dass die Verhängung der mindestschweren Strafe des Verweises nicht ausreicht. Trotz der behaupteten reduzierten Schuldfähigkeit der Beschuldigten und des – spezialpräventive Erfordernisse für eine strengere Strafe per se ausschließenden – Umstands, dass sie sich nunmehr im Ruhestand befindet, bedarf es – aus derzeitiger Sicht des Obersten Gerichtshofs auf Grundlage der Beurteilung aus den Akten und ohne den Ergebnissen der mündlichen Verhandlung vorzugreifen – vielmehr einer strengeren Sanktion, um – bei einer Ersten Staatsanwältin –auch generalpräventiven Bedürfnissen tat- und schuldadäquat Rechnung tragen zu können (vgl RIS‑Justiz RS0108407).

Der angefochtene Beschluss war daher aufzuheben und in sinngemäßer Anwendung des § 89 Abs 2b zweiter Satz StPO in der Sache selbst die Verweisung der Sache zur mündlichen Verhandlung im Umfang der Beschuldigungspunkte 1. bis 13. der kassierten Entscheidung (RIS‑Justiz RS0124017 [T2]) zu beschließen (§ 130 Abs 2 RStDG).

Das Disziplinargericht (zu dessen Besetzung s § 115 Abs 2 erster Satz RStDG iVm § 491 Abs 8 und § 43 Abs 2 StPO) wird zur Beurteilung der Schuld- wie auch der Straffrage insbesondere Umfang und Komplexität der einzelnen Fälle sowie die Belastungssituation und psychische Situation der Beschuldigten in den konkreten Zeiträumen zu prüfen haben (vgl RIS‑Justiz RS0115557).

Mit ihrer Beschwerde – deren Anfechtungsziel im Übrigen ebenfalls nur nach Durchführung einer Verhandlung erreicht werden kann (Wanke/Perl/Sachs, RStDG § 130 Anm 3; aM Fellner/Nogratnig, RStDG‑GOG4 § 110 RStDG Anm 1) – war die Beschuldigte auf diese Entscheidung zu verweisen.

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