European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2021:E123850
Rechtsgebiet: Zivilrecht
Spruch:
Dem Revisionsrekurs wird Folge gegeben.
Die Beschlüsse der Vorinstanzen werden aufgehoben. Die Pflegschaftssache wird zur Verfahrensergänzung und neuerlichen Entscheidung an das Erstgericht zurückverwiesen.
Begründung:
Der Vater ist seit 1. 1. 2010 verpflichtet, seiner mj Tochter S*, geboren am * 2002, einen monatlichen Unterhalt von 160 EUR zu zahlen.
Seit September 2017 ist die mj S* im Rahmen der vollen Erziehung nach dem Kärntner Kinder- und Jugendhilfegesetz – K-KJHG, LGBl 2013/83 idgF LGBl 2018/15, in der sozialpädagogischen Wohngemeinschaft der * GmbH in * untergebracht. Dort werden Jugendliche im Alter zwischen 13 und 18 Jahren aufgenommen, bei denen der Verbleib in ihrem Herkunftssystem nicht möglich bzw nicht förderlich ist.
Der Vater beantragte am 24. 3. 2018 die Enthebung von seiner Unterhaltsverpflichtung gegenüber seiner mj Tochter, weil sich diese nunmehr in einer öffentlichen Einrichtung befinde, deren Kosten vom Land Kärnten getragen würden. Aufgrund der seit 1. 1. 2018 geltenden Bestimmungen der § 330a iVm § 707a ASVG müsse er nichts mehr zu den Unterbringungskosten beitragen. Abgesehen davon sei er auch finanziell nicht mehr in der Lage, Unterhalt zu leisten, weil er noch für seinen mj Sohn F* G*, geboren am * 2003, sorgepflichtig sei und derzeit nur über eine tägliche Notstandshilfe von 20,79 EUR, also monatlich 623,70 EUR verfüge. Dieser Betrag liege aber unter dem Unterhaltsexistenzminimum von 895 EUR.
Die Minderjährige sprach sich gegen diesen Antrag aus, weil die neue Rechtslage nur auf die Unterbringung in stationären Pflegeeinrichtungen im Rahmen der Sozialhilfe, nicht aber auf ihre gegenständliche Unterbringung nach dem K-KJHG anzuwenden sei.
Das Erstgericht gab dem Unterhaltsenthebungsantrag des Vaters rückwirkend mit 1. 1. 2018 statt. Die neue Gesetzeslage (§ 330a ASVG) habe zur Folge, dass der Sozialversicherungsträger keine Pflegekostenansprüche mehr geltend machen könne. Davon seien auch Wohngemeinschaften erfasst, die im Rahmen der Sozialhilfe finanziert werden. Da der Vater seit 1. 1. 2018 nicht mehr verpflichtet sei, einen Beitrag zu den Unterbringungskosten seiner Tochter zu leisten, sei seine Unterhaltsverpflichtung ab 1. 1. 2018 einzustellen gewesen.
Das Rekursgericht bestätigte diese Entscheidung. Nach dem K-KJHG seien die tatsächlichen Unterhaltsleistungen, die das Land für die Minderjährige nach diesem Gesetz im Rahmen der vollen Erziehung erbringe, an sich nicht als ihr Eigeneinkommen zu werten, weil § 49 Abs 3 und 4 K-KJHG ausdrücklich eine mögliche Ersatzpflicht des Unterhaltspflichtigen und eine diesbezügliche Legalzession vorsähen. Diese Bestimmungen seien aber durch das seit 1. 1. 2018 geltende, im Verfassungsrang stehende Verbot des Pflegeregresses nach § 330a iVm § 707a ASVG außer Kraft getreten. Da kein Anspruch auf Doppelversorgung bestehe, könne die Minderjährige nicht (auch) von ihrem Vater Unterhalt begehren.
Den ordentlichen Revisionsrekurs erklärte das Rekursgericht für zulässig, weil zur Frage, ob und inwieweit sich die Abschaffung des Pflegeregresses nach § 330a iVm § 707a ASVG nicht nur auf direkte – etwa auch auf § 49 Abs 3 und 4 K-KJHG gestützte – Regressprozesse des (vorläufigen) Kostenträgers, sondern indirekt auch auf die Beurteilung von Unterhaltsansprüchen nach § 231 ABGB auswirke, noch keine oberstgerichtliche Rechtsprechung vorliege.
Gegen die bestätigende Entscheidung des Rekursgerichts richtet sich der ordentliche Revisionsrekurs der Minderjährigen mit dem Antrag, die Entscheidungen der Vorinstanzen aufzuheben und dem Erstgericht die neuerliche Entscheidung nach allfälliger Verfahrensergänzung (Erhebung der aktuellen Leistungsfähigkeit des Vaters) aufzutragen.
Der Vater hat keine Revisionsbeantwortung erstattet.
Rechtliche Beurteilung
Der Revisionsrekurs ist zulässig und berechtigt.
1. Die materielle Beurteilung des Unterhaltsanspruchs des Kindes erfolgt immer nach § 231 ABGB, unabhängig davon, ob sie in einem Unterhaltsherabsetzungs- oder -enthebungsverfahren vorzunehmen ist (3 Ob 32/14y Pkt 5.).
2. Der Grundsatz, dass eine Person, deren Unterhaltsbedürfnisse aufgrund einer öffentlichen Verpflichtung zur Gänze von einem Dritten gedeckt werden, schon deswegen keine Unterhaltsansprüche gegen einen zivilrechtlich Unterhaltspflichtigen stellen kann, weil ihr kein Anspruch auf Doppelversorgung zusteht (RIS‑Justiz RS0080395), kann dort nicht angewendet werden, wo der Gesetzgeber durch Anordnung aufgeschobener (also erst mit Verständigung des Unterhaltsverpflichteten durch den Sozialhilfeträger bewirkter) Legalzession ausdrücklich das Weiterbestehen des Anspruchs des Unterhaltsberechtigten vorausgesetzt hat (RIS‑Justiz RS0063121). Nur wenn das jeweilige Sozialhilfegesetz keine den Sozialhilfeempfänger betreffende Rückzahlungsverpflichtung oder keine (aufgeschobene) Legalzession des Unterhaltsanspruchs vorsieht, also die einmal gewährte Sozialhilfe nicht (mehr) zurückgefordert werden kann, ist sie als anrechenbares Eigeneinkommen des Unterhaltsberechtigten anzusehen. In den übrigen Fällen bleibt der volle Unterhaltsanspruch bestehen (1 Ob 29/16w; 4 Ob 7/17h Pkt 1.5. mwN; 3 Ob 155/17s Pkt 1.1.).
3. Die Minderjährige ist im Rahmen der vollen Erziehung in einer sozialpädagogischen Einrichtung nach den § 36 Abs 1, § 42 Abs 1 Z 2, § 45 K-KJHG untergebracht. Die Kosten für die Gewährung dieser Erziehungshilfe hat grundsätzlich zunächst das Land zu tragen (§ 49 Abs 1 K‑KJHG). Die Kosten der vollen Erziehung und der Hilfen für junge Erwachsene sind, soweit durch diese Leistungen der Unterhalt tatsächlich gewährt wurde, von den zivilrechtlich zum Unterhalt Verpflichteten zu ersetzen, soweit diese nach ihren Lebensverhältnissen dazu imstande sind oder zum Zeitpunkt der Gewährung der Erziehungshilfe imstande waren (§ 49 Abs 3 K-KJHG). Forderungen von Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen auf wiederkehrende Leistungen, die der Deckung des Unterhaltsbedarfs dienen, gehen bis zur Höhe der Ersatzforderung auf das die volle Erziehung oder die Hilfen für junge Erwachsene gewährende Land über. Der Übergang der Forderung ist dem zur Leistung Verpflichteten anzuzeigen (§ 49 Abs 4 K-KJHG).
Diese besonderen Kostentragungs- und Kostenersatzregelungen des K-KJHG bewirken nach der Judikatur des Obersten Gerichtshofs (Pkt 2.), dass der volle Unterhaltsanspruch der mj S* trotz primärer voller Kostentragung ihrer Unterbringung durch das Land grundsätzlich bestehen bleibt.
4. Es ist somit zu prüfen, ob und gegebenenfalls welche Auswirkungen die gesetzliche Neuregelung zur Abschaffung des Pflegeregresses auf den Regressanspruch des Landes gegenüber dem Unterhaltsverpflichteten (§ 49 Abs 3 K-KJHG) und somit hier auf die Unterhaltsverpflichtung des Vaters gegenüber seiner Tochter haben. Dass ein Übergang des Unterhaltsanspruchs auf das Land bereits bewirkt wurde (vgl 8 Ob 137/15b Pkt I.1.; 8 Ob 6/16i Pkt 2.2.), wurde nicht behauptet.
4.1. Mit dem Sozialversicherungs-Zuordnungsgesetz (SV-ZG), BGBl I 2017/125, wurde § 330a in das ASVG eingefügt. Diese Bestimmung unter der Überschrift „Verbot des Pflegeregresses“ steht im Verfassungsrang und lautet:
„(Verfassungsbestimmung) Ein Zugriff auf das Vermögen von in stationären Pflegeeinrichtungen aufgenommenen Personen, deren Angehörigen, Erben/Erbinnen und Geschenknehmer/inne/n im Rahmen der Sozialhilfe zur Abdeckung der Pflegekosten ist unzulässig.“
4.2. Nach den Materialien (Begründung des Abänderungsantrags im Nationalrat, AA-225 25. GP 3) soll mit dieser Bestimmung der Pflegeregress verboten werden. Ihr Inkrafttreten regelt die ebenfalls mit dem Sozialversicherungs-Zuordnungsgesetz eingefügte Verfassungsbestimmung des § 707a Abs 2 ASVG. Sie lautet:
„(Verfassungsbestimmung) § 330a samt Überschrift in der Fassung des Bundesgesetzes BGBl. I Nr. 125/2017 tritt mit 1. Jänner 2018 in Kraft. Ab diesem Zeitpunkt dürfen Ersatzansprüche nicht mehr geltend gemacht werden, laufende Verfahren sind einzustellen. Insoweit Landesgesetze dem entgegenstehen, treten die betreffenden Bestimmungen zu diesem Zeitpunkt außer Kraft. Nähere Bestimmungen über den Übergang zur neuen Rechtslage können bundesgesetzlich getroffen werden. [...].“
Nach den Materialien (aaO 3) soll mit dieser Übergangsregelung sichergestellt werden, dass ab dem Inkrafttreten sowohl laufende gerichtliche als auch verwaltungsbehördliche Verfahren eingestellt werden. Auch neue Rückzahlungsverpflichtungen sollen demnach nicht mehr auferlegt werden dürfen. Weiters wird unter beispielhafter Anführung der §§ 26 und 27 des Wiener Sozialhilfegesetzes (WSHG) angemerkt, dass die entgegenstehenden landesgesetzlichen Bestimmungen nur insoweit außer Kraft treten sollen, als sie sich auf den Zugriff auf das Vermögen von in stationären Pflegeeinrichtungen aufgenommenen Personen und ihrer Erben/Erbinnen und Geschenknehmer zur Abdeckung der Pflegekosten beziehen (1 Ob 62/18a Pkt 2.1 bis 2.3).
5. In ihrem Revisionsrekurs macht die Minderjährige nun zum einen geltend, dass die Einbindung des Pflegeregressverbots in das ASVG in Ermangelung eines Sozialhilfe-Grundsatzgesetzes einen deutlichen Bezug zur Sozialhilfe darstelle. Einen Entfall des Kostenersatzes in der Kinder- und Jugendhilfe sehe das Gesetz hingegen nicht vor und es sei dies vom Gesetzgeber auch nicht beabsichtigt gewesen. Durch den Wegfall des Zugriffs auf das Vermögen von pflegebedürftigen Personen in stationären Pflegeeinrichtungen und deren Angehörigen solle nur gewährleistet werden, dass die Wahlmöglichkeiten dieser Pflegebedürftigen nicht eingeschränkt würden. Zum anderen beziehe sich die Abschaffung des Pflegeregresses ausschließlich auf das Vermögen der Pflegebedürftigen und deren Angehörigen, nicht aber auch auf deren laufendes Einkommen.
6. Schon der erstgenannte Einwand der Revisionsrekurswerberin ist berechtigt:
Nach den Materialien (aaO 3) führen die in den landesgesetzlichen Vorschriften verankerten Regelungen, die einen Zugriff auf das Vermögen pflegebedürftiger Personen, die in stationären Pflegeeinrichtungen betreut werden, bzw ihrer Geschenknehmer ermöglichen, beim betroffenen Personenkreis oftmals zur gänzlichen Verwertung sämtlicher oft mühsam erworbener Vermögenswerte, wie etwa eines Eigenheimes oder Sparguthabens. Dadurch kann die im Rahmen des österreichischen Pflegevorsorgesystems intendierte Wahlmöglichkeit für die Betroffenen insofern eingeschränkt werden, als dadurch ein allfällig sachlich gebotener oder von der betroffenen Person gewünschter Umzug in eine stationäre Pflegeeinrichtung oftmals nicht realisierbar ist.
Daraus ist das Ziel des Verbots des Pflegeregresses klar erkennbar: Die Pflege und Betreuung älterer und gebrechlicher Menschen soll an die mittlerweile eingetretenen Veränderungen der sozialökonomischen und soziodemographischen Entwicklung in Österreich angepasst werden. Immer mehr Menschen werden immer älter. Die Unterbringung bedürftiger Personen in Alten- und Pflegeheimen stellt aber eine besonders kostenintensive Form der Pflege und Betreuung dar. Die Entscheidung für eine bestimmte Form der Pflege und Betreuung darf aber keine Finanzierungsfrage sein, sondern sollte sich an den Bedürfnissen der betreffenden Personen orientieren. Das Verbot des Pflegeregresses will verhindern, dass ältere Personen, die eine Pflege und Betreuung in einer stationären Heimpflege benötigen, den „Gang ins Heim“ vermeiden, um finanziellen Schaden von sich und den Verwandten abzuwenden und die eigene Pflege- und Betreuungsbedürftigkeit durch Hilfsdienste und mit Unterstützung von Angehörigen abzudecken versuchen (vgl Wetsch, Pflegeregress: Das Dilemma des Kostenersatzrechts bei Heimunterbringung, ÖZPR 2017/72 [120]; Müllner, Von der Abschaffung des Pflegeregresses und was daraus folgt, JRP 2017, 182 [182]).
Dafür, dass mit dem in § 330a ASVG verankerten Verbot des Zugriffs auf das Vermögen von in stationären Pflegeeinrichtungen aufgenommenen Personen, deren Angehörigen, Erben/Erbinnen und Geschenknehmer/inne/n „im Rahmen der Sozialhilfe (Mindestsicherung)“ (vgl 2 Ob 12/18f Pkt 1.3.) zur Abdeckung der Pflegekosten auch die Regelung des Kostenersatzes der vollen Erziehung durch den zivilrechtlich zum Unterhalt verpflichteten Elternteil nach § 49 Abs 3 K-KJHG umfasst sein sollte, also der Elternteil eines im Rahmen des K-KJHG untergebrachten Kindes von seiner Unterhaltspflicht nach § 231 ABGB befreit werden sollte, finden sich keine Anhaltspunkte.
Es wird davon ausgegangen, dass der Bundesgesetzgeber gleichzeitig mit der Einführung des § 330a ASVG die – mit § 49 Abs 3 K-KJHG vergleichbare – Bestimmung des § 30 Bundes-Kinder- und Jugendhilfegesetz 2013 entsprechend geändert hätte. Dies ist aber nicht der Fall gewesen.
7. Zusammengefasst ist festzuhalten, dass vom Verbot des Pflegeregresses nach § 330a ASVG nicht die Verpflichtung der Eltern eines nach dem K-KJHG im Rahmen der vollen Erziehung untergebrachten Kindes umfasst ist, dem Land die Kosten der vollen Erziehung, soweit durch diese Leistungen der Unterhalt tatsächlich gewährt wurde, zu ersetzen.
8. Dem Revisionsrekurs ist daher Folge zu geben und die Entscheidungen der Vorinstanzen sind aufzuheben; die Rechtssache ist an das Erstgericht zur neuerlichen Entscheidung nach Verfahrensergänzung zurückzuverweisen. Bereits das Rekursgericht hat darauf hingewiesen, dass die nach den Umständen des Einzelfalls zu beurteilende Belastungsgrenze (vgl 9 Ob 41/18x mwN) noch nicht ausreichend geklärt ist (RIS-Justiz RS0043414 [T8]).
Lizenziert vom RIS (ris.bka.gv.at - CC BY 4.0 DEED)