OGH 8ObA55/16w

OGH8ObA55/16w24.8.2017

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits‑ und Sozialrechtssachen durch den Vizepräsidenten Prof. Dr. Spenling als Vorsitzenden, die Hofrätin Dr. Tarmann‑Prentner und den Hofrat Dr. Brenn als weitere Richter sowie die fachkundigen Laienrichter Mag. Timea Pap und Robert Hauser in der Arbeitsrechtssache der klagenden Partei G***** M*****, vertreten durch Dr. Clemens Pichler, Rechtsanwalt in Dornbirn, gegen die beklagte Partei O***** GmbH, *****, vertreten durch Fellner, Wratzfeld & Partner Rechtsanwälte GmbH in Wien, wegen 116.170,99 EUR brutto sA, über die Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht in Arbeits‑ und Sozialrechtssachen vom 25. Mai 2016, AZ 8 Ra 27/16y, mit dem das Urteil des Landesgerichts Korneuburg als Arbeits- und Sozialgericht vom 28. Juli 2015, GZ 7 Cga 52/12y‑91, abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2017:008OBA00055.16W.0824.000

 

Spruch:

 

Die Revision wird zurückgewiesen.

Die klagende Partei ist schuldig, der beklagten Partei binnen 14 Tagen die mit 2.203,38 EUR (darin 367,23 EUR USt) bestimmten Kosten der Revisionsbeantwortung zu ersetzen.

 

Entscheidungsgründe:

Die Klägerin betrieb aufgrund eines Tankstellenunternehmensvertrags mit der Beklagten eine Tankstelle als selbstständige Gewerbetreibende ohne Verpflichtung zur persönlichen Dienstleistung. Der Tankstelle waren ein Verkaufslokal („Shop“), ein Gastgewerbebetrieb und eine Autowaschanlage angeschlossen. Das Vertragsverhältnis endete mit 31. 3. 2012 durch Selbstkündigung der Klägerin wegen Inanspruchnahme der Regelalterspension.

Im Revisionsverfahren ist nur mehr die Höhe des der Klägerin nach § 24 HVertrG gebührenden Ausgleichsanspruchs strittig.

Das Erstgericht sprach der Klägerin im dritten Rechtsgang unter Abweisung des Mehrbegehrens 94.100 EUR brutto sA zu. Sowohl für das Treibstoffgeschäft als auch analog für den Folgemarkt stehe ihr ein Ausgleichsanspruch zu, da sie damit in die Absatzorganisation der Beklagten eingegliedert gewesen sei. Zur Berechnung der Höhe sei zunächst der sogenannte Rohausgleich zu ermitteln, bei dem Unternehmervorteile und Billigkeitsgesichtspunkte zu berücksichtigen seien. Danach sei die Höchstgrenze gemäß § 24 Abs 4 HVertrG unter Heranziehung der abgezinsten, um die Abwanderungsquote zu verringernden fiktiven Provisionseinnahmen zu ermitteln. Für die Berechnung des Ausgleichsanspruchs eines Vertrags- oder Eigenhändlers analog § 24 HVertrG komme es auf die Handelsspanne zuzüglich allfälliger Sondervergütungen für die Vermittlungstätigkeit an. Maßgeblich seien die für geworbene Stammkunden erzielten Umsätze, davon seien nach gebundenem Ermessen ein Billigkeitsabzug und ein Abzug für die Abwanderungsquote zu tätigen. Nach dieser Berechnung ergebe sich der zugesprochene Betrag als der Klägerin zustehender Ausgleichsanspruch.

Das Berufungsgericht gab dem Rechtsmittel der Klägerin nicht Folge. Die Berechnung des Erstgerichts enspreche dem Gesetz und der Rechtsprechung, insbesondere auch bezüglich der Annahme einer linearen Abwanderungsquote. Ein Prognosezeitraum von vier Jahren sei den Umständen des Einzelfalls nach ebensowenig zu beanstanden wie ein Abschlag von 50 %. Soweit die Klägerin einen geringeren Billigkeitsabschlag bei linearer Abwanderungsquote reklamiere, weil dabei neu geworbene Stammkunden nur teilweise berücksichtigt würden, verstoße sie mangels eines entsprechenden erstinstanzlichen Vorbringens gegen das Neuerungsverbot. Auch gegen den in erster Instanz ermittelten Ausgleichsanspruch für den Folgemarkt bestünden keine Bedenken.

Dem Rechtsmittel der Beklagten gab das Berufungsgericht Folge und änderte den Zuspruch auf 61.230,99 EUR brutto unter Abweisung des Mehrbegehrens ab, weil das Erstgericht einen in Rechtskraft erwachsenen Teilzuspruch von 32.869,01 EUR übersehen hatte (im Revisionsverfahren unstrittig).

Die ordentliche Revision sei zulässig, weil die Frage, ob eine degressive oder lineare Abwanderungsquote bei Errechnung des Ausgleichsanspruchs nach § 24 HVertrG zugrundezulegen sei und ob es sich dabei um eine Tat- oder Rechtsfrage handle, in der höchstgerichtlichen Rechtsprechung nicht eindeutig beantwortet sei. Das Gleiche gelte für die Frage, ob abweichend von der bisherigen Rechtsprechung aufgrund der Entscheidung des EuGH vom 26. 3. 2009, C‑348/07, bei der Berechnung des Ausgleichsanspruchs der Unternehmervorteil jedenfalls von der umsatzabhängigen Pacht auszugehen habe.

In ihrer Revision beantragt die Klägerin, die Entscheidungen der Vorinstanzen abzuändern und ihr insgesamt 99.623,88 EUR brutto zuzuerkennen.

Die Beklagte beantragt in ihrer Revisionsbeantwortung, dem Rechtsmittel der Klägerin keine Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision ist entgegen dem Ausspruch des Berufungsgerichts unzulässig, weil die angesprochenen Fragen in der höchstgerichtlichen Rechtsprechung bereits geklärt sind und andere erhebliche Rechtsfragen im Sinne des § 502 Abs 1 ZPO von der Rechtsmittelwerberin nicht dargelegt werden.

1. Kern der Revisionsausführungen der Klägerin ist die These, die Vorinstanzen hätten die hypothetische Abwanderungsquote im Prognosezeitraum nicht linear berechnen dürfen, sondern von einer degressiven Abwanderung ausgehen müssen. Nach dieser Methode hätte sich jeweils ein höherer Rohausgleich ergeben, der nach Billigkeitsabschlag von (unstrittig) 50 % sowie nach Abzug des bereits rechtskräftig zugesprochenen Teils den im Rechtsmittelantrag genannten Betrag ergebe. Bei der Berechnung des um die Abwanderungsquote verminderten Rohausgleichs handle es sich entgegen der Ansicht des Berufungsgerichts um eine Tatfrage, die von den Vorinstanzen unrichtig gelöst worden sei.

2. Sieht man davon ab, dass eine unrichtige Lösung von Tatfragen im Revisionsverfahren nicht mehr aufgegriffen werden könnte, steht die Auffassung des Berufungsgerichts auch mit der höchstgerichtlichen Rechtsprechung im Einklang.

Gemäß § 24 Abs 1 Z 13 HVertrG hängt der Ausgleichsanspruch davon ab, ob der Handelsvertreter dem Unternehmer neue Kunden zugeführt oder bereits bestehende Geschäftsverbindungen wesentlich erweitert hat, ob zu erwarten ist, dass der Unternehmer oder dessen Rechtsnachfolger aus diesen Geschäftsverbindungen auch noch nach Auflösung des Vertragsverhältnisses erhebliche Vorteile ziehen kann, und die Zahlung eines Ausgleichs unter Berücksichtigung aller Umstände, insbesondere der dem Handelsvertreter aus Geschäften mit den betreffenden Kunden entgehenden Provisionen, der Billigkeit entspricht.

Bei der Bestimmung des (für den weiter bestehenden Vorteil des Unternehmers relevanten) geworbenen Stammkundenanteils sowie der Gewichtung der für die Stammkundenentscheidung maßgeblichen Faktoren kann nach der Rechtsprechung auf § 273 ZPO zurückgegriffen und eine richterliche Schätzung vorgenommen werden, wobei die Heranziehung von statistischen Erfahrungswerten zulässig ist bzw auf Sachverständigengutachten und Marktforschungsanalysen zurückgegriffen werden darf (8 ObA 290/01g und 8 ObA 299/01f; 4 Ob 54/02y mwN). Ebenso liegt die Festlegung eines Billigkeitsabzugs sowie der Abwanderungsquote im richterlichen Schätzungsermessen (RIS‑Justiz RS0112590; 6 Ob 170/02x; BGH VIII ZR 130/01).

Ob das Ergebnis einer Anwendung des § 273 ZPO richtig ist, stellt eine Rechtsfrage dar (RIS‑Justiz RS0040341).

3. Gebietet das Gesetz die Entscheidung nach billigem Ermessen, könnte nur eine eklatante Überschreitung dieses Ermessens im Rahmen der Revision aufgegriffen werden (RIS‑Justiz RS0044088). Eine solche Überschreitung vermag die Revision aber nicht aufzuzeigen, weil – worauf schon das Berufungsgericht hingewiesen hat – eine lineare Berechnung der Abwanderung in der höchstgerichtlichen Rechtsprechnung bereits mehrfach vertreten wurde (7 Ob 122/06a; 9 ObA 49/09k) und konkrete Gründe, weshalb sie gerade im vorliegenden Fall zu einem grob unbilligen Ergebnis führen würde, weder vorgebracht wurden, noch den Feststellungen dazu Anhaltspunkte zu entnehmen sind.

Das in der Revision für deren Standpunkt genannte Judikaturbeispiel ist nicht einschlägig. Der deutsche Bundesgerichtshof ist in seiner zitierten Entscheidung BGH VIII ZR 13/05 (Rz 32) vielmehr ausdrücklich der Rechtsansicht entgegengetreten, dass die Abwanderungsquote ab dem zweiten Prognosejahr jeweils auf den im Vorjahr noch verbliebenen Altkundenbestand bezogen werden müsse und nicht pro Jahr ein Verlust von 20 % des im Zeitpunkt der Vertragsbeendigung vorhandenen Stammkundenumsatzes angenommen werden dürfe. Die Bestimmung der Abwanderungsquote sei nur eingeschränkt darauf überprüfbar, ob das Instanzgericht die Grenzen des richterlichen Schätzungsermessens überschritten habe. Der Bundesgerichtshof habe in früheren Entscheidungen sowohl eine degressive als auch eine lineare Berechnung der Abwanderungsquote gebilligt. Die lineare Berechnung sei jedenfalls dann nicht zu beanstanden, wenn keine Anhaltspunkte dafür vorlägen, dass im Zeitpunkt der Beendigung des Vertragsverhältnisses aufgrund der Kundenbewegungen während der Vertragszeit oder anderer konkreter Umstände mit einer stärkeren oder geringeren Abwanderung der geworbenen Stammkunden zu rechnen sei (BGH VIII ZR 13/05).

4. Die nach Billigkeit festzusetzende Ausgleichszahlung ist grundsätzlich eine nach dem jeweiligen Einzelfall zu treffende Ermessensentscheidung des Gerichts (RIS‑Justiz RS0112590; 8 ObA 59/15g).

Die Revision vermag nicht darzulegen, inwiefern eine lineare Berechnung der Abwanderung von Stammkunden innerhalb der gesamten Ermessensentscheidung zu einer unbilligen Benachteiligung des Handelsvertreters führen würde, oder dass der gesetzliche Ausgleichsanspruch damit nicht im unionsrechlich gebotenen handelsvertreterfreundlichen Sinn ausgelegt würde.

Es besteht nach § 24 HVertrG kein Anspruch auf den höchstmöglichen irgendwie errechenbaren, sondern auf den der Billigkeit entsprechenden Ausgleich. Wegen der notwendigerweise an den Besonderheiten des Einzelfalls (von denen die Abwanderungsquote nur eines von mehreren variablen Elementen ist) auszurichtenden Ermittlung dieses Anspruchs ist für pauschale Berechnungsweisen oder die Berechnung nach festen Formeln kein Raum (RIS‑Justiz RS0116276 [T1]).

5. Der Anregung der Revisionswerberin auf Einholung einer Vorabentscheidung des EuGH war nicht näherzutreten, weil die Entscheidung nicht von ungeklärten Fragen der Auslegung des Gemeinschaftsrechts abhängt.

Auf die zweite vom Berufungsgericht in seinem Zulassungsausspruch für wesentlich erachtete Rechtsfrage geht die Revision nicht mehr ein.

6. Die Kostenentscheidung gründet sich auf §§ 41, 50 ZPO. Die Beklagte hat in ihrer Revisonsbeantwortung auf die Unzulässigkeit des Rechtsmittels hingewiesen.

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