European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2017:0120OS00033.17W.0518.000
Spruch:
Der Antrag der Staatsanwaltschaft Wien vom 8. Oktober 2009 auf nachträgliche Fortsetzung des Strafverfahrens gegen David S***** im Umfang der im Strafantrag vom 3. März 2009 erhobenen Vorwürfe wird abgewiesen und das Verfahren insoweit gemäß § 199 StPO iVm § 203 Abs 4 StPO endgültig eingestellt.
Gründe:
Im Verfahren AZ 8 U 9/09k des Bezirksgerichts Liesing legte die Staatsanwaltschaft Wien dem am 2. April 1991 geborenen David S***** mit Strafantrag vom 3. März 2009 (ON 8) zur Last, am 20. Juli 2008 ein als Vergehen des unbefugten Gebrauchs von Fahrzeugen nach § 136 Abs 1 StGB beurteiltes Verhalten gesetzt zu haben.
Nach Vertagung der hierüber am 13. Mai 2009 durchgeführten Hauptverhandlung (ON 17 S 5) erklärte die Staatsanwaltschaft Wien am 3. Juni 2009 (ON 1 S 9) ihr Einverständnis zu einem diversionellen Vorgehen gemäß §§ 199, 203 StPO. Mit rechtskräftigem Beschluss vom 10. Juni 2009 (ON 19) stellte das Bezirksgericht Liesing das Verfahren gemäß §§ 199, 203 Abs 1 StPO iVm § 7 Abs 1 Z 3 JGG unter Bestimmung einer Probezeit von zwei Jahren vorläufig ein und ordnete für die Dauer der Probezeit Bewährungshilfe an.
Am 30. September 2009 berichtete die Bewährungshelferin, dass ein Kontakt zum Angeklagten trotz aller Bemühungen nicht herzustellen war, weshalb eine Betreuung durch die Bewährungshilfe nicht möglich sei (ON 23).
Nachdem die Staatsanwaltschaft die Fortsetzung des Verfahrens beantragt hatte (ON 1 S 12), beraumte das Bezirksgericht Liesing am 13. Oktober 2009 – ohne über die Verfahrensfortsetzung beschlussmäßig abzusprechen – die Hauptverhandlung an und verfügte die Ladung des Angeklagten mit dem Beisatz: „Fortsetzung des Strafverfahrens, da Sie sich nicht an die Auflage, sich durch die Bewährungshilfe betreuen zu lassen, gehalten haben und überdies bis jetzt keine Schadensgutmachung geleistet haben!“
Die Hauptverhandlung wurden sodann mehrfach vertagt (ON 25, 26, 29, 36 und 40).
Mit weiteren (gemäß § 37 Abs 3 StPO in das Verfahren einbezogenen) Strafanträgen vom 10. Februar 2012 und vom 15. März 2012 (ON 46, 51) lastete die Staatsanwaltschaft Wien dem Angeklagten als Diebstahl nach § 127 StGB und als Sachbeschädigung nach § 125 StGB beurteilte Taten an. In der Folge war der Angeklagte unbekannten Aufenthalts.
In der Hauptverhandlung am 30. Juli 2015 (ON 67) verantwortete sich der Angeklagte zu sämtlichen Tatvorwürfen umfassend geständig (ON 67 S 4 f). Nach Vertagung der Hauptverhandlung erklärte die Staatsanwaltschaft Wien am 5. August 2015 ihr Einverständnis zu einem Vorgehen im Sinn der §§ 199, 204 StPO, woraufhin das Bezirksgericht Liesing dem Angeklagten anbot, das Strafverfahren gegen Bezahlung eines Pauschalkostenbeitrags und Leistung von 500 Euro Schadensgutmachung an das Opfer Siegfried L***** endgültig einzustellen (ON 68). Diesem Anbot kam der Angeklagte trotz Urgenz nicht nach.
Die am 11. Februar 2016 (ON 73) neu (§ 276a zweiter Satz StPO) durchgeführte Hauptverhandlung fand in Abwesenheit des (ordnungsgemäß geladenen) Angeklagten statt (ON 73 S 3). Dabei wurde gemäß § 252a StPO [ersichtlich gemeint: § 252 Abs 2a StPO] der wesentliche Akteninhalt vorgetragen, mit Zustimmung der Beteiligten“, wobei die Bezirksrichterin einzelne Aktenstücke anhand der Ordnungsnummern aufzählte (ON 73 S 4).
Mit rechtskräftigem Abwesenheitsurteil wurde David S***** des Vergehens des unbefugten Gebrauchs von Fahrzeugen nach § 136 Abs 1 StGB (1./), des Vergehens des Diebstahls nach § 127 StGB (2./) und des Vergehens der Sachbeschädigung nach § 125 StGB (3./) schuldig erkannt und zu einer Geldstrafe verurteilt. Zudem wurde dem Privatbeteiligten Siegfried L***** Schadenersatz zugesprochen (ON 74).
Rechtliche Beurteilung
Wie die Generalprokuratur in ihrer gemäß § 23 StPO erhobenen Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes zutreffend ausführt, steht die Vorgangsweise des Bezirksgerichts Liesing mehrfach mit dem Gesetz nicht in Einklang:
1./ Im Fall einer vorläufigen gerichtlichen Verfahrenseinstellung (hier: gemäß § 203 Abs 1 und 2 StPO iVm § 199 StPO sowie § 7 Abs 1 Z 3 JGG) ist eine auf § 205 Abs 2 Z 2 zweiter Fall StPO iVm § 199 StPO gestützte Verfahrensfortsetzung nur dann zulässig, wenn hierüber ein– den Bedingungen des § 86 Abs 1 und 2 StPOentsprechender – (Fortsetzungs‑)Beschluss gefasst wird (vgl 13 Os 47/14g; RIS‑Justiz RS0128156, RS0130526; Schroll, WK‑StPO § 205 Rz 21). Diesem Erfordernis entspricht ein bloßer Beisatz auf einer Ladung zur Hauptverhandlung nicht (vgl 13 Os 47/14g).
Der Aburteilung des sich darauf beziehenden Tatvorwurfs stand daher die vorläufige Einstellung des Verfahrens und somit ein – nur für den Fall rechtskräftig beschlossener Verfahrensfortsetzung auflösend bedingtes (vgl erneut 13 Os 47/14g mwN) – Verfolgungshindernis (vgl § 281 Abs 1 Z 9 lit b StPO) entgegen.
Bleibt der Vollständigkeit halber anzumerken, dass zum Urteilszeitpunkt die mit vorläufigem Einstellungsbeschluss vom 10. Juni 2009 angeordnete zweijährige Probezeit (mangels beschlossener Verfahrensfortsetzung) bereits abgelaufen war.
2./ Anstelle tatsächlicher Verlesung kann gemäß § 252 Abs 2a StPO der erhebliche Inhalt der Aktenstücke (resümierend) vorgetragen werden, soweit die Beteiligten des Verfahrens zustimmen und die Aktenstücke allen Beteiligten zugänglich sind. Ein solcher Vortrag substituiert eine Verlesung oder Vorführung im Sinn des § 252 Abs 1 und Abs 2 StPO (RIS‑Justiz RS0127712). Aus dem Nichterscheinen des gesetzeskonform geladenen (unvertretenen) Angeklagten zur Hauptverhandlung kann aber eine Zustimmung gemäß § 252 Abs 2a StPO nicht abgeleitet werden (RIS‑Justiz RS0117012 [T2]). Der zusammenfassende Vortrag des hier in Rede stehenden Aktenmaterials entsprach daher nicht dem Gesetz. Aus demselben Grund hätten daher die Protokolle über die Vernehmungen der Mitbeschuldigten Sebastian Sc***** (ON 2 S 53) und Oliver I***** (ON 2 S 59, ON 17 S 3 f) sowie der Zeugin Maria M***** (ON 42 S 8 f, ON 67 S 5) schon nicht verlesen werden dürfen, zumal auch keiner der Fälle des § 252 Abs 1 Z 1 bis 3 StPO vorlag.
3./ Nach § 245 Abs 1a StPO ist der Angeklagte über die gegen ihn erhobenen privatrechtlichen Ansprüche zu vernehmen und zur Erklärung aufzufordern, ob und in welchem Umfang er diese anerkennt. Da der in der Hauptverhandlung am 11. Februar 2016 nicht anwesende Angeklagte zu den privatrechtlichen Ansprüchen des Siegfried L***** nicht gehört wurde, verletzt der dennoch erfolgte Zuspruch an den Privatbeteiligten das Gesetz (vgl RIS‑Justiz RS0101178, RS0101197; Spenling, WK‑StPO Vor §§ 366–379 Rz 11). Der Privatbeteiligte wäre mit seinen Ansprüchen vielmehr auf den Zivilrechtsweg zu verweisen gewesen (§ 366 Abs 2 StPO).
Die aufgezeigten Gesetzesverletzungen gereichen dem Angeklagten zum Nachteil, sodass sich der Oberste Gerichtshof gemäß § 292 letzter Satz StPO veranlasst sah, an ihre Feststellung die im Spruch ersichtliche konkrete Wirkung zu knüpfen.
Bleibt anzumerken, dass die Rechtskraft des Privatbeteiligtenzuspruchs an Siegfried L***** (und die dadurch im Sinn des Art 1 des 1. ZPMRK an sich geschützte Position des Privatbeteiligten) der vorliegenden Urteilskassation nicht entgegensteht. Denn bei einem – wie hier – untrennbar mit einem aufzuhebenden Schuldspruch (§ 260 Abs 1 Z 2 StPO) verbundenen Zuspruch (§ 366 Abs 2 StPO) im Strafverfahren prävaliert stets der Schutz des Angeklagten (RIS‑Justiz RS0124740 [insb T3]; Ratz, WK‑StPO § 292 Rz 43/1).
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