OGH 13Os47/14g

OGH13Os47/14g14.8.2014

Der Oberste Gerichtshof hat am 14. August 2014 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Hon.‑Prof. Dr. Kirchbacher als Vorsitzenden, die Hofräte des Obersten Gerichtshofs Dr. Lässig, Dr. Nordmeyer und Dr. Oshidari sowie die Hofrätin des Obersten Gerichtshofs Dr. Mann in Gegenwart des Richteramtsanwärters Mag. Anscheringer als Schriftführer in der Strafsache gegen Erika L***** wegen des Vergehens des Diebstahls nach §§ 127 und 15 StGB, AZ 32 U 87/12p des Bezirksgerichts Donaustadt, über die von der Generalprokuratur gegen das Urteil dieses Gerichts vom 31. Oktober 2013 (ON 29) und andere Vorgänge erhobene Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes nach öffentlicher Verhandlung in Anwesenheit des Vertreters der Generalprokuratur, Generalanwalt Mag. Höpler, und der Verurteilten Erika L***** zu Recht erkannt:

In der Strafsache AZ 32 U 87/12p des Bezirksgerichts Donaustadt verletzen

(1) die Zustellung des Beschlusses vom 12. April 2013 (ON 14) an die Angeklagte (ON 14 S 2) § 209 Abs 2 letzter Satz StPO,

(2) die nachträgliche Fortsetzung des Strafverfahrens hinsichtlich der im Strafantrag vom 23. Juli 2012 (ON 3) erhobenen Vorwürfe § 35 Abs 2 StPO iVm §§ 199, 205 Abs 2 und 209 Abs 3 zweiter Satz StPO,

(3) die in der Hauptverhandlung am 31. Oktober 2013 (ON 27) vorgenommene Verlesung der Aussagen der Zeugen Gerhard G*****, Sonja S*****, Manuel Sp***** und Christian W***** sowie des Gutachtens des Sachverständigen Univ.‑Doz. Dr. Kurt M***** (ON 27 S 2) § 252 Abs 1 StPO iVm §§ 447, 458 zweiter Satz StPO und

(4) das Unterlassen der Zustellung von Ausfertigungen der Protokolle über die Hauptverhandlung (ON 5, 18 und 27) an die Beteiligten § 271 Abs 6 letzter Satz StPO iVm § 447 StPO.

Es wird das Urteil des Bezirksgerichts Donaustadt vom 31. Oktober 2013 (ON 29) aufgehoben und

(I) die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung über die Strafanträge der Staatsanwaltschaft Wien vom 11. April 2013 (ON 16) und vom 28. August 2013 (ON 22) an das Bezirksgericht Donaustadt verwiesen sowie

(II) in der Sache selbst der

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2014:0130OS00047.14G.0814.000

 

Spruch:

Der Antrag der Staatsanwaltschaft Wien vom 16. April 2013 (ON 15) auf nachträgliche Fortsetzung des Strafverfahrens gegen Erika L***** wegen der im Strafantrag vom 23. Juli 2012 (ON 3) erhobenen Vorwürfe wird abgewiesen und das Verfahren in diesem Umfang gemäß § 199 StPO iVm § 203 Abs 4 StPO endgültig eingestellt.

Text

Gründe:

1) Die Staatsanwaltschaft Wien legte Erika L***** mit Strafantrag vom 23. Juli 2012 (ON 3) zur Last, am 12. Juli 2012 in Wien das Vergehen des Diebstahls nach §§ 127 und 15 StGB begangen zu haben.

Nachdem die hierüber vor dem Bezirksgericht Donaustadt durchgeführte Hauptverhandlung (ON 5) am 3. September 2012 vertagt worden war (ON 5 S 3), erklärte die Staatsanwaltschaft am 14. September 2012 ihr Einverständnis mit einem Vorgehen im Sinn der §§ 199, 201 StPO gegen die Verpflichtung zu 50 Stunden gemeinnützigen Leistungen bei Auferlegung eines Pauschalkostenbeitrags von 50 Euro (ON 1 S 1a).

Am 20. September 2012 teilte das Bezirksgericht Donaustadt Erika L***** mit, dass das gegen sie eingeleitete Strafverfahren im Fall der Erbringung von 50 Stunden gemeinnützigen Leistungen bei Zahlung eines Pauschalkostenbeitrags von 50 Euro eingestellt werden „würde“ (ON 6). Eine Frist für die Leistungserbringung wurde dabei ‑ entgegen § 201 Abs 4 erster Satz StPO (iVm § 199 StPO) ‑ nicht bestimmt.

Mit Abschlussbericht vom 29. November 2012 (ON 9) regte der (vom Gericht mit der Abwicklung der gemeinnützigen Leistungen betraute [ON 7]) Verein N***** mit Blick auf den angegriffenen psychischen und physischen Zustand der Erika L***** einen „diversionellen Variantenwechsel“ an. Nach diesbezüglicher Zustimmung der Staatsanwaltschaft Wien (ON 1 S 1a) teilte das Bezirksgericht Donaustadt der Angeklagten am 17. Dezember 2012 mit, dass „das Verfahren gemäß § 203 Abs 1 StPO mit Beschluss vorläufig eingestellt werden“ würde, wenn sie „eine Probezeit von einem Jahr auf sich“ nehme und sie sich bereit erkläre, die von ihr „begonnene Therapie“ fortzusetzen und dem Gericht hierüber beginnend mit 1. März 2013 vierteljährlich zu berichten sowie einen Pauschalkostenbeitrag von 50 Euro zu zahlen (ON 10).

Nachdem Erika L***** den Pauschalkostenbeitrag am 1. März 2013 bezahlt hatte (ON 12), fasste das Bezirksgericht Donaustadt über ihr Ersuchen vom 4. März 2013 (ON 13) nach zustimmender Äußerung der Staatsanwaltschaft (ON 1 S 1a verso) am 12. April 2013 den Beschluss, dass die Weisung, die „Therapie weiterhin zu besuchen“, aufgehoben wird, die „Probezeit von einem Jahr“ aber „weiterhin aufrecht“ bleibt (ON 14).

Die Zustellung dieses Beschlusses an die Staatsanwaltschaft und die Angeklagte wurde gleichzeitig verfügt und abgefertigt (ON 14 S 2). Sie erfolgte gegenüber der Angeklagten (wie aus dem VJ‑Register ersichtlich) durch Hinterlegung am 18. April 2013, gegenüber der Staatsanwaltschaft durch Aktenübersendung am 15. April 2013 (ON 14 S 2). Am 8. Mai 2013 erklärte die Staatsanwaltschaft, gegen den Beschluss keinen Einwand zu erheben (ON 1 S 1a verso).

2) Am 11. April 2013 (Einbringungsdatum 22. April 2013) erhob die Staatsanwaltschaft einen weiteren Strafantrag (ON 16), mit dem sie Erika L***** anlastete, am 29. März 2013 das Vergehen des Diebstahls nach §§ 15, 127 StGB begangen zu haben. Zugleich mit der Übersendung dieses Strafantrags stellte sie beim Bezirksgericht Donaustadt den Antrag, das vorläufig eingestellte (den Strafantrag vom 23. Juli 2012 [ON 3] betreffende) Strafverfahren gemäß § 205 (richtig) Abs 2 Z 3 StPO fortzusetzen (ON 15 S 1).

Hierauf beraumte das Bezirksgericht Donaustadt am 14. Mai 2013 für den 10. Juni 2013 eine Hauptverhandlung zum Thema „Fortsetzung des Strafverfahrens wegen versuchten Diebstahls und Diebstahls am 12. 07. 2012 und Vorwurf des versuchten Diebstahls am 29. 03. 2013“ an (ON 1 S 3).

3) Nachdem diese Hauptverhandlung (ON 18) zur Einholung eines Sachverständigengutachtens vertagt worden war (ON 18 S 3 f), brachte die Staatsanwaltschaft Wien am 2. September 2013 (ON 21a S 1) einen weiteren Strafantrag (vom 28. August 2013) ein, mit dem sie Erika L***** anlastete, am 16. August 2013 das Vergehen des Diebstahls nach §§ 15, 127 StGB begangen zu haben (ON 22).

Nach Einlangen des Sachverständigengutachtens (ON 23) wurde Erika L***** erneut zur Hauptverhandlung geladen, die Zustellung der Ladung erfolgte durch Hinterlegung am 20. September 2013 (ON 1 S 13).

In der ‑ in Abwesenheit der Angeklagten durchgeführten ‑ Hauptverhandlung (ON 27) verlas die Einzelrichterin den gesamten Akteninhalt, „insbesondere das psychiatrisch‑neurologische Gutachten des Univ. Doz. Dr. Kurt M*****“ (ON 27 S 2). Mit dem hienach ergangenen Urteil wurde Erika L***** im Sinn der Strafanträge vom 23. Juli 2012 (ON 3), vom 11. April 2013 (ON 16) und vom 28. August 2013 (ON 22) schuldig gesprochen und zu einer (unbedingten) Geldstrafe verurteilt (ON 27 S 3 f).

Das Abwesenheitsurteil (ON 29) wurde der Staatsanwaltschaft (am 25. November 2013) und der Angeklagten (am 28. November 2013) zugestellt (ON 29 S 8) und erwuchs unbekämpft in Rechtskraft. Die Protokolle über die Hauptverhandlung vom 3. September 2012 (ON 5), vom 10. Juni 2013 (ON 18) und vom 31. Oktober 2013 (ON 27) wurden den Beteiligten nach der Aktenlage nicht zugestellt.

Rechtliche Beurteilung

Wie die Generalprokuratur in ihrer gemäß § 23 StPO erhobenen Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes zutreffend ausführt, wurde das Gesetz durch die beschriebenen Vorgänge mehrfach verletzt:

(1) Gemäß § 209 Abs 2 letzter Satz StPO ist (unter anderem) ein Beschluss, mit dem das Verfahren eingestellt wird, dem Beschuldigten (hier: Angeklagten) erst dann zuzustellen, wenn er der Staatsanwaltschaft gegenüber in Rechtskraft erwachsen ist (Schroll, WK‑StPO § 203 Rz 23 und § 209 Rz 5). Diesem Erfordernis entsprach die Zustellverfügung zum ‑ die vorläufige Einstellung hier erstmals formell aussprechenden ‑ Beschluss vom 12. April 2013 (ON 14 S 2), mit der die Zustellung an die Staatsanwaltschaft und die Angeklagte gleichzeitig angeordnet wurde, nicht.

(2) Die nachträgliche Fortsetzung des Strafverfahrens infolge erneuter Delinquenz setzt gemäß § 205 Abs 2 Z 3 StPO voraus, dass gegen den Beschuldigten vor Ablauf der Probezeit wegen einer anderen Straftat ein Strafverfahren eingeleitet, diesbezüglich Anklage eingebracht und das Verfahren während dreier Monate nach dem Einbringen fortgesetzt worden ist (Schroll, WK‑StPO § 205 Rz 14).

Über die nachträgliche Fortsetzung eines vom Gericht vorläufig eingestellten Strafverfahrens hat dieses mit Beschluss, der von der Staatsanwaltschaft und vom Angeklagten angefochten werden kann (§ 87 Abs 1 StPO, vgl auch § 209 Abs 3 zweiter Satz StPO; Schroll, WK‑StPO § 205 Rz 21 und § 209 Rz 15), zu entscheiden (§ 35 Abs 2 StPO). Da eine Beschwerde gegen die nachträgliche Fortsetzung des Strafverfahrens aufschiebende Wirkung hat (§ 209 Abs 3 zweiter Satz StPO), stand der Verfahrensfortsetzung in Bezug auf die im Strafantrag vom 23. Juli 2012 (ON 3) erhobenen Vorwürfe das durch die vorläufige Einstellung eingetretene, nur für den Fall der Rechtskraft einer beschlossenen Fortsetzung auflösend bedingte Verfolgungshindernis entgegen (13 Os 72/07y, SSt 2007/54; 12 Os 65/12v).

Aufgrund der Strafanträge vom 11. April 2013 (ON 16) und vom 28. August 2013 (ON 22) kommt eine nachträgliche Fortsetzung des vorläufig eingestellten Verfahrens infolge erneuter Delinquenz schon wegen des Ablaufs der mit jeweiliger Anklage‑Einbringung ausgelösten Dreimonatsfrist (§ 205 Abs 2 Z 3 zweiter Satz StPO) nicht mehr in Betracht.

Einer etwaigen Verfahrensfortsetzung aus anderen Gründen steht der zwischenzeitig eingetretene Ablauf der einjährigen Probezeit entgegen.

(3) Nach § 252 Abs 1 StPO (hier iVm §§ 447, 458 zweiter Satz StPO) dürfen ‑ soweit gegenständlich von Interesse ‑ Protokolle über die Vernehmung von Zeugen, amtliche Schriftstücke, in denen Aussagen von Zeugen festgehalten worden sind, und Gutachten von Sachverständigen bei sonstiger Nichtigkeit nur in den in § 252 Abs 1 Z 1 bis 4 StPO genannten Fällen in der Hauptverhandlung verlesen werden.

Während eine Verlesungsermächtigung im Sinn der Z 1 bis 3 des § 252 Abs 1 StPO hier nicht in Rede steht, ist aus dem Nichterscheinen der Angeklagten zur Hauptverhandlung deren Einverständnis mit Verlesungen im Sinn des § 252 Abs 1 Z 4 StPO nicht abzuleiten (12 Os 91/02, SSt 64/71; RIS‑Justiz RS0117012; jüngst 14 Os 23/14k, 24/14g; Kirchbacher, WK‑StPO § 252 Rz 103).

Die in der Hauptverhandlung am 31. Oktober 2013 vorgenommene Verlesung des „gesamten Akteninhalts“ (ON 27 S 2), also auch der Depostionen der Zeugen Christian W***** (ON 2 S 11 ff und 15), Manuel Sp***** (ON 15 S 11 ff und 15), Gerhard G***** (ON 21a S 17 ff und 25) sowie Sonja S***** (ON 21a S 21 ff) und des (zudem ausdrücklich als verlesen angeführten [ON 27 S 2]) Gutachtens des Sachverständigen Univ.‑Doz. Dr. M***** (ON 23) verletzte somit das Verlesungsverbot des § 252 Abs 1 StPO.

(4) Gemäß § 271 Abs 6 letzter Satz StPO (hier iVm § 447 StPO) ist den Beteiligten des Strafverfahrens, soweit sie (wie hier) nicht darauf verzichtet haben, eine Ausfertigung des Protokolls über die Hauptverhandlung ehestmöglich, spätestens aber zugleich mit der Urteilsausfertigung zuzustellen, was hier nach der Aktenlage nicht geschah.

Da die Verurteilung der Erika L***** wegen der im Strafantrag vom 23. Juli 2012 (ON 3) erhobenen Anklagevorwürfe jedenfalls zu deren Nachteil wirkt, sah sich der Oberste Gerichtshof gemäß § 292 letzter Satz StPO veranlasst, die diesbezügliche Gesetzesverletzung durch (Urteilsaufhebung und) Einstellung des Verfahrens im Sinn der §§ 199, 203 Abs 4 StPO mit konkreter Wirkung zu verknüpfen.

Ein Erika L***** nachteiliger Einfluss der entgegen § 252 Abs 1 StPO vorgenommenen Verlesungen auf die Schuldsprüche wegen der von den Strafanträgen vom 11. April 2013 (ON 16) und vom 28. August 2013 (ON 22) umfassten Vorwürfe ist nicht auszuschließen, aus welchem Grund sich der Oberste Gerichtshof veranlasst sah, insoweit mit Urteilsaufhebung und Verweisung an das Bezirksgericht Donaustadt vorzugehen.

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