OGH 14Os23/14k

OGH14Os23/14k1.4.2014

Der Oberste Gerichtshof hat am 1. April 2014 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Dr. Philipp als Vorsitzenden, die Hofrätinnen des Obersten Gerichtshofs Mag. Hetlinger und Mag. Marek sowie die Hofräte des Obersten Gerichtshofs Dr. Nordmeyer und Dr. Oshidari in Gegenwart des Richteramtsanwärters Mag. Fellner als Schriftführer in der Strafsache gegen Seyyed M***** wegen des Vergehens der sexuellen Belästigung nach § 218 Abs 1 Z 1 StGB, AZ 26 U 10/10a des Bezirksgerichts Meidling, über die von der Generalprokuratur gegen mehrere Vorgänge in diesem Verfahren erhobene Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes nach öffentlicher Verhandlung in Anwesenheit des Vertreters der Generalprokuratur, Generalanwalt Dr. Eisenmenger, zu Recht erkannt:

 

Spruch:

In der Strafsache AZ 26 U 10/10a des Bezirksgerichts Meidling verletzen das Gesetz:

1./ die in der Hauptverhandlung am 13. April 2011 erfolgte Verlesung und der Vortrag des erheblichen Inhalts der schriftlichen Gutachten über spurenkundliche Untersuchungen der Sachverständigen Dr. Christina S***** (ON 5 und 18) sowie der Protokolle über die Vernehmung der Zeugin Maria-Madalina B***** durch die Kriminalpolizei (ON 2 S 15 ff) und in der Hauptverhandlung am 5. Mai 2010 (ON 16 S 6 ff) § 252 Abs 1 und Abs 2a StPO iVm §§ 447, 458 zweiter Satz StPO;

2./ die Unterlassung der Zustellung des Protokolls über die Hauptverhandlung am 13. April 2011 (ON 45) an den Angeklagten spätestens mit der Urteilsausfertigung § 271 Abs 6 letzter Satz StPO iVm §§ 447, 458 zweiter Satz StPO.

Das Urteil des Bezirksgerichts Meidling vom 13. April 2011, GZ 26 U 10/10a‑47, sowie der unter einem gefasste Beschluss auf Absehen vom Widerruf der zu AZ 54 Hv 103/06w des Landesgerichts für Strafsachen Wien gewährten bedingten Strafnachsicht werden aufgehoben und die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Bezirksgericht Meidling verwiesen.

Text

Gründe:

Im Verfahren gegen Seyyed M***** wegen des Vergehens der sexuellen Belästigung nach § 218 Abs 1 Z 1 StGB, AZ 26 U 10/10a des Bezirksgerichts Meidling, wurde die Hauptverhandlung am 5. Mai 2010 ‑ nach Vernehmung des Angeklagten und der Zeugin Maria‑Madalina B***** (ON 16 S 6 ff) ‑ unter anderem zur Einholung eines (jenes vom 6. August 2009 [ON 5] ergänzenden) gerichtsmedizinischen Gutachtens über spurenkundliche Untersuchungen auf unbestimmte Zeit vertagt (ON 16).

Nach Einlangen des Gutachtens der Sachverständigen Dr. Christina S***** (ON 18) und Ausschreibung des vorübergehend unerreichbaren Angeklagten zur Aufenthaltsermittlung (ON 28, 34, 40) wurde für den 13. April 2011 eine Hauptverhandlung anberaumt, zu der Seyyed M***** trotz Zustellung der Ladung durch Hinterlegung und telefonischer Benachrichtigung vom Termin (siehe den Rückschein ON 1 S 11 verso sowie ON 45 S 2, ON 57b S 3) nicht erschien.

Nach dem Protokoll über die sodann in Abwesenheit des Angeklagten durchgeführte Hauptverhandlung wurden „der bisherige Akteninhalt sowie der Vorstrafakt 54 Hv 103/06w“ „verlesen und vorgetragen“ (ON 45 S 2).

Seyyed M***** wurde mit Abwesenheitsurteil vom 13. April 2011, GZ 26 U 10/10a‑47, des Vergehens der sexuellen Belästigung nach § 218 Abs 1 Z 1 StGB schuldig erkannt und hiefür zu einer zweimonatigen Freiheitsstrafe verurteilt. Mit unter einem gefassten Beschluss wurde zudem nach § 494a Abs 1 Z 2 StPO vom Widerruf der dem Angeklagten zu AZ 54 Hv 103/06w des Landesgerichts für Strafsachen Wien gewährten bedingten Strafnachsicht abgesehen (ON 45 S 3).

Nach dem Inhalt des Schuldspruchs hat er am 26. Mai 2009 in Wien Maria‑Madalina B***** durch eine geschlechtliche Handlung an ihr belästigt, indem er ihre Brüste oberhalb der Kleidung betastete und sie im Genitalbereich berührte (ON 47).

Die Feststellungen zum objektiven Sachverhalt gründete das Erstgericht auf „das DNA‑Gutachten der gerichtlich beeideten Sachverständigen Dr. Christina S*****“ und die Aussagen des Tatopfers Maria‑Madalina B***** vor der Polizei und in der Hauptverhandlung (ON 47 S 3).

Eine schriftliche Ausfertigung des Abwesenheitsurteils wurde dem Angeklagten mit der dafür vorgesehenen Rechtsmittelbelehrung, jedoch ohne eine Ausfertigung des Protokolls über die Hauptverhandlung (ON 47 S 5) persönlich ausgehändigt (ON 57 S 3).

Der Beschluss des Bezirksgerichts Meidling vom 14. Oktober 2013, mit dem sein dagegen fristgemäß erhobener Einspruch „verworfen“ worden war (ON 58), wurde ihm an seiner ‑ allerdings nicht mehr aktuellen (ON 59 S 9) ‑ Adresse durch Hinterlegung zugestellt (ON 60).

Rechtliche Beurteilung

Wie die Generalprokuratur in ihrer Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes zutreffend aufzeigt, steht die beschriebene Vorgangsweise des Bezirksgerichts Meidling mit dem Gesetz nicht im Einklang:

Vorauszuschicken ist, dass die Bestimmungen des 14. Hauptstücks der StPO, also jene über die Hauptverhandlung und das Urteil im schöffengerichtlichen Verfahren, auch für die Verhandlung vor dem Bezirksgericht gelten, soweit das Gesetz nichts anderes bestimmt (§§ 447, 458 zweiter Satz StPO).

1. Aus dem Protokoll über die Hauptverhandlung am 13. April 2011 ist mit Blick auf die zitierte Formulierung ersichtlich, dass der gesamte Akteninhalt, darunter auch die oben angeführten Gutachten über spurenkundliche Untersuchungen der Sachverständigen Dr. Christina S***** (ON 5 und 18) sowie die Protokolle über die Vernehmung der Zeugin Maria‑Madalina B***** durch die Kriminalpolizei (ON 2 S 15 ff) und in der Hauptverhandlung am 5. Mai 2010 (ON 16 S 6 ff), verlesen oder deren wesentlicher Inhalt vom Richter zusammenfassend vorgetragen wurde.

Protokolle von Zeugen dürfen in der Hauptverhandlung nur in den in § 252 Abs 1 Z 1 bis 4 StPO genannten Fällen, Gutachten von Sachverständigen nur in jenen der Z 2 und 4 dieser Bestimmung (vgl dazu Ratz, WK‑StPO § 281 Rz 228) verlesen oder vorgeführt werden.

In Bezug auf die Expertise der Sachverständigen steht eine Vorführermächtigung nach § 252 Abs 1 Z 2 StPO (mangels deren Vernehmung in der Hauptverhandlung) nicht in Rede. Aus dem Nichterscheinen des Angeklagten zur Hauptverhandlung am 13. April 2011 ist dessen Einverständnis mit einer diesbezüglichen Verlesung oder Vorführung im Sinn der Z 4 nicht abzuleiten.

Die Zeugin Maria‑Madalina B***** ist hinwieder zwar in der Hauptverhandlung am 5. Mai 2010 unter Beteiligung der Staatsanwaltschaft, des Angeklagten und seines Verteidigers vernommen worden (ON 16 S 6 ff). Als Hauptverhandlung gilt jedoch nur diejenige, die der Urteilsfällung unmittelbar vorangeht, mag auch an verschiedenen Tagen verhandelt worden sein (RIS‑Justiz RS0098869 [T13]). Weil die Hauptverhandlung vom 5. Mai 2010 zufolge Überschreitens der in § 276a StPO genannten Frist von zwei Monaten ‑ ungeachtet diesbezüglich unterlassener formeller Beschlussfassung; vgl Danek, WK‑StPO § 276a Rz 3; RIS‑Justiz RS0099022 ‑ in jener am 13. April 2011 neu durchgeführt wurde (§ 276a zweiter Satz zweiter Fall StPO), die Zeugin aber zu dieser weder geladen wurde (ON 1 S 9 verso), noch ihr Aussagebefreiungsrecht nach § 156 Abs 1 Z 2 dritter Fall StPO in Anspruch genommen hat (vgl auch ON 16 S 6), lagen auch in Bezug auf die Protokolle über ihre polizeiliche und gerichtliche Vernehmung die Voraussetzungen der Z 1 bis 4 des § 252 Abs 2 StPO nicht vor.

Die durch § 252 Abs 2a StPO ermöglichte Abstandnahme von der Vorlesung oder Vorführung von Aktenstücken nach § 252 Abs 1 und Abs 2 StPO (vgl § 258 Abs 1 StPO) zugunsten eines zusammenfassenden Vortrags ihres Inhalts durch den die Verhandlung leitenden Richter ist (unter anderem) ebenso an die Zustimmung auch des Angeklagten gebunden, die in dessen Fernbleiben von der Hauptverhandlung gleichfalls nicht erblickt werden kann (vgl zum Ganzen RIS‑Justiz RS0117012; Ratz, WK‑StPO § 281 Rz 234; Bauer/Jerabek, WK‑StPO § 427 Rz 13; Kirchbacher, WK‑StPO § 252 Rz 103, 134; ErläutRV 679 BlgNR 22. GP 13 f).

Demnach entsprach es nicht dem Gesetz (§ 252 Abs 1 und Abs 2a iVm §§ 447, 458 zweiter Satz StPO), die Sachverständigengutachten und die Protokolle über die Vernehmungen der Zeugin Maria‑Madalina B***** zu verlesen und von deren Verlesung zugunsten einer resümierenden Darstellung abzusehen.

2. Gemäß § 271 Abs 6 letzter Satz StPO iVm § 458 zweiter Satz StPO ist eine Ausfertigung des Hauptverhandlungsprotokolls den Beteiligten, soweit sie nicht darauf verzichtet haben, ehest möglich, spätestens aber zugleich mit der Urteilsausfertigung zuzustellen (vgl Danek, WK‑StPO § 271 Rz 40).

Indem es das Bezirksgericht unterlassen hat, dem Angeklagten, der eine solche Verzichtserklärung nicht abgegeben hat, anlässlich der Zustellung des Abwesenheitsurteils auch das Protokoll über die Hauptverhandlung vom 13. April 2011 (ON 45) zukommen zu lassen (vgl ON 47 S 5), ist es dieser gesetzlichen Verpflichtung nicht nachgekommen (SSt 2007/104).

Da die unzulässigen Verlesungen nach der Beweiswürdigung des Bezirksgerichts Grundlage des Schuldspruchs waren, gereichte die Formverletzung dem Angeklagten auch zum Nachteil. Der Oberste Gerichtshof sah sich daher veranlasst, das bezeichnete Urteil ebenso wie den davon abhängigen Beschluss, vom Widerruf einer bedingten Strafnachsicht abzusehen (für viele: 14 Os 67/11a), aufzuheben und insoweit die Verfahrenserneuerung anzuordnen (§ 292 letzter Satz StPO).

Der vom kassierten Urteil rechtslogisch abhängige Beschluss des Bezirksgerichts Meidling vom 14. Oktober 2013, GZ 26 U 10/10a‑58 gilt damit gleichermaßen als beseitigt (RIS‑Justiz RS0100444).

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