OGH 13Os133/16g

OGH13Os133/16g22.2.2017

Der Oberste Gerichtshof hat am 22. Februar 2017 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Hon.‑Prof. Dr. Kirchbacher als Vorsitzenden sowie die Hofräte und die Hofrätinnen des Obersten Gerichtshofs Dr. Lässig, Mag. Michel, Dr. Oberressl und Dr. Brenner in Gegenwart der Richteramtsanwärterin Mag. Adamowitsch als Schriftführerin in der Strafsache gegen Manuel F***** wegen des Verbrechens des gewerbsmäßigen schweren Betrugs nach §§ 146, 147 Abs 3, 148 zweiter Fall StGB und anderer strafbarer Handlungen, AZ 21 Hv 15/15x des Landesgerichts Feldkirch, über die von der Generalprokuratur gegen die Durchführung des Rechtsmittelverfahrens aufgrund der Anmeldung einer Berufung gegen das Urteil des Schöffengerichts ohne Vertretung des Angeklagten durch einen Verteidiger erhobene Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes nach öffentlicher Verhandlung in Anwesenheit des Vertreters der Generalprokuratur, Generalanwalt Mag. Holzleithner, sowie der Privatbeteiligten L***** GmbH, Mag. Christian S*****, zu Recht erkannt:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2017:0130OS00133.16G.0222.000

 

Spruch:

 

In der Strafsache AZ 21 Hv 15/15x des Landesgerichts Feldkirch verletzen

(I) das Unterlassen der Aufforderung an den Angeklagten, für das Rechtsmittelverfahren aufgrund seiner Berufung gegen das Urteil des Schöffengerichts einen Verteidiger zu bevollmächtigen oder die Beigebung eines Verfahrenshilfeverteidigers nach § 61 Abs 2 StPO zu beantragen, § 61 Abs 3 StPO iVm § 61 Abs 1 Z 6 StPO sowie

(II) die Anordnung und Durchführung der öffentlichen Verhandlung über die Berufung des Angeklagten gegen das Urteil des Schöffengerichts ohne Beigebung eines Verteidigers § 294 Abs 5 StPO iVm § 286 Abs 4 StPO.

 

Das Urteil des Oberlandesgerichts Innsbruck als Berufungsgericht vom 10. November 2016, AZ 7 Bs 287/16p, das im Übrigen unberührt bleibt, wird in seinem der Berufung des Angeklagten nicht Folge gebenden Teil sowie im Kostenausspruch aufgehoben und es wird in diesem Umfang die Erneuerung des Rechtsmittelverfahrens über die Berufung des Angeklagten gegen das Urteil des Landesgerichts Feldkirch als Schöffengericht vom 30. März 2016 (ON 287) angeordnet.

 

Gründe:

Mit Urteil des Landesgerichts Feldkirch als Schöffengericht vom 30. März 2016 (ON 287) wurde Manuel F***** mehrerer strafbarer Handlungen schuldig erkannt und hiefür zu einer (teils bedingt nachgesehenen) Freiheitsstrafe verurteilt. Zugleich verpflichtete das Schöffengericht den Angeklagten gemäß §§ 366 Abs 2, 369 Abs 1 StPO zu nachstehenden Zahlungen an Privatbeteiligte:

(1) L***** GmbH 152.731,51 Euro,

(2) K***** GmbH 12.600 Euro,

(3) Michael E***** 30.000 Euro,

(4) Daniel W***** 26.760,80 Euro,

(5) Robert M***** 20.000 Euro,

(6) P***** 309,71 Euro,

(7) David C***** 7.000 Euro,

(8) Gerald Fl***** 18.000 Euro,

(9) Markus T***** 24.000 Euro und

(10) B***** GmbH 10.420 Euro.

Gegen dieses Adhäsionserkenntnis meldete der Angeklagte rechtzeitig (§ 294 Abs 1 StPO iVm § 284 Abs 1 StPO), nämlich am 4. April 2016, Berufung an (ON 288). Nach Zustellung einer Urteilsausfertigung am 20. Juli 2016 (ON 287 S 23) führte er dieses Rechtsmittel am 16. August 2016 durch seinen Verteidiger aus (ON 303).

Mit Schriftsatz vom 22. September 2016 (ON 305) teilte der Verteidiger die Auflösung des Vollmachtsverhältnisses mit.

Ohne Aufforderung an den Angeklagten, einen Verteidiger zu bevollmächtigen oder die Beigebung eines Verfahrenshilfeverteidigers zu beantragen, wurde die Berufung am 27. September 2016 dem Oberlandesgericht Innsbruck vorgelegt (ON 307).

Am 4. Oktober 2016 ordnete das Oberlandesgericht Innsbruck den Gerichtstag zur öffentlichen Verhandlung über die Berufung für den 10. November 2016 an. An diesem Termin wurde – ohne Beigebung eines Verteidigers – die Berufungsverhandlung durchgeführt und mit Urteil der Berufung dahin teilweise Folge gegeben, dass das Adhäsionserkenntnis

(A) hinsichtlich der K***** GmbH aufgehoben und diese Privatbeteiligte gemäß § 366 Abs 2 StPO auf den Zivilrechtsweg verwiesen wurde, sowie

(B) bezüglich der an folgende Privatbeteiligte zu leistenden Zahlungen (§ 369 Abs 1 StPO) abgeändert, nämlich

a) zur L***** GmbH auf 152.589,06 Euro,

b) zu Michael E***** auf 29.970,66 Euro und

c) zu Markus T***** auf 1.000 Euro.

Rechtliche Beurteilung

Wie die Generalprokuratur in ihrer gemäß § 23 StPO erhobenen Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes zutreffend ausführt, wurde das Gesetz durch die dargestellten Vorgänge mehrfach verletzt:

(I) Nach § 61 Abs 1 Z 6 StPO muss der Angeklagte im Rechtsmittelverfahren aufgrund der Anmeldung einer Berufung gegen ein Urteil des Schöffengerichts durch einen Verteidiger vertreten sein.

Bevollmächtigt in einem solchen Fall (soweit hier von Interesse) der Angeklagte keinen Verteidiger, so ist er gemäß § 61 Abs 3 StPO aufzufordern, einen Verteidiger zu bevollmächtigen oder die Beigebung eines Verfahrenshilfeverteidigers nach § 61 Abs 2 StPO zu beantragen, welche Aufforderung hier unterlassen wurde.

(II) Für die Anberaumung und die Durchführung des Gerichtstags über die Berufung gegen ein schöffengerichtliches Urteil gelten (mit einer hier nicht aktuellen Ausnahme) die Bestimmungen der §§ 286 und 287 StPO sinngemäß (§ 294 Abs 5 zweiter Satz StPO).

Hat ein Angeklagter keinen Verteidiger, so ist ihm demgemäß für den Gerichtstag ein solcher von Amts wegen beizugeben (§ 286 Abs 4 StPO), was hier unterblieben ist.

 

Soweit das Oberlandesgericht der Berufung des Angeklagten nicht folgte, ist ein Nachteil für diesen nicht auszuschließen, aus welchem Grund sich der Oberste Gerichtshof veranlasst sah, die Feststellung der Gesetzesverletzungen auf die aus dem Tenor ersichtliche Weise mit konkreter Wirkung zu verknüpfen (§ 292 letzter Satz StPO).

Da der Angeklagte den Rechtsweg ausgeschöpft hat und die sechsmonatige Frist zur Einbringung eines Antrags auf Erneuerung des Strafverfahrens ohne vorangegangenes Urteil des EGMR (RIS‑Justiz RS0122228) nach wie vor offen steht, dürfen die Privatbeteiligten noch nicht auf die Rechtskraft der Adhäsionserkenntnisse vertrauen, womit Art 1 des ersten ZPMRK deren (teilweiser) Aufhebung nicht entgegensteht (15 Os 155/09x; 15 Os 15/11m, 16/11h, 17/11f, RZ 2012/2, 41; RIS‑Justiz RS0124798 [T2]; insoweit missverständlich RS0124740).

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