European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2017:0020OB00100.16V.0126.000
Spruch:
Der Revision wird Folge gegeben.
Die Urteile der Vorinstanzen werden aufgehoben. Die Rechtssache wird zur neuerlichen Verhandlung und Entscheidung an das Erstgericht zurückverwiesen.
Die Kosten des Rechtsmittelverfahrens sind weitere Verfahrenskosten.
Begründung:
Am 28. 9. 2013 ereignete sich gegen 15:55 Uhr auf dem Stubenring in Wien ein Verkehrsunfall, an dem die Klägerin und der Beklagte als Lenker ihrer Fahrräder beteiligt waren.
Die Klägerin fuhr auf dem Stubenring Richtung Urania (Julius‑Raab‑Platz), wobei sie einem Bekannten, der ihr die Wiener Ringstraße mit ihren Sehenswürdigkeiten zeigen wollte, mit einem Abstand von 4 bis 10 m folgte. Ihre Fahrgeschwindigkeit betrug rund 10 km/h.
In Annäherung an den von rechts einmündenden Oskar‑Kokoschka‑Platz hatten sie den Geh- und Radweg benützt, der dort auf dem Fahrbahnteiler zwischen der Haupt- und der – aus Sicht der Klägerin – rechts gelegenen Nebenfahrbahn angelegt ist und zwischen zwei Baumreihen verläuft.
Im weiträumigen Kreuzungsbereich des Stubenrings mit dem Oskar‑Kokoschka‑Platz ist in Fahrtrichtung der Klägerin rechts vom Schutzweg eine sich trichterförmig erweiternde Radfahrerüberfahrt markiert. An deren Ende weist ein im rechten Teil am Boden markierter Richtungspfeil in die sich nach der Kreuzung fortsetzende Nebenfahrbahn. Am Beginn dieser Nebenfahrbahn ist das Richtung Julius‑Raab‑Platz zeigende Hinweiszeichen „Einbahnstraße“ mit dem Zusatz „ausgenommen Radfahrer“ angebracht. Die in der Nebenfahrbahn durch die Einbahnregelung vorgeschriebene Fahrtrichtung ist jener in der Hauptfahrbahn entgegengesetzt.
Für die die Radfahrerüberfahrt benützenden Radfahrer besteht die weitere Möglichkeit, sich an deren Ende eher links zu halten und die Fahrt auf dem sich an die Radfahrerüberfahrt anschließenden Radweg fortzusetzen. Dieser Radweg beschreibt auf dem nach der Kreuzung liegenden Fahrbahnteiler einen Linksbogen von annähernd 90° Richtung Hauptfahrbahn, der eine weitere, zunächst auf dem Fahrbahnteiler in dessen Längsrichtung als Radweg geführte Radfahranlage kreuzt. An der Kreuzung der beiden Radwege ist für die „Linksabbieger“ eine Sperrlinie, für die entgegenkommenden „Geradeausfahrer“ eine unterbrochene Linie markiert. Verbleibt demnach ein aus der Richtung der Klägerin kommender Radfahrer nach Überqueren der Kreuzung mit dem Oskar‑Kokoschka‑Platz auf dem Radweg, so hindert die Sperrlinie die Fortsetzung der Fahrt in gerader Richtung. Stattdessen wird er über die Hauptfahrbahn des Stubenrings zu dem links von dieser gelegenen Fahrbahnteiler geleitet, wo der Radweg wieder zwischen Baumreihen in Richtung Donaukanal weitergeführt wird.
Die Klägerin und ihr Begleiter fuhren jedoch über die erwähnte Sperrlinie hinweg in den kreuzenden Radweg ein, und setzten auf diesem die Fahrt Richtung Julius‑Raab‑Platz fort.
Die von der Klägerin und ihrem Begleiter nunmehr befahrene Radfahranlage wird erst nahe der Kreuzung mit dem Oskar‑Kokoschka‑Platz als Radweg auf dem Fahrbahnteiler geführt. Aus der Gegenrichtung betrachtet führt ab dem Julius‑Raab‑Platz am rechten Rand der Nebenfahrbahn ein 1,2 m breiter Radfahrstreifen Richtung Oskar‑Kokoschka‑Platz, der teils durch eine Warnlinie, überwiegend aber durch eine Sperrlinie vom benachbarten Fahrstreifen abgegrenzt wird. Der Radfahrstreifen ist mit am Boden markierten Fahrradsymbolen und „teilweise“ auch mit Richtungspfeilen versehen, die gegen die Einbahnführung weisen. Erst nahe der Kreuzung schwenkt der Radfahrstreifen nach rechts auf den Fahrbahnteiler, wo er – wie erwähnt – als Radweg fortgesetzt wird. Der Unfall ereignete sich auf jenem Abschnitt, in dem die beschriebene Radfahranlage als Radfahrstreifen in der Nebenfahrbahn verläuft und mit einer Sperrlinie von der restlichen Fahrbahn abgegrenzt wird.
Der Beklagte fuhr mit seinem Fahrrad auf dem Radfahrstreifen der Nebenfahrbahn vom Donaukanal (Julius‑Raab‑Platz) kommend Richtung Oskar‑Kokoschka‑Platz. Er hielt ebenfalls eine Geschwindigkeit von ca 10 km/h ein, als er die entgegenkommenden Radfahrer, nämlich den Bekannten der Klägerin und dahinter diese selbst, wahrnahm. Der Bekannte der Klägerin hatte eine Fahrlinie „äußerst links [...] etwa auf der weißen Linie“ (aus Sicht der Klägerin daher: „äußerst rechts, etwa auf der Sperrlinie“) gewählt. Da der Bekannte der Klägerin weiter nach rechts lenkte, hatte der Beklagte nicht den Eindruck, dass ihn die Klägerin nicht sehen könnte. Er ging vielmehr davon aus, dass die Klägerin ebenfalls ausweichen werde. Er selbst wählte seine Fahrlinie am Radfahrstreifen äußerst rechts. Weiter nach rechts ausweichen konnte er nicht, da der Radfahrstreifen – aus seiner Sicht – rechts von einem Randstein begrenzt wird, an den eine Grünfläche anschließt.
Die Klägerin hätte die Kollision schon durch ein leichtes Ausweichen nach rechts, wofür sie etwa eine Sekunde benötigt hätte, verhindern können. Wesentlich länger als ein bis zwei Sekunden vor der Kollision konnte „man“ nicht davon ausgehen bzw voraussehen, dass die Klägerin nicht ausweichen werde. Der Beklagte selbst konnte in den letzten ein bis zwei Sekunden vor der Kollision nichts anderes mehr machen, als ganz rechts zuzufahren. Für ein allfälliges Anhalten reichte die Zeit nicht mehr aus.
Die Fahrräder der Streitteile kollidierten ungebremst mit einer Geschwindigkeit von je ca 10 km/h. Der Kontakt erfolgte jeweils mit der linken Seite und führte dazu, dass beide Radfahrer – aus ihrer Sicht – nach rechts umstürzten. Dabei wurden sowohl die Klägerin als auch der Beklagte verletzt. Zum Unfallszeitpunkt gab es in der Nebenfahrbahn keinen sonstigen aktiven Verkehr.
Die Klägerin begehrte Zahlung von 4.400 EUR sA sowie die Feststellung, dass ihr der Beklagte für alle künftigen Schäden aus dem Verkehrsunfall vom 28. 9. 2013 hafte.
Sie brachte vor, sie sei auf dem Radfahrstreifen in der Nebenfahrbahn des Stubenrings gefahren, als der Beklagte plötzlich und unvermittelt vom Gehsteig des Stubenrings in die Nebenfahrbahn eingefahren sei und den Vorrang der Klägerin verletzt habe. Der Beklagte sei frontal gegen die linke Seite des von der Klägerin benutzten Fahrrads gestoßen. Die Behauptung eines Unfalls im Begegnungsverkehr sei als reine Schutzbehauptung zu werten. Selbst wenn man davon ausginge, dass die Klägerin den Radfahrstreifen in die entgegengesetzte Richtung befahren hätte, würde dies am Alleinverschulden des Beklagten nichts ändern, weil er das im Vorrang befindliche Fahrrad der Klägerin nicht wahrgenommen habe und völlig reaktionslos gegen dieses gestoßen sei. Im Übrigen sei die Kundmachung der zulässigen Fahrtrichtung auf dem Radfahrstreifen rechtswidrig.
Die Klägerin habe diverse Verletzungen, darunter eine Fraktur der rechten Speiche erlitten, die ein Schmerzengeld von 4.000 EUR rechtfertigten. Zusätzlich begehre sie fiktive Haushaltskosten von 300 EUR und pauschale Unkosten von 100 EUR. Spät- und Dauerfolgen könnten nicht ausgeschlossen werden.
Der Beklagte wandte ein, die Streitteile seien frontal gegeneinander gestoßen. Die Klägerin habe den Radfahrstreifen entsprechend der Einbahnführung befahren, wozu sie infolge der aufgebrachten Richtungspfeile nicht berechtigt gewesen sei. Sie habe auch gegen das Rechtsfahrgebot des § 7 StVO verstoßen. In Annäherungsrichtung der Klägerin habe sich eine Sperrlinie befunden.
Der Beklagte habe Abschürfungen an der Nase und an beiden Händen erlitten und wende ein Schmerzengeld von 1.500 EUR compensando gegen die Klagsforderung ein.
Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab.
Es stützte sich auf den eingangs wiedergegebenen Sachverhalt, wobei es zur Gestaltung der Unfallsörtlichkeit (nur) auf die maßstabsgetreuen Skizzen des Sachverständigen als integrierten Bestandteil des Urteils verwies. Rechtlich vertrat es die Ansicht, die Klägerin habe nicht den für ihre Fahrtrichtung vorgesehenen (über die Hauptfahrbahn führenden) Radweg gewählt, sondern unter Missachtung einer Sperrlinie den für die entgegengesetzte Fahrtrichtung vorgesehenen Radfahrstreifen befahren. Zufolge fehlender Aufmerksamkeit habe sie den entgegenkommenden Beklagten übersehen. Diesem habe kein ins Gewicht fallendes Mitverschulden nachgewiesen werden können.
Das Berufungsgericht bestätigte diese Entscheidung und erklärte die ordentliche Revision für zulässig. Mit ihm durch den Obersten Gerichtshof aufgetragenen (2 Ob 168/15t) Ergänzungsbeschluss sprach es überdies aus, dass der Wert des Entscheidungsgegenstands 5.000 EUR, nicht aber 30.000 EUR übersteigt.
Das Berufungsgericht erachtete die Mängel- und die Beweisrüge der Klägerin für unberechtigt und erörterte in rechtlicher Hinsicht, den zum Bestandteil des erstinstanzlichen Urteils erklärten Unfallskizzen seien auf dem Radfahrstreifen kurz vor dem Radetzky-Denkmal lediglich zwei in die Fahrtrichtung des Beklagten weisende Richtungspfeile zu entnehmen. Über eine Strecke von rund 100 m nach dem Denkmal, wo sich der Unfall ereignet habe, seien dagegen keine Richtungspfeile vorhanden. Eine ordnungsgemäße Kundmachung der Verordnung über die Fahrtrichtung liege demnach nicht vor. Nach § 19 BodenmarkierungsV dürfe der Abstand zwischen Fuß und Spitze jeweils aufeinanderfolgender Richtungspfeile nicht kleiner als eine Pfeillänge und nicht größer als sechs Pfeillängen sein. Im vorliegenden Fall habe ein Pfeil eine Länge von rund 1 m, der Abstand zum nächsten Pfeil hätte also nicht mehr als 6 m betragen dürfen. Der in einer Einbahn befindliche Radfahrstreifen habe daher gemäß § 8a Abs 1 StVO in beiden Richtungen befahren werden dürfen.
Für die Klägerin sei damit jedoch nichts gewonnen. Es stehe fest, dass sie den entgegenkommenden Beklagten aus Unachtsamkeit nicht bemerkt habe. Aus diesem Grund sei es zur Kollision gekommen, obwohl ihr ein Ausweichen unter Benützung der übrigen Fahrbahn leicht möglich gewesen wäre. Den Beklagten treffe hingegen kein Verschulden. Ein Ausweichen nach rechts sei ihm aufgrund der Begrenzung durch den Randstein nicht möglich gewesen. Auch habe er bis zuletzt damit rechnen dürfen, dass die Klägerin ihrerseits ausweichen werde. Es habe für ihn kein Anlass zur Verringerung seiner Fahrgeschwindigkeit bestanden. Als er erkennen habe können, dass die Klägerin nicht ausweichen werde, sei ihm ein kollisionsverhinderndes Verhalten nicht mehr möglich gewesen.
Die Revision sei zulässig, weil zur Frage, ob ein Radfahrer sein Fahrrad anhalten müsse, wenn ihm auf einer 1,2 m breiten Radfahranlage ein Radfahrer entgegenkomme und ihm im Gegensatz zu diesem ein Ausweichen nach rechts nicht möglich sei, keine oberstgerichtliche Rechtsprechung vorliege.
Gegen dieses Berufungsurteil richtet sich die Revision der Klägerin wegen unrichtiger rechtlicher Beurteilung mit dem Antrag, die angefochtene Entscheidung im Sinne der Stattgebung des Klagebegehrens abzuändern. Hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.
Der Beklagte beantragt in seiner Revisionsbeantwortung, die Revision als unzulässig zurückzuweisen, in eventu ihr nicht Folge zu geben.
Rechtliche Beurteilung
Die Revision ist zulässig, weil es klarstellender Ausführungen durch den Obersten Gerichtshof bedarf. Sie ist auch im Sinne des Aufhebungsantrags berechtigt.
Die Klägerin steht auf dem Standpunkt, der Beklagte hätte nicht darauf vertrauen dürfen, dass sie ausweichen werde, und daher sein Fahrrad anhalten müssen. Aus § 8 Abs 1 StVO folge, dass die Klägerin zur Benützung des Radfahrstreifens nicht nur berechtigt, sondern sogar verpflichtet gewesen sei. Es könne ihr daher kein Verschulden vorgeworfen werden. Ihre mangelnde Aufmerksamkeit sei lediglich als geringfügiger Verstoß zu werten, der „verschuldenstechnisch“ zu vernachlässigen sei. Das Alleinverschulden treffe den Beklagten.
Hiezu wurde erwogen:
1. Gemäß § 68 Abs 1 erster Satz StVO ist auf Straßen mit einer Radfahranlage mit einspurigen Fahrrädern ohne Anhänger die Radfahranlage zu benützen, wenn das Befahren der Radfahranlage in der vom Radfahrer beabsichtigten Fahrtrichtung gemäß § 8a StVO erlaubt ist.
Zu den Radfahranlagen gehören nach § 2 Abs 1 Z 11b StVO ein Radfahrstreifen, ein Mehrzweckstreifen, ein Radweg, Geh- und Radweg oder eine Radfahrerüberfahrt. Der Radfahrstreifen wird in § 2 Abs 1 Z 7 StVO als ein für den Fahrradverkehr bestimmter und besonders gekennzeichneter Teil der Fahrbahn definiert, wobei der Verlauf durch wiederholte Markierung mit Fahrradsymbolen und das Ende durch die Schriftzeichenmarkierung „Ende“ angezeigt wird.
2. § 8a StVO („Fahrordnung auf Radfahranlagen“) lautet:
„(1) Radfahranlagen dürfen in beiden Fahrtrichtungen befahren werden, sofern sich aus Bodenmarkierungen (Richtungspfeilen) nichts anderes ergibt.
(2) Abweichend von Abs 1 darf jedoch ein Radfahrstreifen, ausgenommen in Einbahnstraßen, nur in der dem angrenzenden Fahrstreifen entsprechenden Fahrtrichtung befahren werden; diese Fahrtrichtung ist auch auf einer Radfahrerüberfahrt einzuhalten, die an den Radfahrstreifen anschließt.“
§ 8a StVO wurde mit der 20. StVO‑Novelle, BGBl I 1998/92, eingefügt. Nach den Gesetzesmaterialien sollte durch diese Bestimmung eine bestehende Rechtsunsicherheit beseitigt werden, kam es doch „in der Vergangenheit immer wieder zu Unklarheiten bezüglich der für Radfahranlagen geltenden Fahrtrichtung. Auch in der höchstgerichtlichen Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofes wurde das Fehlen derartiger Vorschriften in der Straßenverkehrsordnung festgestellt. Durch den neu eingefügten § 8a wird diese Rechtsunsicherheit beseitigt. Sofern es sich daher nicht um einen in einer Einbahnstraße verlaufenden Radfahrstreifen handelt, wird es in Hinkunft Sache der zuständigen Behörden sein, zu beurteilen, ob eine Radfahranlage breit genug ist, um einen Fahrradverkehr in beiden Fahrtrichtungen zu ermöglichen; wird festgestellt, dass die Breite hierfür nicht ausreicht, so wird die vorgeschriebene Fahrtrichtung durch Richtungspfeile anzuzeigen sein“ (ErläutRV 713 BlgNR XX. GP 13; vgl 2 Ob 172/00h; Pürstl, StVO14 § 8a Anm 1).
3. § 8a Abs 2 StVO enthält eine von Abs 1 abweichende Regel für die zulässige Fahrtrichtung auf Radfahrstreifen. Die Grundregel lautet, dass auf Radfahrstreifen grundsätzlich nur in einer Richtung, nämlich in der dem angrenzenden Fahrstreifen entsprechenden Fahrtrichtung gefahren werden darf. Eine Ausnahme von dieser Grundregel ist vorgesehen, wenn der Radfahrstreifen in einer Einbahnstraße angebracht ist. Eine nähere Regelung dieses Ausnahmefalls enthält § 8a Abs 2 StVO nicht. § 8a StVO lässt daher offen, ob der in einer Einbahnstraße angebrachte Radfahrstreifen in beiden Richtungen oder nur in der Gegenrichtung der Einbahn befahren werden darf. Die Gegenmeinungen überzeugen nicht:
3.1 Dass bei Vorhandensein eines in einer Einbahnstraße verlaufenden Radfahrstreifens § 8a Abs 1 StVO gelten soll, wie das Berufungsgericht annahm, widerspricht der aus den Gesetzesmaterialien klar ersichtlichen Vorstellung des Gesetzgebers. Sieht dieser doch bei Radfahrstreifen in Einbahnstraßen anders als bei den anderen Radfahranlagen (ausdrücklich) keinen Bedarf für eine behördliche Prüfung, ob die Radfahranlage für den Begegnungsverkehr von Radfahrern breit genug ist.
3.2 Entgegen der Meinung mancher Autoren (vgl Pürstl, StVO14 § 7 Anm 16; Dittrich/Stolzlechner, StVO³ § 8a Rz 8; Messiner, Die 20. StVO‑Novelle, ÖAMTC‑FI 1998/85), ist auch aus der Ausnahmebestimmung des § 8a Abs 2 StVO nicht ableitbar, dass Radfahrstreifen in Einbahnstraßen jedenfalls in beiden Richtungen befahren werden dürfen. Für diese Ansicht bieten weder der Wortlaut der Bestimmung („ausgenommen in Einbahnstraßen“) noch die Gesetzesmaterialien einen Anhaltspunkt. Im Gegenteil: Es wäre der Verkehrssicherheit in hohem Maße abträglich, wenn in solchen Radfahrstreifen trotz zu geringer Breite der Begegnungsverkehr stattfinden müsste, ohne dass – wie nach § 8a Abs 1 StVO – die Möglichkeit der Erlassung einer auf § 43 StVO gestützten Verordnung zur Festlegung der Fahrtrichtung durch (gegen die Einbahn weisende) Richtungspfeile besteht.
3.3 Bedeutungslos ist in diesem Zusammenhang die von der Klägerin ins Treffen geführte Regelung des § 8 Abs 1 zweiter Satz StVO, wonach Radfahrer in Nebenfahrbahnen auch fahren dürfen, wenn kein Radfahrstreifen, Radweg oder Geh- und Radweg vorhanden ist. Diese Bestimmung trifft keine Aussage über die zulässige Fahrtrichtung auf einer vorhandenen Radfahranlage.
4. Die Frage nach der zulässigen Fahrtrichtung auf Radfahrstreifen in Einbahnstraßen ist daher nach den Regeln über die allgemeine Fahrordnung zu lösen:
4.1 Nach § 7 Abs 1 StVO gilt das Rechtsfahrgebot.
4.2 Gemäß § 7 Abs 5 StVO dürfen Einbahnstraßen nur in der durch das erwähnte Hinweiszeichen angezeigten Fahrtrichtung befahren werden. Dies gilt ua nicht für bestimmte Gruppen von Straßenbenützern, die hievon durch Verordnung ausgenommen werden. In diesen Fällen sind Leit- oder Sperrlinien zur Trennung der entgegen der Einbahnstraße fahrenden Verkehrsteilnehmer vom übrigen Fahrzeugverkehr anzubringen, sofern die Sicherheit oder die Flüssigkeit des Verkehrs dies erfordert.
4.3 Zu den besagten „Gruppen von Straßenbenützern“ gehören insbesondere Radfahrer (vgl Pürstl, StVO14 § 7 Anm 15). Im vorliegenden Fall ist eine entsprechende Ausnahme durch Anbringung der Zusatztafel „ausgenommen Radfahrer“ unter dem Hinweiszeichen „Einbahnstraße“ (§ 53 Abs 1 Z 10 StVO) kundgemacht (vgl Pürstl, StVO14 § 44 Anm 1 und § 53 Anm 13; Vergeiner, Recht für Radfahrer [2013] 63). Demnach ist die Nebenfahrbahn für Radfahrer trotz der Einbahnregelung in beiden Richtungen befahrbar. Es gilt das Rechtsfahrgebot.
4.4 Der Radfahrstreifen, auf dem sich der Unfall ereignete, ist am – in Richtung der Einbahn betrachtet – linken Fahrbahnrand der Einbahnstraße angebracht. Er wird gemäß § 13 BodenmarkierungsV durch eine Sperrlinie, an manchen Stellen durch eine Leitlinie (Warnlinie) gegen den benachbarten (einzigen) Fahrstreifen abgegrenzt. § 7 Abs 5 StVO zufolge dient er nur dem gegen die Einbahn fahrenden Radverkehr (vgl Vergeiner, Recht für Radfahrer [2013] 63).
5. Als Zwischenergebnis ist somit zusammenfassend festzuhalten:
Voraussetzung für das Befahren einer Einbahnstraße gegen die Einbahnrichtung mit einem Fahrrad ist die Zusatztafel „ausgenommen Radfahrer“, die unter dem die Einbahn regelnden Hinweiszeichen angebracht sein muss. § 8a StVO trifft keine Regelung darüber, ob Radfahrstreifen in Einbahnstraßen in beiden Richtungen oder nur gegen die Einbahnrichtung befahren werden dürfen. Für die in Fahrtrichtung der Einbahn fahrenden Radfahrer besteht daher keine Pflicht zur Benützung des Radfahrstreifens iSd § 68 Abs 1 erster Satz StVO („...gemäß § 8a erlaubt ist...“). Nach den Regeln über die allgemeine Fahrordnung (§ 7 Abs 1 und 5 StVO) dient der Radfahrstreifen nur dem gegen die Einbahn fahrenden Radverkehr.
6. Daraus folgt, dass der Beklagte den Radfahrstreifen benützen musste, während ihn die Klägerin nicht benützen durfte. Die Anordnung der Bodenmarkierungen im Kreuzungsbereich des Stubenrings mit dem Oskar‑Kokoschka‑Platz (Sperrlinie an der Kreuzung der Radwege; Richtungspfeil auf der Radfahrerüberfahrt) entspricht exakt der erörterten Rechtslage. Für die Klägerin war aus ihrer Annäherungsrichtung dadurch eindeutig erkennbar, dass ihr die Weiterfahrt am rechten Fahrbahnteiler auf der dort beginnenden und sich in der Nebenfahrbahn fortsetzenden Radfahranlage in Richtung Julius‑Raab‑Platz nicht gestattet war. Ob der Anbringung vereinzelter Richtungspfeile auf dem Radfahrstreifen eine auf § 43 StVO gestützte Verordnung zugrunde lag und ob eine verordnungsgemäße Kundmachung erfolgte (vgl 2 Ob 172/00h), kann auf sich beruhen.
7. Vor diesem rechtlichen Hintergrund ist zu prüfen, ob der Beklagte ein Verschulden an dem Unfall zu vertreten hat:
7.1 Das Fehlverhalten der Klägerin und ihres Begleiters führte dazu, dass ihm die beiden Radfahrer auf dem Radfahrstreifen entgegenkamen. Das Verhalten der einander begegnenden Radfahrer ist nach § 10 StVO zu beurteilen, der ebenso wie das Rechtsfahrgebot auch im – wenngleich hier unzulässigen – Begegnungsverkehr auf Radfahranlagen anzuwenden ist (Dittrich/Stolzlechner, StVO³ § 8a Rz 2 und § 10 Rz 3).
7.2 Gemäß § 10 Abs 1 erster Satz StVO hat der Lenker eines Fahrzeugs einem entgegenkommenden Fahrzeug rechtzeitig und ausreichend nach rechts auszuweichen. Nach § 10 Abs 2 erster Satz StVO sind einander begegnende Fahrzeuge, wenn nicht ausreichend ausgewichen werden kann, anzuhalten.
Rechtzeitig ist das Ausweichen, wenn es so frühzeitig erfolgt, dass der entgegenkommende Verkehrsteilnehmer bei Einhaltung der „richtigen Straßenseite“ auf eine größere Strecke freie Bahn hat. Dabei muss so weit ausgewichen werden, dass der Begegnende seine Fahrt ohne Gefährdung und vermeidbare Behinderung fortzusetzen vermag; dies setzt voraus, dass der Abstand zwischen den beiden Fahrzeugen so groß ist, dass nicht schon eine geringfügige Abweichung von der Fahrlinie zum Zusammenstoß führt und dass darüber hinaus der Entgegenkommende unter der Annahme durchschnittlicher Fahrfähigkeit auch nicht unsicher gemacht wird (8 Ob 162/82 ZVR 1983/235; Dittrich/Stolzlechner, StVO³ § 10 Rz 15).
7.3 Dem Beklagten war ein Ausweichen nach rechts nicht möglich.
Die Klägerin, die sich infolge der Missachtung der Sperrlinie im Kreuzungsbereich des Stubenrings mit dem Oskar‑Kokoschka‑Platz auf der „falschen“ Verkehrsfläche befand, hätte zwar über die den Radfahrstreifen seitlich begrenzende Sperrlinie hinweg in die „richtige“ Verkehrsfläche zurückkehren dürfen (und müssen), sodass ihr ein ausreichendes Ausweichen – auf dem angrenzenden Fahrstreifen herrschte kein Fahrzeugverkehr – grundsätzlich möglich war. Darauf durfte der Beklagte aber nicht vertrauen, konnte er doch nicht wissen, ob sich die entgegenkommende Klägerin zur Benützung des Radfahrstreifens berechtigt erachtete oder ob sie sich ihres Fehlverhaltens bewusst gewesen ist.
Angesichts des für ihn erkennbaren unrichtigen Verhaltens der Klägerin bestand für ihn eine unklare Verkehrslage, die er in bedenklichem Sinn auszulegen hatte (RIS‑Justiz RS0073513). Er musste daher auch damit rechnen, dass die Klägerin wegen des in § 9 Abs 1 StVO normierten Verbots, eine Sperrlinie zu überfahren, auf dem Radfahrstreifen verbleibt (vgl Dittrich/Stolzlechner, StVO³ § 10 Rz 19). Dies selbst dann, wenn der vor ihr fahrende Radfahrer die Sperrlinie überfuhr.
7.4 Den erstinstanzlichen Feststellungen lässt sich nicht entnehmen, ob und unter welchen Voraussetzungen bei einer Breite des Radfahrstreifens von 1,2 m eine gefahrlose Begegnung der beiden Fahrräder innerhalb des Radfahrstreifens möglich gewesen wäre.
7.5 War eine solche nicht möglich, mussten die einander begegnenden Fahrzeuge angehalten werden (§ 10 Abs 2 StVO; vgl 2 Ob 68/16p mwN; RIS‑Justiz RS0073541). Das gilt für den Beklagten ebenso wie für die Klägerin (8 Ob 13/79 ZVR 1980/266; RIS‑Justiz RS0073597 [T1]).
Auch unter dieser Prämisse wäre der Beklagte zum Fahren auf halbe Sicht zunächst nicht verpflichtet gewesen, weil er mit Gegenverkehr nicht rechnen musste. Ab erster Sicht auf die Entgegenkommenden musste er jedoch, sofern ihm ausreichend Zeit und Weg zur Verfügung stand, der Verkehrssituation dadurch Rechnung tragen, dass er sein Fahrrad zumindest innerhalb der halben Sichtstrecke, allenfalls auch schon früher zum Stillstand brachte (vgl dazu 8 Ob 142/82 ZVR 1983/216 mwN; 8 Ob 68/86; 2 Ob 68/16p).
7.6 Nach den erstinstanzlichen Feststellungen ist der Beklagte davon ausgegangen, dass ihm die Klägerin ebenso wie der vor ihr fahrende Radfahrer ausweichen werde. Nicht „wesentlich länger“ als ein bis zwei Sekunden vor der Kollision sei (objektiv) nicht voraussehbar gewesen, dass die Klägerin nicht ausweichen wird. Der Beklagte habe in dieser Zeitspanne nur noch ganz nach rechts zufahren, aber nicht mehr anhalten können.
Nach dem oben Gesagten entsprach das festgestellte Fahrverhalten des Beklagten nur dann den erörterten Grundsätzen der Rechtsprechung, wenn mit einer gefahrlosen Begegnung der Radfahrer innerhalb des Radfahrstreifens zu rechnen war. Andernfalls träfe ihn ein Verschulden am Unfall, sofern ihm ab erster Sicht ein rechtzeitiges Anhalten möglich gewesen wäre. Ob letzteres zutrifft, lässt sich anhand der bisherigen Feststellungen ebenfalls noch nicht beurteilen, weil die dazu erforderliche Zeit-Weg-Betrachtung fehlt.
7.7 Der in der Revisionsbeantwortung gegen das im Raum stehende Anhaltegebot ins Treffen geführte Einwand, die Klägerin wäre infolge ihrer Unaufmerksamkeit mit unveränderter Fahrlinie auch gegen das angehaltene Fahrrad des Beklagten gestoßen und ebenso zu Sturz gekommen, betrifft die Frage des rechtmäßigen Alternativverhaltens. Sollte ein derartiger – bisher nicht erhobener – Einwand im fortgesetzten Verfahren bedeutsam werden, läge es am Beklagten, den Nachweis zu erbringen, dass ein rechtmäßiges Verhalten (also Anhalten des Fahrrades) zu demselben Schaden geführt hätte, wobei nur auf den rechnerischen, nicht auf den realen Schaden abzustellen ist (2 Ob 82/14v mwN; 2 Ob 148/15a; RIS‑Justiz RS0111706, RS0111707).
8. Jedenfalls aber trifft die Klägerin ein gravierendes Mitverschulden, das ein allfälliges Verschulden des Beklagten deutlich überwiegt:
8.1 Gemäß § 9 Abs 1 StVO dürfen Sperrlinien (§ 55 Abs 2 StVO) nicht überfahren werden. Die Klägerin hätte daher – wie erörtert – gar nicht in die vom Beklagten benützte Radfahranlage einfahren dürfen.
Das Verbot des Überfahrens einer Sperrlinie dient nach ständiger Rechtsprechung grundsätzlich der Sicherheit aller Verkehrsteilnehmer, die sich auf der Fahrbahn jenseits der Sperrlinie befinden, meist aber dem Schutz des Gegenverkehrs (vgl 2 Ob 17/14k; 2 Ob 206/15f mwN; RIS‑Justiz RS0027607, RS0073408 [T5]). Im vorliegenden Fall erfasste der Schutzzweck die Benützer der kreuzenden Radfahranlage, somit auch den Beklagten. Hätte sich die Klägerin an der besagten Kreuzung vorschriftsgemäß verhalten, wäre der (beiderseits behauptete) Schaden nicht eingetreten.
8.2 Zusätzlich ist ihr eine grobe Vernachlässigung der im Straßenverkehr gebotenen Aufmerksamkeit vorzuwerfen, aufgrund deren sie den entgegenkommenden Beklagten bis zur Kollision nicht bemerkte, sodass ihr weder Ausweichen noch Anhalten möglich war. Davon, dass diese Unaufmerksamkeit „verschuldenstechnisch“ nicht ins Gewicht fiele, kann entgegen der in der Revision vertretenen Auffassung keine Rede sein.
9. Die Rechtssache ist aus den obigen Erwägungen dem Grunde nach noch nicht spruchreif. Schon deshalb, aber auch, um die Parteien mit der dargelegten Rechtsansicht nicht zu überraschen, bedarf es einer Ergänzung des Verfahrens erster Instanz. Das Erstgericht wird die Rechtslage mit den Parteien zu erörtern und nach allfälligen weiteren Beweisaufnahmen die noch fehlenden Feststellungen zum Unfallhergang (Punkt 7.4 und 7.6) zu treffen haben. Erst danach wird endgültig beurteilt werden können, ob der Beklagte ein Verschulden zu verantworten hat und, wenn dies zutreffen sollte, wie dieses im Hinblick auf das gravierende Eigenverschulden der Klägerin zu gewichten ist. Im Falle einer Verschuldensteilung sind auch Feststellungen zur beiderseitigen Schadenshöhe und zur Berechtigung des Feststellungsbegehrens erforderlich.
10. Die Urteile der Vorinstanzen sind daher aufzuheben.
Der Kostenvorbehalt gründet sich auf § 52 Abs 1 ZPO.
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