OGH 10ObS161/16y

OGH10ObS161/16y24.1.2017

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten Univ.‑Prof. Dr. Neumayr als Vorsitzenden, den Hofrat Dr. Schramm und die Hofrätin Dr. Fichtenau sowie die fachkundigen Laienrichter Mag. Dr. Wolfgang Höfle (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Wolfgang Cadilek (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei W*****, vertreten durch Mag. Sonja Fragner, Rechtsanwältin in Krems, gegen die beklagte Partei Allgemeine Unfallversicherungsanstalt, 1200 Wien, Adalbert Stifter‑Straße 65, wegen Kostenübernahme, über die außerordentliche Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 8. November 2016, GZ 10 Rs 51/16t‑34, den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2017:010OBS00161.16Y.0124.000

 

Spruch:

Die außerordentliche Revision wird gemäß § 508a Abs 2 ZPO mangels der Voraussetzungen des § 502 Abs 1 ZPO zurückgewiesen.

 

Begründung:

Das Erstgericht stellte fest, dass die Beklagte verpflichtet sei, für den Kläger die Kosten für eine Oberschenkelprothese mit Genium-Kniegelenk zu übernehmen.

Der 1956 geborene Kläger ist nach einer als Arbeitsunfall anerkannten traumatischen Amputation des rechten Unterschenkels (2013) derzeit mit einer Oberschenkelprothese mit einem C-Leg-3‑Kniegelenk versorgt. Mit dieser Prothese ist er in der Lage, seinem Beruf als Leiter einer Filiale eines Sportartikelgeschäfts nachzugehen. Er kann im Rahmen der Verkaufstätigkeit Leitern besteigen, um Regale zu erreichen, und die in den ersten Stock der Filiale führende Stiege überwinden. In seiner Freizeit übt er weiterhin diverse Sportarten wie Radfahren, Tennis, Laufen und Langlaufen aus. Die Oberschenkelprothese mit dem C‑Leg‑3‑Kniegelenk kostete im Jahr 2015 36.498,29 EUR, die vom Kläger nunmehr gewünschte Prothese mit dem Genium‑Kniegelenk kostete im Jahr 2014 61.054,06 EUR (zuzüglich einer etwa 2%igen Preissteigerung im Jahr 2015). Die Prothese mit Genium‑Kniegelenk bietet den Vorteil, dass man damit Treppen und steiles Gelände auch im Wechselschritt bewältigen kann, während das C‑Leg‑Kniegelenk nur ermöglicht, zuerst eine Stufe zu ersteigen und dann das andere Bein nachzuziehen. Dasselbe gilt für Gehen bergan im steilen Gelände. Das Genium-Kniegelenk bietet weitere Vorteile, ua eines physiologisch besseren Gangbilds (sodass für einen Beobachter schwerer zu erkennen ist, dass überhaupt eine Prothese getragen wird), der Bewegungsapparat wird mehr geschont, es kann leichter zwischen gehender und laufender Bewegung gewechselt werden, beim Gehen und Laufen ist eine um etwa 30 % höhere Geschwindigkeit erreichbar, beim Besteigen von Leitern und beim Rückwärtsgehen wird eine höhere Sicherheit erreicht; beim Herabspringen kann auf beiden Beinen gelandet werden.

Rechtlich war das Erstgericht der Auffassung, im Hinblick auf die individuelle Situation des Klägers komme den Vorteilen der Genium‑Kniegelenksprothese in Summe derartiges Gewicht zu, dass ein Anspruch auf Kostenübernahme zu bejahen sei; dies ungeachtet der im Vergleich zum C-Leg‑3‑Kniegelenk rund 26.500 EUR höheren Kosten.

Das Berufungsgericht änderte das Ersturteil in ein die Klage auf Übernahme der Kosten für eine Oberschenkelprothese mit Genium‑Knieglenk abweisendes Urteil ab und sprach aus, dass die Revision nicht zulässig sei.

Rechtliche Beurteilung

Die außerordentliche Revision ist mangels einer Rechtsfrage von erheblicher Bedeutung im Sinn des § 502 Abs 1 ZPO unzulässig.

1. Gemäß § 202 Abs 1 ASVG hat der Versicherte Anspruch auf Versorgung mit Körperersatzstücken, orthopädischen Behelfen und anderen Hilfsmitteln, die erforderlich sind, um den Erfolg der Heilbehandlung zu sichern oder die Folgen des Arbeitsunfalls oder der Berufskrankheit zu erleichtern. Alle diese Hilfsmittel müssen den persönlichen und beruflichen Verhältnissen des Versehrten angepasst sein.

2.1 Die Ziele der Unfallheilbehandlung (§ 189 ASVG) stimmen im Wesentlichen mit jenen der Krankenbehandlung überein. Während allerdings die Krankenbehandlung ausreichend und zweckmäßig sein muss, jedoch das Maß des Notwendigen nicht überschreiten darf (§ 133 Abs 2 ASVG), zielt die Unfallheilbehandlung darauf ab, mit „allen geeigneten Mitteln“ (§ 189 Abs 1 Satz 1 ASVG) im weitestgehenden Umfang den vor dem Eintritt des Versicherungsfalls bestehenden Gesundheitszustand wiederherzustellen.

2.2 Dennoch sind auch die Unfallversicherungsträger – schon verfassungsrechtlich – in ihrer gesamten Gebarung an die Grundsätze der Sparsamkeit, Wirtschaftlichkeit und Zweckmäßigkeit gebunden („Ökonomiegebot“; 10 ObS 243/99d, SSV-NF 13/119; 10 ObS 128/12i, SSV-NF 26/68). Daran ändert auch der Umstand nichts, dass die Gewährung von Hilfsmitteln im Unfallversicherungsrecht „höherwertiger“ geregelt ist als im Krankenversicherungsrecht.

2.3 Vor diesem Hintergrund ist § 202 Abs 1 letzter Satz ASVG auszulegen. Der Versehrte hat Anspruch auf das erforderliche (geeignete) Hilfsmittel, um die von § 202 Abs 1 angestrebten Zwecke zu erreichen. Dieses „erforderliche“ Hilfsmittel muss seinen persönlichen und beruflichen Verhältnissen angepasst sein, sodass insofern keine „Überversorgung“ stattfinden darf.

2.4 Ein Hilfsmittel muss einerseits objektiv medizinisch erforderlich und geeignet sein, die vom Gesetzgeber in § 202 Abs 1 ASVG angestrebten Zwecke zu erfüllen. Andererseits ist die Erforderlichkeit und Eignung auch subjektiv unter Berücksichtigung der individuellen persönlichen und beruflichen Verhältnisse des Versicherten im jeweiligen konkreten Fall zu beurteilen (10 ObS 56/16g mwN).

3.1 Zu berücksichtigen ist ferner, dass die Art der Durchführung der Unfallheilbehandlung im freien Ermessen des Unfallversicherungsträgers liegt. Sie kann unmittelbar durch dazu bestimmte Einrichtungen oder Ärzte gewährt werden oder es kann ein Krankenversicherungsträger mit ihrer Durchführung gegen Kostenersatz betraut werden (§ 193 ASVG). Daher hat der Versehrte zwar auch in dem der Unfallheilbehandlung zugehörigen Bereich des § 202 Abs 1 ASVG einen Anspruch auf Versorgung durch Sachleistung. Diese erfolgt allerdings primär in der vom Unfallversicherungsträger gewählten Form, wobei dieser die dargestellten Grundsätze der Sparsamkeit, Wirtschaftlichkeit und Zweckmäßigkeit zu beachten hat. Der Versehrte hat daher einen Grundanspruch auf die erforderliche (geeignete) Versorgung gemäß § 202 Abs 1 ASVG, nicht jedoch einen Anspruch auf ein bestimmtes Hilfsmittel. Die Entscheidung, welches Hilfsmittel im Einzelfall geeignet ist, trifft der Unfallversicherungsträger im Rahmen des ihm gemäß § 193 ASVG eingeräumten freien Ermessens (10 Ob 56/16g).

4. Wünscht der Versehrte eine nicht erforderliche, höhere Kosten bedingende Ausführung, die in seinen persönlichen oder beruflichen Verhältnissen keine Begründung findet, so hat er die Mehrkosten selbst zu tragen (Bergauer in Mosler/Müller/Pfeil, SV-Komm [98. ErgLfg], § 202 ASVG Rz 8).

5.1 Ob ein Hilfsmittel geeignet ist, den Versehrten in die Lage zu versetzen, einen ihm angemessenen Platz im beruflichen und wirtschaftlichen Leben (§ 172 Abs 2 ASVG) sowie in der Gemeinschaft einzunehmen (10 ObS 56/16g mwN), kann jeweils nur nach den besonderen Umständen des Einzelfalls beurteilt werden und stellt im Allgemeinen keine erhebliche Rechtsfrage dar.

5.2.1 Das Berufungsgericht führte im Rahmen seiner rechtlichen Beurteilung aus, die vorhandene C‑Leg‑Knieprothese sei unter Berücksichtigung der individuellen persönlichen und beruflichen Verhältnisse des Klägers geeignet, weil sie ihm nicht nur ermögliche, seinem Beruf nachzugehen, sondern ihn auch in die Lage versetze, in seiner Freizeit weiterhin Sport zu betreiben (Radfahren, Tennis, Laufen etc). Wenngleich die – weitaus teurere – Oberschenkelprothese mit dem Genium-Kniegelenk unbestritten Vorteile habe (insbesondere eine Erleichterung von Bewegungsabläufen und ein gänzlich unauffälliges Gangbild), sei eine solche prothetische Versorgung für den Kläger objektiv und auch subjektiv nicht erforderlich.

5.2.2 Dem setzt die Revision im Wesentlichen entgegen, jeder Versicherte müsse am technischen Fortschritt teilhaben können, weshalb ein Rechtsanspruch auf eine jeweils dem letzten Stand der Technik entsprechende Prothese bestehe. Die Genium-Kniegelenksprothese sei für den Kläger nicht nur wegen der beruflich bedingten Bewegungsabläufe (Leitern‑ und Stiegensteigen), sondern auch im Hinblick auf seine sportlichen Aktivitäten nötig.

5.3 Mit diesem Vorbringen wird keine Rechtsfrage von erheblicher Bedeutung im Sinn des § 502 Abs 1 ZPO aufgezeigt:

Wie bereits ausgeführt zielt die Unfallheilbehandlung darauf ab, mit „allen geeigneten Mitteln“ (§ 189 Abs 1 Satz 1 ASVG) im weitestgehenden Umfang den vor dem Eintritt des Versicherungsfalls bestehenden Gesundheitszustand wiederherzustellen. Dennoch haben die Unfallversicherungsträger dabei das „Ökonomiegebot“ zu beachten. Wenn das Berufungsgericht vor diesem Hintergrund im vorliegenden Einzelfall die Oberschenkelprothese mit dem C-Leg-Kniegelenk als den persönlichen und beruflichen Verhältnissen des Klägers angepasst erachtet hat, hingegen davon ausgegangen ist, eine Prothese mit einem Genium-Kniegelenk finde in dessen persönlichen oder beruflichen Verhältnissen keine Begründung, so ist darin keine vom Obersten Gerichtshof aus Gründen der Rechtssicherheit aufzugreifende Fehlbeurteilung zu erblicken. Der Versehrte hat nur einen Grundanspruch auf die erforderliche (geeignete) Versorgung, ein Anspruch auf die jeweils dem letzten Stand der Technik entsprechende Prothese ist aus dem Unfallversicherungsrecht nicht abzuleiten.

Dies führt zur Zurückweisung der Revision als unzulässig.

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