European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2017:010OBS00049.16B.0124.000
Spruch:
Beide Revisionen werden zurückgewiesen.
Die beklagte Partei ist schuldig, der klagenden Partei die mit 418,78 EUR bestimmten Kosten des Revisionsverfahrens (darin enthalten 69,80 EUR USt) binnen 14 Tagen zu ersetzen.
B e g r ü n d u n g :
Die am 28. 3. 1975 geborene Klägerin arbeitete in Ungarn in verschiedenen Berufen, nicht aber als Serviererin oder Schankhilfe. In Österreich war sie ab 2004 mit Unterbrechungen berufstätig, ab Mai 2005 ua als Schankhilfe und Serviererin in mehreren Gastronomiebetrieben. Sie absolvierte in Österreich eine Kurzausbildung zur Restaurantfachfrau und schloss diese mit der Ergänzung zur Lehrabschlussprüfung am 28. 11. 2008 ab. Von Dezember 2008 bis Jänner 2009 erwarb sie zwei Beitragsmonate als Restaurantfachfrau. Insgesamt weist die Klägerin in den letzten 15 Jahren vor dem 1. 4. 2010 in Österreich 23 Monate der Pflichtversicherung-Erwerbstätigkeit auf. Zum Erlangen einer Anlernqualifikation als Restaurantfachfrau ist eine Anlernzeit im Ausmaß einer Lehrzeit, also in etwa im Ausmaß von drei Jahren notwendig. Die beklagte Partei gewährte der Klägerin für den Zeitraum 1. 4. 2010 bis 31. 3. 2014 die befristete Invaliditätspension. Derzeit ist die Klägerin nicht arbeitsfähig. Eine Besserung ihres Gesundheitszustands ist aber nach Ablauf von 18 Monaten mit vernünftiger Wahrscheinlichkeit erreichbar. Nach Absolvierung von Rehabilitationsmaßnahmen wäre die Klägerin wieder in der Lage auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt Arbeiten mit durchschnittlicher geistiger und leichter psychischer Belastung, körperlich alle leichten und halbzeitig mittelschweren Arbeiten (mit im einzelnen festgestellten weiteren Einschränkungen) zu verrichten. Zumindest ab 9. 4. 2014 lebte die Klägerin in Ungarn. (In ihrer Revision bringt sie vor, nunmehr in Deutschland wohnhaft zu sein.)
Mit Bescheid vom 25. 4. 2014 wies die beklagte Partei den Antrag der Klägerin auf Weitergewährung der mit 31. März 2014 befristeten Invaliditätspension ab.
Das Erstgericht sprach aus, dass
1. dauerhafte Invalidität nicht vorliege,
2. ab 1. 3. 2014 vorübergehende Invalidität im Ausmaß von mehr als sechs Monaten bestehe,
3. die Klägerin als Maßnahme der medizinischen Rehabilitation Anspruch auf einen stationären Aufenthalt in einer psychiatrischen Fachstation, allenfalls auch nur Aufnahme in einer Tagesklinik mit regelmäßiger Beschäftigung von Montag bis Freitag, regelmäßigen psychiatrischen Kontrollen zur optimalen Medikamenteneinnahme und regelmäßiger Gesprächsführung zur Erarbeitung von realistischen Perspektiven für die Zukunft habe;
4. berufliche Maßnahmen der Rehabilitation nicht zweckmäßig sind und
5. ab dem 1. 4. 2014 Anspruch auf Rehabilitationsgeld für die Dauer der vorübergehenden Invalidität bestehe.
Rechtlich führte das Erstgericht aus, der Weitergewährungsantrag falle unter das Regime des SRÄG 2012. Hinsichtlich des Berufsschutzes sei aber auf die Rechtslage zum Stichtag 1. 4. 2010 abzustellen und § 255 ASVG in der damals geltenden Fassung anzuwenden. Die Klägerin sei in nicht in mehr als der Hälfte der Beitragsmonate während der letzten 15 Jahre vor dem Stichtag als angelernte oder gelernte Restaurantfachfrau tätig gewesen. Sie habe im Beobachtungszeitraum der letzten 15 Jahre vor dem Stichtag (1. 4. 2010) erst im November 2008 die Lehrabschlussprüfung als Restaurantfachfrau abgelegt und danach nur zwei Beitragsmonate als gelernte Restaurantfachfrau erworben. Die Klägerin weise auch nicht genügend Beitragsmonate für eine Anlernqualifikation iSd § 255 Abs 2 ASVG (aF) als Restaurantfachfrau auf, weil dafür eine Anlernzeit im Ausmaß einer Lehrzeit – also in etwa von drei Jahren – nötig wäre. Die Klägerin habe im Beobachtungszeitraum aber insgesamt nur 23 Monate der Pflichtversicherung erworben. Sie sei deshalb auf den allgemeinen Arbeitsmarkt verweisbar, auf dem ihr die – ihrem Leistungskalkül noch entsprechenden – Tätigkeiten eines Stubenmädchens oder einer Reinigungskraft offenstehen. Dass die Klägerin in einen anderen Mitgliedstaat (Ungarn) übersiedelt sei, stehe dem Anspruch auf Rehabilitationsgeld nicht entgegen. Das Rehabilitationsgeld sei unionsrechtlich zwar als Leistung bei Krankheit zu qualifizieren, komme aber ausschließlich im Zusammenhang mit einem Antrag auf eine Pension wegen geminderter Arbeitsfähigkeit in Betracht. Im Hinblick auf diese Besonderheit sei nicht der Wohnsitzstaat zuständig, sondern habe eine Anknüpfung an den Erwerb von Versicherungszeiten in Österreich zu erfolgen. Die Beklagte habe daher gemäß Art 21 Abs 1 der VO 883/2004 das Rehabilitationsgeld an die Klägerin auch dann auszuzahlen, wenn diese nunmehr ihren Wohnsitz nach Ungarn verlegt habe.
Das Berufungsgericht gab den von beiden Parteien erhobenen Berufungen in der Hauptsache jeweils nicht Folge, erkannte sie aber im Kostenpunkt als berechtigt. Es billigte – zusammengefasst – die Rechtsansicht des Erstgerichts. Das Berufungsgericht sprach aus, dass die Revision zulässig sei, weil keine Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs zu der Frage der Zuständigkeit Österreichs für das Rehabilitationsgeld und dessen Export in das EU‑Ausland im Anschluss an eine befristete Invaliditätspension vorliege.
Rechtliche Beurteilung
Beide Revisionen sind unzulässig.
Die Zurückweisung einer ordentlichen Revision wegen Fehlens einer erheblichen Rechtsfrage iSd § 502 Abs 1 ZPO kann sich auf die Ausführung der Zurückweisungsgründe beschränken:
Zur Revision der Klägerin:
1.1 Die Klägerin hält ihren Standpunkt aufrecht, das erstinstanzliche Verfahren sei mangelhaft, weil ihre Parteieneinvernahme erbracht hätte, dass sie mehr als die Hälfte ihrer Berufslaufbahn den Beruf einer angelernten Kellnerin ausgeübt habe. Das Vorliegen eines erstinstanzlichen Verfahrensmangels infolge Unterlassung der Parteieneinvernahme hat aber schon das Berufungsgericht mit ausführlicher Begründung verneint. Bereits vom Berufungsgericht verneinte Verfahrensmängel können vor dem Obersten Gerichtshof auch in Sozialrechtssachen nicht mehr erfolgreich geltend gemacht werden (RIS‑Justiz RS0043061).
1.2 Es steht fest, dass eine Besserung des Gesundheitszustands der Klägerin nach Ablauf von 18 Monaten mit vernünftiger Wahrscheinlichkeit erreichbar ist. Wenn die Klägerin in ihrer Revision die Feststellung begehrt, es bestehe lediglich die Möglichkeit (nicht aber die Wahrscheinlichkeit), dass sich ihre Erwerbsfähigkeit wieder herstellen lasse, stellt dies eine in dritter Instanz unzulässige Tatsachenrüge dar (RIS‑Justiz RS0007236).
2. Auch mit ihrer Rechtsrüge zeigt die Revisionswerberin keine erhebliche Rechtsfrage iSd § 502 Abs 1 ZPO auf:
2.1 Berufsunfähigkeit/Invalidität liegt nach der Rechtslage nach dem SRÄG 2012 voraussichtlich dauerhaft dann vor, wenn eine die Berufsunfähigkeit/Invalidität beseitigende Besserung des Gesundheitszustands der versicherten Person mit hoher Wahrscheinlichkeit (im Sinn des Regelbeweismaßes der ZPO) nicht zu erwarten ist. Diesen Beweis einer anspruchsbegründenden Tatsache hat die versicherte Person zu erbringen. Damit feststeht, dass Berufsunfähigkeit (Invalidität) „voraussichtlich dauerhaft“ vorliegt, muss der Versicherte also nicht (mehr) beweisen, dass eine Besserung des Gesundheitszustands mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen ist oder eine Besserung unmöglich oder mit an Gewissheit grenzend unwahrscheinlich ist, sondern nur, dass sie nicht sehr wahrscheinlich ist (RIS‑Justiz RS0130217). Die Beurteilung des Berufungsgerichts, ausgehend von den getroffenen Feststellungen liege keine dauerhafte Invalidität vor, steht mit dieser Rechtsprechung in Einklang.
3.1 In der Revision nicht in Zweifel gezogen wird, dass bei einem Weitergewährungsantrag im Sinne der Einheitlichkeit des Versicherungsfalls für den Berufsschutz vom ursprünglichen Stichtag (1. 4. 2010) auszugehen ist, also hinsichtlich des Berufsschutzes § 255 ASVG in der zum 1. 4. 2010 geltenden Fassung vor dem SRÄG 2012 BGBl I 2013/3) anzuwenden ist (siehe auch Panhölzl in SV‑Komm [116 Lfg] § 223 ASVG Rz 31). Nach dieser Regelung galt der Versicherte, der überwiegend in erlernten (angelernten) Berufen tätig war, als invalid, wenn seine Arbeitsfähigkeit infolge seines körperlichen oder geistigen Zustands auf weniger als die Hälfte derjenigen eines körperlich und geistig gesunden Versicherten von ähnlicher Ausbildung und gleichwertigen Kenntnissen und Fähigkeiten in jedem dieser Berufe herabgesunken ist. Nach § 255 Abs 2 ASVG idF zum 1. 4. 2010 galten als überwiegend iSd Abs 1 solche erlernten (angelernten) Berufstätigkeiten, wenn sie in mehr als der Hälfte der Beitragsmonate nach diesem Bundesgesetz während der letzten 15 Jahre vor dem Stichtag ausgeübt wurden. Das Gesetz stellt somit auf das relative Überwiegen der Ausübung der qualifizierten Tätigkeit hinsichtlich der Zahl der Beitragsmonate in den letzten 15 Jahren vor dem Stichtag ab (Sonntag in Sonntag, ASVG7 [2016]§ 255 Rz 73).
3.2 Davon weicht die Rechtsansicht der Vorinstanzen nicht ab, aufgrund des im vorliegenden Fall festgestellten Berufsverlaufs sei kein Überwiegen der Ausübung der qualifizierten Tätigkeit gegenüber den unqualifizierten Zeiten gegeben. Da der Gesetzgeber der Ausbildung allein noch keine privilegierende Wirkung zubilligt, kann von der Ausübung einer Berufstätigkeit iSd § 255 Abs 2 Satz 2 ASVG bei in einem Lehr‑ oder Ausbildungsverhältnis stehenden Personen oder Praxiszeiten absolvierenden Personen nicht gesprochen werden. Es kommt wesentlich darauf an, dass der Versicherte das Erlernte in der Praxis auch anwendet (RIS‑Justiz RS0084628 [T5]).
Zur Revision der Beklagten:
1. Das Vorliegen einer erheblichen Rechtsfrage ist im Zeitpunkt der Entscheidung über das Rechtsmittel durch den Obersten Gerichtshof zu beurteilen. Eine zur Zeit der Einbringung des Rechtsmittels tatsächlich erhebliche Rechtsfrage fällt daher weg, wenn die bedeutsame Rechtsfrage durch eine andere Entscheidung des Obersten Gerichtshofs geklärt wird (RIS‑Justiz RS0112921 [T5]; RS0112769 [T9, T11]).
2.1 Der Oberste Gerichtshof hat in der am 20. 12. 2016 zu AZ 10 ObS 133/15d ergangenen Entscheidung ausführlich zu der auch hier zu beurteilenden Frage Stellung genommen, ob einer in einem anderen Mitgliedstaat wohnenden Versicherten, die unmittelbar zuvor von der Pensionsversicherungsanstalt eine befristete Invaliditätspension bezogen hat, für die Dauer der vorübergehenden Invalidität Rehabilitationsgeld aus der Krankenversicherung zusteht.
2.2 Der Oberste Gerichtshof kam zusammengefasst zu folgenden Ergebnissen:
2.2.1 Das Rehabilitationsgeld (§ 143a ASVG) stellt eine Geldleistung bei Krankheit iSd Art 3 Abs 1 lit a VO 883/2004 dar. Diese Einordnung hat Auswirkungen auf die unionsrechtliche Leistungszuständigkeit nach der VO 883/2004 . Nach Art 11 Abs 3 lit a der VO 883/2004 ist für die Erbringung einer Geldleistung bei Krankheit primär der Beschäftigungsstaat zuständig. Da weder eine Beschäftigung der Klägerin feststeht und sie auch keine Leistung nach Art 11 Abs 2 der Verordnung bezieht, ergibt sich aus Art 11 Abs 3 lit e der VO 883/2004 die subsidäre Zuständigkeit des Wohnsitzstaates.
2.2.2 Beim Rehabilitationsgeld handelt es sich jedoch um eine nicht eindeutig in die Kategorien des Art 3 VO 883/2004 einordenbare Geldleistung mit Sondercharakter, da bedeutende Berührungspunkte mit der Pensionsversicherung gegeben sind. Insbesondere hängt die Gewährung von Rehabilitationsgeld vom Erwerb von Versicherungs‑ und Beitragszeiten in Österreich ab und stellt damit eine Gegenleistung zu den in Österreich gezahlten Beiträgen dar.
2.2.3 Die Annahme einer alleinigen Zuständigkeit des ausländischen Wohnsitzmitgliedstaates und der damit einhergehende Leistungsverlust trotz bereits im Inland erworbener Versicherungszeiten kann in bestimmten Fällen die primärrechtlich verbürgte unionsrechtliche Freizügigkeit beschränken, insbesondere dann, wenn der aktuelle Wohnsitzmitgliedstaat keine dem Rehabilitationsgeld entsprechende Leistung kennt.
2.2.4 Es ist daher jeweils im Einzelfall zu prüfen, ob ein primärrechtlich fundierter Exportanspruch besteht. Dieser ist jedenfalls dann zu bejahen, wenn der Rehabilitationsgeldbezug unmittelbar an den Bezug einer befristeten Invaliditätspension aus Österreich anschließen soll, der Versicherte in Österreich Versicherungszeiten erworben hat, er seinen Wohnsitz in einem zeitlichen Nahebereich zur Antragstellung auf Weitergewährung ins EU‑Ausland verlegt hat und dort keine Erwerbsunfähigkeitspension bezieht. In diesem Fall ist aufgrund des Sondercharakters des Rehabilitationsgeldes der Leistungsverlust infolge des Wohnsitzwechsels in einen anderen Mitgliedstaat auf die Inanspruchnahme der Freizügigkeit zurückzuführen. Es kommen dem Versicherten daher die Regeln des Art 45 ff iVm Art 50 ff der VO 883/2004 zu gute.
3.1 Dem der Entscheidung 10 ObS 133/15d zugrunde liegenden Sachverhalt ist die Situation der Klägerin gänzlich gleichgelagert.
3.2 Die Ansicht der Vorinstanzen, im Hinblick auf den Sondercharakter des Rehabilitationsgeldes sei an den Erwerb von Versicherungszeiten in Österreich anzuknüpfen und eine Zuständigkeit Österreich zu bejahen, sodass dem Rehabilitationsgeldanspruch der Klägerin deren Umzug ins EU‑Ausland nicht entgegensteht, weicht von der Entscheidung 10 ObS 133/15d nicht ab.
Auch die Revision der Beklagten ist demnach zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 77 Abs 1 Z 2 lit a ASGG. Da die Entscheidung 10 ObS 133/15d erst nach Erstattung der Revisionsbeantwortung ergangen ist, konnte die Klägerin in der Revisionsbeantwortung noch nicht auf diese Entscheidung hinweisen (RIS‑Justiz RS0123861).
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