OGH 4Ob242/16s

OGH4Ob242/16s20.12.2016

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten Dr. Vogel als Vorsitzenden und durch die Hofräte Dr. Jensik, Dr. Musger, Dr. Schwarzenbacher und Dr. Rassi als weitere Richter in der Pflegschaftssache der minderjährigen 1. L***** R*****, geboren am ***** 2002, 2. T***** R*****, geboren am ***** 2006, vertreten durch die Mutter A***** R*****, diese vertreten durch Mag. Birgit Brass, Rechtsanwältin in Villach, über den Revisionsrekurs des Vaters K***** R*****, vertreten durch Mag. Gerlinde Murko‑Modre, Rechtsanwältin in Klagenfurt am Wörthersee als Verfahrenshelferin, gegen den Beschluss des Landesgerichts Klagenfurt als Rekursgericht vom 1. September 2016, GZ 3 R 141/16v‑95, womit der Beschluss des Bezirksgerichts Feldkirchen vom 30. Juni 2016, GZ 2 Pu 102/12s‑91, abgeändert wurde, den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2016:0040OB00242.16S.1220.000

 

Spruch:

Dem Revisionsrekurs wird Folge gegeben.

Die angefochtene Entscheidung, die bezüglich des Zuspruchs der Kosten für den medizinischen Sonderbedarf von 160 EUR für L***** R***** und von 200 EUR für T***** R***** in Rechtskraft erwachsen ist, wird dahin abgeändert, dass der Beschluss des Erstgerichts in Ansehung der Entscheidung über den Sonderbedarf wegen Tenniskosten für L***** R***** wiederhergestellt wird.

Die Revisionsrekursbeantwortung des mj T***** R***** wird zurückgewiesen.

 

Begründung:

Die beiden Minderjährigen befinden sich in Pflege und Erziehung bei ihrer allein obsorgeberechtigten Mutter und werden von dieser seit Februar 2010 in deren Haushalt betreut. Nach den rechtskräftigen Beschlüssen der Vorinstanzen ist der Vater ab Juli 2015 zu einem laufenden Unterhalt von 270 EUR für L***** und von 220 EUR für T***** verpflichtet und weiters schuldig, für den Zeitraum von Jänner 2011 bis Juni 2015 monatliche Unterhaltszahlungen in einer Bandbreite von 248 EUR bis 328 EUR an L***** bzw von 204 EUR bis 328 EUR an T***** zu leisten. Der konkreten Höhe dieser nach Zeiträumen gestaffelten Unterhaltspflichten liegen ein über die Jahre schwankendes Einkommen und eine weitere (zeitweilig unterbrochene) Sorgepflicht für eine 1992 geborene Tochter zugrunde.

Der Unterhaltspflichtige ist ein gelernter Masseur und war im Zeitraum ab 2011 als Fußballtrainer und Verkäufer beschäftigt. Eine Anspannung auf einen monatlichen Verdienst von 1.480 EUR ist möglich, wobei der Vater seit 2011 tatsächlich ein durchschnittliches Monatseinkommen im Bereich von 1.336 EUR bis 1.927 EUR, zuletzt (seit Jänner 2016) 1.560 EUR verdiente. Abzüglich seiner laufenden Unterhaltsverpflichtungen verblieb ihm in den Jahren seit 2011 ein restliches Einkommen im Bereich von unter 1.000 EUR, zum Teil hatte er nur Beträge von unter 800 EUR für sich zur Verfügung. Sein restliches Einkommen erreichte somit nicht den Betrag für das Existenzminimum einer Person mit einem gleich hohen Einkommen ohne Unterhaltspflichten nach § 291a EO. Zum Teil war der verbleibende Betrag niedriger als das Unterhaltsexistenzminimum iSd § 291b Abs 2 EO. Lediglich im Jahr 2012 überstieg sein Resteinkommen das Existenzminimum im Durchschnitt um 40 EUR im Monat. Das lag daran, dass der Vater im Zeitraum von September 2011 bis September 2013 nur für seine minderjährigen Söhne, nicht aber für seine Tochter unterhaltspflichtig war.

2014 beantragte der mj L*****, den Vater zur Zahlung von 10.956 EUR zu verpflichten. Es handle sich um die mit der Ausübung des Tennis-Wettkampfsports im Zeitraum 2011 bis 2014 entstandenen Kosten, die als Sonderbedarf geltend gemacht werden. Insgesamt seien – nach Abzug der Beiträge von Sportförderungen und Sponsorengeldern – Kosten in Höhe von 21.912 EUR angefallen, wovon der Vater zumindest die Hälfte zu tragen habe. Wie sein Bruder spiele L***** erfolgreich Tennis und sei äußerst talentiert und ehrgeizig. Er strebe eine Tenniskarriere an, sei bereits Staatsmeister gewesen und habe auch an internationalen Turnieren erfolgreich teilgenommen. Ein erfolgreiches Fortkommen sei ohne Trainerstunden nicht denkbar. Bei den geltend gemachten Kosten handle es sich um einen Sonderbedarf, zu dem der Vater zumindest zur Hälfte beizutragen habe. Der Vater könnte durch Ausnützung seiner Leistungsfähigkeit ein Einkommen verdienen, das neben der Abdeckung des laufenden Unterhalts einen zusätzlichen Betrag für Trainingsstunden bringen würde. Weiters beantragten beide Kinder den Ersatz der Kosten von kieferorthopädischen Behandlungen als medizinischen Sonderbedarf. Diese Kosten sind nicht mehr Gegenstand des Verfahrens. Diesbezüglich wurde der Vater bereits rechtskräftig zur Zahlung von 160 EUR an L***** bzw 200 EUR an T***** verpflichtet.

Der Vater hielt dem Antrag entgegen, dass es sich bei den Tennistrainerstunden keinesfalls um unbedingt notwendige Ausgaben handle, mögen die Kinder auch talentiert sein. Die Sonderbedarfsregelung überstiege seine Leistungsfähigkeit, zumal er 50 % seines Einkommens für seine drei unterhaltsberechtigten Kinder aufwende. Unter Berücksichtigung der konkreten Einkommens- und Vermögensverhältnisse wären die Aufwendungen für Trainerstunden in einer intakten Familie nicht getätigt worden.

Das Erstgericht wies den Sonderbedarfsantrag bezüglich der Tenniskosten ab. Auch bei einem begründeten Sonderbedarf sei zu beachten, dass sich der Unterhalt insgesamt im Rahmen der Leistungsfähigkeit des Unterhaltspflichtigen halten muss. Hier dürfe die Belastungsgrenze des Unterhaltsexistenzminimums nicht unterschritten werden, zumal dem auf einem Berg lebenden Vater auch ein Betrag für den Betrieb eines Kraftfahrzeugs zu verbleiben habe. Das Erstgericht zog bei seiner Berechnung das väterliche Einkommen seit der Antragstellung im Jahr 2014 heran und kam zum Ergebnis, dass der Vater bei Berücksichtigung des Unterhaltsexistenzminimums und der für den medizinischen Sonderbedarf gewidmeten Beträge für den Sonderbedarf betreffend die Tenniskosten nicht leistungsfähig sei.

Das Rekursgericht gab dem dagegen erhobenen Rekurs der Kinder teilweise Folge und verpflichtete den Vater zum Ersatz von für die besonderen Ausgaben im Zusammenhang mit dem Tennissport angefallenen Kosten im Ausmaß von 6.440 EUR. Es ging davon aus, dass die Leistungsfähigkeit des Vaters auf den Zeitraum zu beziehen sei, für den der Sonderbedarf geltend gemacht worden sei, also die Zeit von 2011 bis 2014. Wegen der zwischenzeitlich weggefallenen Unterhaltspflicht des Vaters für eine Tochter von September 2011 bis September 2013 ergebe sich eine zusätzliche Leistungsfähigkeit des Vaters für den Sonderbedarf, wobei das Rekursgericht auf § 292b Z 1 EO Bezug nahm.

Aufgrund einer Zulassungsvorstellung des Vaters ließ das Rekursgericht den ordentlichen Revisionsrekurs nachträglich zu, weil die Überprüfung der im Rechtsmittel aufgeworfenen Fragen zur rückwirkenden Inanspruchnahme und zur Fälligkeit von Sonderbedarf sowie zum Vergleich mit dem Vorgehen in einer intakten Familie der Wahrung der Rechtssicherheit diene.

In seinem Revisionsrekurs beantragt der Vater, den Antrag auf Zuerkennung von Sonderbedarf für Tenniskosten abzuweisen; hilfsweise stellt er einen Aufhebungsantrag.

Die Kinder beantragen in ihrer Revisionsrekursbeantwortung, den Revisionsrekurs zurückzuweisen, hilfsweise ihm nicht Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

Der Revisionsrekurs des Vaters ist zulässig, weil das Rekursgericht von den von der Rechtsprechung zur Ersatzfähigkeit des Sonderbedarfs entwickelten Grundsätzen abgewichen ist. Das Rechtsmittel ist auch berechtigt.

1. Das Rechtsmittel wendet sich ausschließlich gegen die Zuerkennung jener Kosten, die für L***** im Zusammenhang mit der Ausübung des Tennissports entstanden sind. Der den mj T***** betreffende Teil der Rekursentscheidung über den medizinischen Sonderbedarf blieb unangefochten, sodass die Revisionsrekursbeantwortung insoweit zurückzuweisen ist, als sie von T***** eingebracht wurde, weil dessen Rechte durch das Revisionsrekursverfahren nicht betroffen sind.

2.1 Sonderbedarf ist der den Regelbedarf übersteigende Bedarf, der dem Unterhaltsberechtigten infolge Berücksichtigung der bei der Ermittlung des Regelbedarfs bewusst außer Acht gelassenen Umstände erwächst (RIS‑Justiz RS0047564, RS0117791).

2.2 Bei der Beurteilung, ob überhaupt ein Sonderbedarf vorliegt, sind die konkreten Lebensverhältnisse der Eltern zunächst nicht zu berücksichtigen (RIS-Justiz RS0109908; RS0047531).

2.3 Der Sonderbedarf betrifft inhaltlich hauptsächlich die Erhaltung der (gefährdeten) Gesundheit, die Heilung einer Krankheit und die Persönlichkeitsentwicklung (insbesondere Ausbildung, Talentförderung und Erziehung) des Kindes (RIS‑Justiz RS0107180). Der Bedarf muss dabei den Kriterien der Individualität, Außergewöhnlichkeit und Dringlichkeit entsprechen (10 Ob 61/05a; 10 Ob 20/13h; RIS‑Justiz RS0047539).

2.4 Sportliche Betätigung fällt für gewöhnlich unter den Regelbedarf (RIS‑Justiz RS0047395). Nur etwa die kostenaufwendige besondere Förderung spezieller sportlicher Interessen, die nicht mit weitgehender Regelmäßigkeit für die Mehrzahl der unterhaltsberechtigten Kinder anfallen, kann einen Sonderbedarf bilden (3 Ob 290/98p). Das kann dann der Fall sein, wenn das besondere sportliche Talent des Unterhaltsberechtigten besonders förderungswürdig ist (RIS‑Justiz RS0107180).

2.5 Ein solcher Fall liegt hier vor, zumal unstrittig ist, dass L***** in den Kader des Österreichischen Tennisverbands aufgenommen wurde, an zahlreichen Wettkämpfen teilgenommen und dabei auch sehr gute Wettkampfplatzierungen (etwa Vizestaatsmeister) erreicht hat. Insoweit das Rekursgericht die im Zusammenhang mit der Förderung des besonderen Talents von L***** entstandenen Kosten für den Tennissport grundsätzlich als Sonderbedarf qualifiziert hat, liegt keine korrekturbedürftige Fehlbeurteilung vor.

3.1 Von der Frage der Qualifizierung eines Aufwands als Sonderbedarf ist allerdings die Frage zu trennen, ob eine Deckungspflicht des geldunterhaltspflichtigen Elternteils besteht. Das hängt davon ab, ob diesem die Deckung angesichts seiner Einkommens- und Vermögensverhältnisse zumutbar ist (7 Ob 163/09k; RIS‑Justiz RS0107179, RS0109907). Bei angespannten finanziellen Verhältnissen ist die Rechtfertigung des Sonderbedarfs streng zu prüfen; zumal bereits die „Prozentsatzkomponente“ der Leistungsfähigkeit der Eltern Rechnung trägt (vgl 5 Ob 116/09h).

3.2 Zur besseren Beurteilung der Zumutbarkeit ist darauf abzustellen, ob die Aufwendungen für den begehrten Sonderbedarf auch in einer intakten Familie unter Berücksichtigung der konkreten Einkommens‑ und Vermögenssituation getätigt worden wären (5 Ob 116/09h; RS0107182; RS0109907 [T1]). Dies auch unter Berücksichtigung der Frage, wodurch der Sonderbedarf verursacht wurde (vgl RIS‑Justiz RS0047560). Je dringender oder existenzieller ein Sonderbedarf ist, desto eher ist der Unterhaltspflichtige zu belasten (9 Ob 47/06m; RIS‑Justiz RS0107181; Gitschthaler, Unterhaltsrecht³, Rz 653;

Neuhauser in Schwimann, ABGB Taschenkommentar3 Rz 50). Die Deckung eines existenziellen Sonderbedarfs ist in der Regel eher zumutbar als sonstige Ausgaben (vgl RIS‑Justiz RS0047543), zumal die Abgeltung von Sonderbedarf grundsätzlich immer Ausnahmecharakter hat (RIS‑Justiz RS0109908 [T4, T12]; Neuhauser in Schwimann/Kodek, ABGB4 Ia § 231 Rz 132). Eine intakte Familie wird wohl auch bei angespannten finanziellen Verhältnissen im Regelfall danach trachten, existenznotwendige Ausgaben oder Aufwendungen zur Erhaltung oder Wiederherstellung der Gesundheit zu tätigen (Neuhauser in Schwimann/Kodek, ABGB4 Ia § 231 Rz 133). Es ist aber in einer solchen Familie nicht zwingend zu erwarten, dass diese im gleichen Maße den Fokus auch auf die Förderung eines herausragenden sportlichen Talents im Alter von knapp neun Jahren legt (vgl auch Gitschthaler, Unterhaltsrecht³ Rz 653).

3.3 Dem Rechtsmittelwerber, dem nach Abzug seiner sonstigen Unterhaltspflichten im Wesentlichen nur ein Einkommen im Bereich zwischen dem Existenzminimum und dem Unterhaltsexistenzminimum verbleibt, ist die Deckung der über mehrere Jahre laufend anfallenden Sportkosten seines Kindes nicht zumutbar (Gitschthaler, Unterhaltsrecht³ Rz 625). Dies ungeachtet der Tatsache, dass dem Vater nach Abzug des Regelbedarfs phasenweise ein Einkommen verblieb, das (geringfügig) über dem Existenzminimum lag, zumal dem auch Zeiten gegenüberstanden, zu denen das verbleibende Resteinkommen nicht einmal die Höhe des Unterhaltsexistenzminimums erreichte.

3.4 Dem Vater muss somit zugebilligt werden, sich unter Bezugnahme auf das Fehlen einer einvernehmlichen Entscheidung über das kostenintensive Wettkampftraining des Kindes auf einen Vergleich mit einer intakten Familie zu berufen (vgl auch 1 Ob 177/98f; 2 Ob 72/99y), zumal in solchen Familien nicht davon auszugehen ist, dass ein Elternteil ungeachtet der angespannten finanziellen Situation in der Familie einseitig über eine Sportausübung des Kindes bestimmt, die mit hohen Kosten über Jahre verbunden ist.

4. Die Deckung der Kosten für die jahrelange Ausübung eines Leistungssports durch das Kind ist dem geldunterhaltspflichtigen Vater im Hinblick auf seine bescheidenen Einkommensverhältnisse somit nicht zumutbar, weshalb die Entscheidung des Erstgerichts insoweit wiederherzustellen ist.

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