European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2016:E116219
Spruch:
Dem Revisionsrekurs wird nicht Folge gegeben.
Begründung:
Die nunmehr 76‑jährige Bewohnerin lebt seit dem 18. 8. 2015 in einem Pflegezentrum. Sie leidet an Demenz und einem Verstimmungszustand mit ängstlicher und depressiver Komponente. Sie ist nicht mehr in der Lage, sich selbst zu versorgen sowie Gefahrensituationen zu erkennen und zu vermeiden. Das Risiko eines Schadenseintritts ist ebenso hoch wie ihre Sturzgefahr.
Ihr wurde Seroquel, ein atypisches Neuroleptikum, als Bedarfsmedikation gegen die Symptome „Agitiertheit, delirantes Erscheinungsbild“ und Schlaflosigkeit in der Nacht verordnet. Die angeordnete Dosis der Bedarfsmedikation war nicht hoch; gerade bei älteren Patienten ist aber damit eine Reduzierung des Bewegungsdrangs möglich. Das Medikament wirkt an sich auch deutlich sedierend. Der Bewohnerin wurde Seroquel am 18. 8., 12. 10., 15. 10., 20. 10., 21. 10., 26. 10. und 22. 11. 2015 sowie zuletzt am 3. 2. 2016 verabreicht. Danach erfolgten keine derartigen Medikamentengaben mehr. Dass die Bedarfsmedikation ausschließlich der Behandlung der Grunderkrankung diente, kann nicht festgestellt werden; es ist möglich, dass es auch dazu eingesetzt wurde, einen pathologisch gesteigerten Bewegungsdrang zu reduzieren. Eine schonendere Alternative zum Einsatz der Bedarfsmedikation ist sowohl tagsüber als auch in der Nacht die Durchführung einer „personenbezogenen Betreuung“.
Die Bewohnervertreterin begehrte mit Antrag vom 26. 4. 2016, (ua) die Freiheitsbeschränkungen durch die „Einzelfallmedikation“ Seroquel 25 mg für unzulässig zu erklären.
Das Erstgericht sprach (unbekämpft und damit rechtskräftig) aus, dass die Bewohnerin durch die Anordnung und Verabreichung der Bedarfsmedikation Seroquel „in der Zeit bis zum“ 5. 2. 2016 in ihrer Freiheit unzulässig beschränkt worden sei (Punkt 4a). Weiters wies es – soweit für das Revisionsrekursverfahren noch wesentlich – das Begehren festzustellen, dass die Bewohnerin vom 5. 2. 2016 „bis heute“ durch die Bedarfsmedikation Seroquel in ihrer Freiheit unzulässig beschränkt worden sei, ab (Punkt 4b) und erklärte „pro futuro“ die Beschränkung der persönlichen Freiheit der Bewohnerin durch die Verabreichung von Seroquel unter bestimmten Auflagen für die Dauer von sechs Monaten für zulässig (Punkt 4c). Rechtlich führte es dazu aus, der Einsatz von Seroquel sei im Zweifel als Freiheitsbeschränkung zu qualifizieren. Schon mangels Meldung sei die Bewohnerin durch die Verordnung und Verabreichung dieses Medikaments vor dem 5. 2. 2016 in ihrer Freiheit unzulässig beschränkt worden. Zwischen dem 5. 2. 2016 und dem „Schluss der mündlichen Verhandlung“ (gemeint: 3. 5. 2016) sei die Bedarfsmedikation nicht eingesetzt worden. Für die Zukunft sei der Einsatz des Bedarfsmedikaments unter der Bedingung zulässig, dass sowohl tagsüber als auch in der Nacht der Einsatz einer „personenbezogenen Betreuung fruchtlos“ verlaufe.
Das Rekursgericht bestätigte über den Rekurs der Bewohnervertreterin – soweit für das Revisionsrekursverfahren relevant – Punkt 4b des erstinstanzlichen Beschlusses und änderte Punkt 4c dahin ab, dass es diesen Punkt ersatzlos behob. Es erklärte den ordentlichen Revisionsrekurs für zulässig und vertrat die Rechtsansicht, dass dem Pflegeheim für den bekämpften Zeitraum vom 5. 2. 2016 bis zur erstgerichtlichen Beschlussfassung keine unzulässige medizinische Freiheitsbeschränkung durch die Bedarfsmedikation Seroquel angelastet werden könne. Die Bedarfsmedikation sei zuletzt am 3. 2. 2016 eingesetzt worden, in der Folge jedoch nicht mehr. Dies spreche gegen eine fortdauernde „Androhung einer Freiheitsbeschränkung durch die angeordnete Einzelfallmedikation“ der Verabreichung von Seroquel. Für eine solche Feststellung bestünden keine Anhaltspunkte. Demnach gebe es für eine „pro futuro“ vorgenommene Zulässigkeitserklärung einer Beschränkung der persönlichen Freiheit der Bewohnerin durch die künftige Verabreichung von Seroquel unter bestimmten Auflagen keine Grundlage. Eine allfällige Verabreichung in der Zukunft werde entsprechend zu dokumentieren und gemäß den Vorgaben des HeimAufG den Verein zur Kenntnis zu bringen sein.
Gegen die Bestätigung des erstinstanzlichen Beschlusses in seinem Punkt 4b und die ersatzlose Behebung des Spruchpunktes 4c wendet sich der Revisionsrekurs des Vereins mit dem Begehren, die freiheitsbeschränkende Maßnahme durch die Bedarfsmedikation Seroquel 25 mg auch ab dem 5. 2. 2016 für unzulässig zu erklären.
Rechtliche Beurteilung
Der Revisionsrekurs ist zur Klarstellung der Rechtslage, ob eine angeordnete Bedarfsmedikation als (angedrohte) Freiheitsbeschränkung anzusehen ist oder nicht, zulässig; er ist jedoch nicht berechtigt.
1. Nach § 3 Abs 1 HeimAufG liegt eine Freiheitsbeschränkung im Sinn dieses Bundesgesetzes vor, wenn eine Ortsveränderung einer betreuten oder gepflegten Person (Bewohner) gegen oder ohne ihren Willen mit physischen Mitteln, insbesondere durch mechanische, elektronische oder medikamentöse Maßnahmen, oder durch deren Androhung unterbunden wird. In diesem Sinn liegt eine Freiheitsbeschränkung dann vor, wenn es einer Person unmöglich gemacht wird, ihren Aufenthalt nach ihrem freien Willen zu verändern (RIS‑Justiz RS0075871 [T6, T19]; RS0121662 [T9]).
2. Nach ständiger Rechtsprechung ist eine Freiheitsbeschränkung durch medikamentöse Mittel nur zu bejahen, wenn die Behandlung unmittelbar die Unterbindung des Bewegungsdrangs bezweckt, nicht jedoch bei unvermeidlichen bewegungsdämpfenden Nebenwirkungen, die sich bei der Verfolgung anderer therapeutischer Ziele ergeben können (RIS‑Justiz RS0121227). Die Beurteilung, ob eine Freiheitsbeschränkung vorliegt, erfordert Feststellungen darüber, 1. welchen therapeutischen Zweck die Anwendung jedes einzelnen der zu überprüfenden Medikamente verfolgt, 2. ob die Medikamente (insbesondere in der dem Bewohner verabreichten Dosierung und Kombination) dieser Zweckbestimmung entsprechend eingesetzt wurden und werden und 3. welche konkrete Wirkung für den Bewohner mit dem Einsatz der Medikamente verbunden war und ist (RIS‑Justiz RS0123875).
3.1. Auch psychologische Einschränkungen der Bewegungsfreiheit können den Tatbestand der Freiheitsbeschränkung nach § 3 Abs 1 HeimAufG erfüllen. Eine Freiheitsbeschränkung setzt nicht notwendigerweise die Anwendung physischen Zwangs voraus. Es genügt auch dessen Androhung. Der Begriff der Androhung ist im spezifischen Konnex der Pflege oder Betreuung des Bewohners zu verstehen. Es ist nicht erforderlich, dass ihm von der anordnungsbefugten Person oder anderen Bediensteten konkret mit freiheitsentziehenden Maßnahmen „gedroht“ wird. Vielmehr reicht es aus, wenn er aus dem Gesamtbild des Geschehens den Eindruck gewinnen muss, dass er den Aufenthaltsort nicht mehr verlassen kann (7 Ob 205/12s mwN). In solchen Fällen wird es also darauf ankommen, ob der Bewohner ungehindert von äußerem Zwang seinen Aufenthaltsort nach freiem Willen verlassen kann oder mit einem physischen Zugriff rechnen muss (7 Ob 139/14p und 7 Ob 226/06w jeweils unter Verweis auf ErläutRV 353 BlgNR 22. GP 8 ff; 7 Ob 126/16d).
3.2. In diesem Sinn wurde das Versperrthalten der Eingangstür des Heimes und die Warnung vor dem Verlassen des Hauses auf einem anderen möglichen Weg, die vom Bewohner aufgrund seiner psychischen Erkrankung subjektiv als Verbot verstanden wird, als Freiheitsbeschränkung im Sinn des § 3 HeimAufG angesehen (7 Ob 226/06w). Demgegenüber stellt eine Vereinbarung, die die Ausgehzeiten auf wenige Stunden pro Woche beschränkt, in Verbindung mit einem Sanktionskatalog, der im Wesentlichen eine weitere Einschränkung dieser Ausgehzeiten und auch eine Abgängigkeitsanzeige bei der Polizei vorsieht, im Fall einer gültigen Einwilligung des Bewohners keine Freiheitsbeschränkung dar (7 Ob 205/12s). Wird der Bewohner in bestimmten Verhaltensphasen „gebeten“, „überredet“ oder „aufgefordert“, in sein Zimmer zu gehen und kommt diesen Aufforderungen ohne (auch bloß implizite) Androhung von Konsequenzen nach, wobei er das Zimmer durch die unversperrte Türe selbständig verlassen kann, ist darin keine Freiheitsbeschränkung zu sehen (7 Ob 126/16d).
4. Zur Bedarfsmedikation (mit Seroquel):
4.1. Gegenstand des Revisionsrekursverfahrens ist die Beurteilung der verordneten Bedarfsmedikation Seroquel in der Zeit ab 5. 2. 2016. Das Medikament kam bis zur Entscheidung des Erstgerichts am 3. 5. 2016 nicht mehr zum Einsatz. Im vorangegangenen Zeitraum ab dem 18. 8. 2015 wurde das Medikament der Bewohnerin insgesamt acht Mal verabreicht, zuletzt am 3. 2. 2016.
4.2. Nach einem Teil der Literatur (Strickmann, Heimaufenthaltsrecht2 126 f; Ganner, Medikamentöse Freiheitsbeschränkungen nach dem HeimAufG, iFamZ‑Spezial 2010, 46 [48]; vgl auch Kopetzki in RdM 2011/30, 25 [Glosse zu 3 Ob 142/10v], derselbe, Grundriss des Unterbringungsrechts3 Rz 760) ist auch ein ärztlich verordnetes sedierendes Bedarfsmedikament, das noch nicht verabreicht wurde, als unverzüglich zu meldende Freiheitsbeschränkung zu bewerten. Unterbleibe die tatsächliche Verabreichung, so ändere dies nachträglich nichts an der Qualifikation der angeordneten Medikation als (angedrohte) Freiheitsbeschränkung, die schon im Verordnungszeitpunkt die allgemeinen medizinischen Einwilligungsvoraussetzungen in die Heilbehandlung (mangels Einsichts‑ und Urteilsfähigkeit substituiert durch den Vertreter) sowie heimaufenthaltsrechtliche Aufklärungs‑, Dokumentations‑ und Meldepflichten auslöse.
Nach anderer Ansicht ist der Hintergrund für die Einbeziehung der „Androhung“ in den Tatbestand des § 3 Abs 1 HeimAufG darin zu sehen, dass damit auf die Willensbildung des Bewohners Einfluss genommen werden könne, dieser Einfluss auf die Willensbildung aber mit der bloßen Verordnung eines Medikaments nicht erreichbar sei (Herdega/Buerger in Resch/Wallner, Handbuch Medizinrecht2 [2015], VII. Heimaufenthaltsgesetz, 273 Rz 124; so bereits Herdega in Resch/Wallner, Handbuch Medizinrecht [2011], VII. Heimaufenthaltsgesetz, 243 Rz 126). Aus dem Tatbestand der „angedrohten“ Freiheitsbeschränkung könne nicht abgeleitet werden, dass auf Freiheitsbeschränkungen ausgerichtete, aber „wirkungslose“ Maßnahmen als Freiheitsbeschränkungen zu werten seien. Auch aus § 7 Abs 2 HeimAufG werde deutlich, dass das HeimAufG generell an tatsächlich umgesetzte Freiheitsbeschränkungen anknüpfe. Demnach solle nämlich der Leiter der Einrichtung den Vertreter des Bewohners „von der Freiheitsbeschränkung und von deren Aufhebung“ unverzüglich verständigen. Nur eine bereits wirksame – nicht aber eine bloß beabsichtigte – Freiheitsbeschränkung könne aufgehoben werden. Noch deutlicher gehe dies aus § 7 Abs 1 HeimAufG hervor, der normiere, dass der Bewohnervertreter von einer mit dem Willen des Bewohners „vorgenommenen Einschränkung“ zu verständigen sei (Barth, Freiheitsbeschränkung durch Medikamente, iFamZ 2011, 80 [81]). Für die Verwirklichung einer medikamentösen Freiheitsbeschränkung müsse neben dem Zweck der Bewegungsdämpfung auch die erwünschte sedierende Wirkung in einem zumindest feststellbaren Ausmaß eintreten, andernfalls der Erfolg der Bewegungseinschränkung nicht eintrete und ohne Vorliegen einer Bewegungseinschränkung könne ab dem Zeitpunkt der Kenntnis der Nichtwirkung „wohl kaum“ von einer Freiheitsbeschränkung ausgegangen werden (Heimaufenthaltsgesetz, Erläuterungen zur medikamentösen Freiheitsbeschränkung, Manual [Stand 2011], 13 = iFamZ 2011, 319 [323]).
4.3. Dazu hat der Oberste Gerichtshof erwogen:
Eine nur im Pflegeblatt vorgesehene, nach außen nicht vermittelte (bloße) Bedarfsmedikation für zerebrale Anfälle (ein Antiepileptikum) ist keine Freiheitsbeschränkung im Sinn des § 3 HeimAufG, weil allein dadurch das Unterbinden einer Ortsveränderung nicht angedroht, sondern der Einsatz des Medikaments nur und gerade für eine Situation angeordnet wird, in der der Bewohner zu keiner– willkürlichen – körperlichen (Fort‑)Bewegung in der Lage ist (7 Ob 137/16x).
Die bloße ärztliche Anordnung eines eine Freiheitsbeschränkung herbeiführenden Medikaments (vgl § 5 Abs 1 HeimAufG) unter bestimmten Voraussetzungen ohne dessen tatsächliche Verabreichung (Bedarfsmedikation) ist für sich allein noch keine Freiheitsbeschränkung im Sinn des § 3 Abs 1 HeimAufG. Dies ergibt sich aus dem Wortlaut dieser Bestimmung, wird doch mit der bloßen Anordnung noch keine Ortsveränderung unterbunden und „wirkungslose“ Maßnahmen sind nicht als Freiheitsbeschränkungen zu werten. Zudem wird aus § 7 Abs 1 und 2 HeimAufG deutlich, dass dieses Gesetz generell an tatsächlich umgesetzte Freiheitsbeschränkungen anknüpft und nur eine bereits wirksame – nicht aber eine bloß beabsichtigte – Freiheitsbeschränkung aufgehoben werden kann. Sofern aber mit der Anordnung eines Medikaments beim Bewohner ein bestimmtes freiheitsbeschränkendes Verhalten veranlasst wird oder dieser den Eindruck gewinnen muss, keine andere Möglichkeit zu haben, als ein bestimmtes gewünschtes Verhalten zu setzen, andernfalls das Medikament verabreicht wird, liegt eine Androhung im Sinn des § 3 Abs 1 HeimAufG und damit eine Freiheitsbeschränkung vor.
4.4. Im erstinstanzlichen Verfahren ergab sich nicht, dass die Bewohnerin, die an Demenz leidet, durch die angeordnete Bedarfsmedikation Seroquel zu einem bestimmten Verhalten – nämlich einer Reduktion ihrer „Agitiertheit“ – veranlasst wurde. Zwar wurde ihr zuletzt am 3. 2. 2016 das Medikament verabreicht, jedoch konnte das Rekursgericht gerade nicht feststellen, dass die Bewohnerin den Eindruck gewinnen musste, dass ihr Seroquel jederzeit unter anderem zur Unterbindung ihres Unruhezustands verabreicht wird. Dass ihr gegenüber die in der Pflegedokumentation vorgesehene Bedarfsmedikation vermittelt wurde, wurde weder behauptet, noch steht dies fest. Ein ärztlich verordnetes sedierendes Bedarfsmedikament, das (im Revisionsrekursverfahren strittigen Zeitraum) tatsächlich nicht verabreicht wurde, führte zu keiner Freiheitsbeschränkung. Solange die Bedarfsmedikation nicht angewendet wird und der Bewohnerin durch die Anordnung nicht der Eindruck vermittelt wird, sie müsse ihre Bewegungsfreiheit von sich aus einschränken, um der angeordneten Medikation zu entgehen, liegt keine Unterbindung einer Ortsveränderung vor, sodass keine Freiheitsbeschränkung im Sinn des § 3 Abs 1 HeimAufG besteht.
Damit ist die Rechtsansicht des Rekursgerichts zutreffend, dass durch die bloße Anordnung von Seroquel als Bedarfsmedikation der Überprüfungsantrag für den Zeitraum ab dem 5. 2. 2016 bis zur erstinstanzlichen Entscheidung mangels Freiheitsbeschränkung abzuweisen ist.
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