OGH 7Ob205/12s

OGH7Ob205/12s19.12.2012

Der Oberste Gerichtshof hat durch die Vizepräsidenten Dr. Huber als Vorsitzende und die Hofrätinnen und Hofräte Dr. Hoch, Dr. Kalivoda, Mag. Dr. Wurdinger und Mag. Malesich als weitere Richter in der Heimaufenthaltssache des Bewohners H***** S*****, vertreten durch V*****, Bewohnervertreterin Mag. N***** H*****, diese vertreten durch Mag. Nikolaus Weiser, Rechtsanwalt in Wien, über den Revisionsrekurs der Bewohnervertreterin gegen den Beschluss des Landesgerichts Salzburg als Rekursgericht vom 7. September 2012, GZ 21 R 322/12t‑18, womit der Beschluss des Bezirksgerichts Salzburg vom 13. August 2012, GZ 35 HA 5/12s‑8, bestätigt wurde, den

Beschluss

gefasst:

 

Spruch:

Dem Revisionsrekurs wird nicht Folge gegeben.

Text

Begründung

Der Bewohner leidet sowohl an einer intellektuellen Minderbegabung als auch an einer psychischen Störung. Damit einher gehen schwere Verhaltensstörungen. Er fiel bereits im Kindesalter durch „Davonlaufen“ und „Herumstreunen“ auf. Später kamen exhibitionistische und voyeuristische Verhaltensweisen hinzu. Schließlich wurde er durch Brandstiftungen auffällig und rechtskräftig verurteilt. Vom 22. 2. 1991 bis 2. 12. 1997 befand er sich in der Justizanstalt Göllersdorf.

Seit 1. 10. 1999 lebt er im Wohnhaus R*****. Untertags ist er in der Werkstätte E***** tätig.

Eine seit November 2011 zwischen dem Bewohner und der Einrichtung getroffene Vereinbarung lautet folgendermaßen:

„‑ Sexuelle Handlungen dürfen nur im eigenen Zimmer stattfinden

‑ Abmelden beim Verlassen des Wohnhauses

‑ Ausgehzeiten: Montag bis Freitag eine Stunde (zwischen 16:00 und 22:00 Uhr)

Samstag, Sonntag, Feiertage: drei Stunden (zwischen 8:00 bis 22:00 Uhr; Ausnahmen wenn er Veranstaltungen besuchen möchte, die länger dauern)

‑ Pünktliches Einhalten der Zeiten (+/‑ fünf Minuten)

Konsequenzen:

1. Sexuelle Handlungen in der Öffentlichkeit/in den öffentlichen Räumen des Wohnhauses: eine Woche kein alleiniger Ausgang (nur in Begleitung von BetreuerInnen)

2. Ausgang ohne Abmeldung bzw Verspätung: kein alleiniger Ausgang am darauffolgenden Tag bzw bis zu einer Woche bei mehrstündiger Verspätung

3. Abgängigkeitsmeldung bei der Polizei ab 22:00 Uhr (außer es besteht eine Vereinbarung über 22:00 Uhr hinaus).“

Die unmittelbare Reaktion des Betreuungsteams mit Konsequenzen auf Verstöße des Bewohners gegen die Vereinbarung hat sich als wirksame Methode gezeigt, um das exhibitionistische und voyeuristische Fehlverhalten einzudämmen.

Der Bewohner befolgt in der Regel diese Vereinbarung. Manchmal werden die vereinbarten Ausgehzeiten überschritten; an die vereinbarten Konsequenzen hält er sich jedoch. Er ist in der Lage, die Tragweite der Vereinbarung zu begreifen. Die grundsätzliche Bereitschaft, pyromanische Verhaltensweisen an den Tag zu legen, ist jedoch nicht vollständig gebannt.

Der Bewohner wünscht geregelte Ausgehzeiten. Er möchte selbst, dass die Betreuer immer wissen, wann er die Einrichtung verlässt und wann er wieder kommt. Dies unter anderem auch aus dem Grund, weil er Angst davor hat, beschuldigt zu werden, einen Brand gelegt zu haben. In diesem Fall könnten die Betreuer den einschreitenden Polizeibeamten erklären, wo er zur fraglichen Zeit war. Einen neuerlichen Aufenthalt in der Justizvollzugsanstalt Göllersdorf möchte er vermeiden. Durch eine Vereinbarung von Ausgehzeiten fühlt er sich abgesichert. Mit physischen Mitteln wurde ihm nie die Möglichkeit genommen, die Einrichtung zu verlassen. Er hat dies auch nie versucht, wenn es ihm nicht erlaubt war. Er ist sich aber sicher, dass er am Verlassen des Wohnhauses nicht gehindert würde.

Das Erstgericht wies den Antrag der Bewohnervertreterin auf Überprüfung der Freiheitsbeschränkung gemäß §§ 11 ff HeimAufG ab. Da eine Ortsveränderung des Bewohners weder mit physischen Mitteln noch durch deren Anordnung unterbunden werde, liege keine Freiheitsbeschränkung nach § 3 Abs 1 HeimAufG vor. Insbesondere hinderten ihn auch keine Anordnungen des Personals an der freien Bewegung und in letzter Konsequenz am Verlassen der Einrichtung. Darüber hinaus sei er auch geistig in der Lage, die Situation an sich und die Tragweite seines Einverständnisses zu erfassen.

Das Rekursgericht bestätigte diese Entscheidung. Es sprach aus, dass der Revisionsrekurs zulässig sei, weil die Frage der Qualität der Androhung einer Freiheitsbeschränkung vom Obersten Gerichtshof noch nicht geklärt worden sei.

Gegen diesen Beschluss richtet sich der Revisionsrekurs der Bewohnervertreterin aus den Rechtsmittelgründen der Mangelhaftigkeit des Verfahrens und der unrichtigen rechtlichen Beurteilung mit einem Abänderungsantrag. Hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.

Rechtliche Beurteilung

Der Revisionsrekurs ist zulässig, er ist aber nicht berechtigt.

1. Nach § 3 Abs 1 HeimAufG liegt eine Freiheitsbeschränkung im Sinn dieses Bundesgesetzes vor, wenn eine Ortsveränderung einer betreuten oder gepflegten Person gegen oder ohne ihren Willen mit physischen Mitteln, insbesondere durch mechanische, elektronische oder medikamentöse Maßnahmen, oder durch deren Androhung unterbunden wird.

In diesem Sinn ist eine Freiheitsbeschränkung zu bejahen, wenn es einer Person durch den Einsatz physischer Mittel unmöglich gemacht wird, ihren Aufenthalt nach ihrem freien Willen zu verändern. Sie setzt aber nicht notwendigerweise die Anwendung physischen Zwangs voraus. Es genügt dessen Androhung, wobei nicht erforderlich ist, dass dem Bewohner konkret mit freiheitsentziehenden Maßnahmen gedroht wird. Vielmehr reicht es aus, wenn er aus dem Gesamtbild des Geschehens den Eindruck gewinnen muss, dass er den Aufenthaltsort nicht mehr verlassen kann. Eine Freiheitsbeschränkung liegt letztlich nur vor, wenn der Bewohner gegen oder ohne seinen Willen beschränkt wird. Seine Einwilligung schließt einen Grundrechtseingriff aus, wenn sie ernstlich und frei von Zwang und Irrtum erteilt wird; auch muss der Bewohner die Fähigkeit zum freien Willensentschluss haben (7 Ob 226/06w, 7 Ob 144/06m mwN).

2. Der Revisionsrekurs wendet sich gegen die Auffassung des Rekursgerichts, dass die Vereinbarung, die die Ausgehzeiten auf wenige Stunden pro Woche beschränkt, in Verbindung mit einem Sanktionskatalog, der im Wesentlichen eine weitere Einschränkung dieser Ausgehzeiten und auch eine Abgängigkeitsanzeige an die Polizei vorsieht, nicht als Freiheitsbeschränkung im Sinne des § 3 HeimAufG zu qualifizieren sei.

2.1. Die Bewohnervertreterin vermisst die Feststellung, dass im Fall der Abgängigkeitsmeldung die Rückholung des Bewohners durch die Polizei erfolge. Dies sei jedenfalls als physischer Zwang bzw als Androhung eines solchen anzusehen.

Dass die gewünschte Feststellung nicht getroffen wurde, schadet nicht. Durch die Erstattung einer Abgängigkeitsanzeige wird die Polizei weder beauftragt noch ermächtigt, ohne entsprechende gesetzliche Grundlage in die persönliche Freiheit einer Person einzugreifen. In der Erstattung einer Abgängigkeitsmeldung bzw in der Androhung einer solchen durch die Einrichtung liegt damit kein physischer Zwang, der das Verlassen des Heimes unterbindet und somit auch keine Freiheitsbeschränkung nach § 3 Abs 1 HeimAufG.

2.2. Die Bewohnervertreterin argumentiert, darüber hinaus habe das Rekursgericht nicht berücksichtigt, dass durch den straffen Sanktionskatalog, insbesondere auch im Hinblick auf die Androhung der Erstattung einer Abgängigkeitsanzeige, auf den Willen des Bewohners Einfluss genommen werde. Dadurch werde eine Drucksituation aufgebaut; der Bewohner fürchte sich davor, in die Justizanstalt Göllersdorf zurückkehren zu müssen. Es bestehe der Eindruck, dass seiner großen Angst, wieder in den Maßnahmevollzug zu gelangen, seitens der Einrichtung nicht begegnet, sondern sie vielmehr als Argument benutzt werde, um ihn zum Dableiben zu bewegen. Die ergriffenen Maßnahmen stünden daher in ihrer Intensität und Qualität der Androhung einer physischen Maßnahme gleich.

Richtig ist, dass auch psychologische Einschränkungen der Bewegungsfreiheit denkbar sind, die eine Freiheitsbeschränkung nach § 3 Abs 1 HeimAufG erfüllen können. Dies insbesondere, wenn der Betroffene aus dem Gesamtbild des Geschehens den Eindruck gewinnen muss, dass er seinen Aufenthaltsort nicht mehr verlassen kann (vgl 7 Ob 226/06w).

Ein solcher Fall liegt nach den getroffenen Feststellungen aber gerade nicht vor.

Der Bewohner selbst, der in der Lage ist, die Konsequenzen der Vereinbarung über die Ausgehzeiten und den damit verbundenen Sanktionskatalog zu verstehen, wünscht eine Regelung der Ausgehzeiten, weil er sich dadurch gegen die Gefahr eines neuerlichen Aufenthalts in der Justizanstalt Göllersdorf abgesichert sieht. Die Ausgehzeiten werden von ihm immer wieder überschritten, an die vereinbarten Sanktionen hält er sich jedoch, obwohl er weiß, dass er am Verlassen des Heimes nicht gehindert würde. Seine Motivation für die Einhaltung der Vereinbarung liegt darin, die Ausgehzeiten beizubehalten, sie ‑ im Fall seines Wohlverhaltens ‑ zu verlängern und nicht fälschlicherweise einer Brandstiftung beschuldigt zu werden.

Nach den Feststellungen hegt der Bewohner zwar die Befürchtung, nochmals in der Justizanstalt Göllersdorf untergebracht zu werden. Entgegen der Ansicht der Bewohnervertreterin finden sich im festgestellten Sachverhalt aber keine Hinweise darauf, dass diese Befürchtung von Seiten der Einrichtung geweckt und dazu benützt wird, um ihn am Verlassen des Heimes zu hindern. Auch durch die vorgesehene Konsequenz der Erstattung einer Abgängigkeitsanzeige sieht sich der Bewohner ‑ nach den Feststellungen ‑ nicht am Verlassen der Einrichtung gehindert. Eine psychologische Einschränkung, die eine Freiheitsbeschränkung nach § 3 Abs 1 HeimAufG darstellt, ist nicht ersichtlich.

4. Abschließend ist darauf hinzuweisen, dass die Einwilligung durch den Bewohner einen Grundrechtseingriff ausschließt. Nach den Feststellungen ist der Bewohner geistig in der Lage, die Situation und die Tragweite seines Einverständnisses zu erfassen.

Dem Revisionsrekurs ist daher der Erfolg zu versagen.

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