OGH 13Os80/16p

OGH13Os80/16p6.9.2016

Der Oberste Gerichtshof hat am 6. September 2016 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Hon.‑Prof. Dr. Kirchbacher als Vorsitzenden sowie die Hofräte und die Hofrätinnen des Obersten Gerichtshofs Dr. Lässig, Mag. Michel, Dr. Oberressl und Dr. Brenner in Gegenwart des Richteramtsanwärters Mag. Jülg als Schriftführer in der Auslieferungssache des Driton L*****, AZ 313 HR 74/15b des Landesgerichts für Strafsachen Wien, über den Antrag des Genannten auf Erneuerung des Verfahrens und den damit verbundenen Antrag auf Zuerkennung aufschiebender Wirkung nach Anhörung der Generalprokuratur in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

 

Spruch:

Die Anträge werden zurückgewiesen.

Gründe:

Mit Beschluss vom 24. Februar 2016, GZ 313 HR 74/15b‑29, erklärte der Einzelrichter des Landesgerichts für Strafsachen Wien die seitens des Justizministeriums der Republik Kosovo mit Ersuchen vom 20. Jänner 2016 begehrte Auslieferung des Driton L***** zur Strafverfolgung wegen schweren Mordes nach § 147 Abs 7 iVm § 24 des kosovarischen Strafgesetzbuchs für nicht unzulässig.

Der dagegen gerichteten Beschwerde der betroffenen Person (ON 30) gab das Oberlandesgericht Wien mit Beschluss vom 31. Mai 2016, AZ 22 Bs 89/16y (ON 35), nicht Folge.

Rechtliche Beurteilung

Gegen die genannten Beschlüsse des Landesgerichts für Strafsachen Wien und des Oberlandesgerichts Wien richtet sich der fristgerechte, eine Verletzung von Art 2, 3 und 6 MRK reklamierende Antrag der betroffenen Person auf Erneuerung des Verfahrens.

Für einen Erneuerungsantrag, der sich – wie hier – nicht auf ein Urteil des EGMR stützt, gelten die gegenüber diesem normierten Zulässigkeitsvoraussetzungen (Art 34 und 35 MRK) sinngemäß (RIS‑Justiz RS0122737, RS0128394). Demnach kann (auch) der Oberste Gerichtshof erst nach Erschöpfung des innerstaatlichen Rechtswegs angerufen werden (Art 35 Abs 1 MRK). Diesem Erfordernis wird entsprochen, wenn von allen zugänglichen (effektiven) Rechtsbehelfen Gebrauch gemacht wurde (vertikale Erschöpfung) und die behauptete Konventionsverletzung zumindest der Sache nach und in Übereinstimmung mit den innerstaatlichen Verfahrensvorschriften im Instanzenzug vorgebracht wurde (horizontale Erschöpfung; vgl RIS‑Justiz RS0122737 [T13]; Grabenwarter/Pabel, EMRK5 § 13 Rz 26 ff, 34 ff).

Da demnach Erneuerungsanträge gegen Entscheidungen, die der Erneuerungswerber mit Beschwerde anfechten kann, unzulässig sind (RIS‑Justiz RS0124739 [T2]; zuletzt 14 Os 35/16b mwN), war der Antrag, soweit er sich gegen den Beschluss des Landesgerichts für Strafsachen Wien vom 24. Februar 2016, GZ 313 HR 74/15b‑29, richtet, schon deshalb zurückzuweisen.

1. Zum behaupteten Verstoß gegen Art 2 und 3 MRK:

Dazu ist zunächst anzumerken, dass der EGMR in jenen Fällen, in denen hinsichtlich einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme sowohl eine Verletzung des Art 3 MRK als auch eine solche des Art 2 MRK gerügt wird, regelmäßig nur Art 3 MRK prüft, weil sich der jeweilige Lebenssachverhalt und die zugrunde liegenden Gefährdungen nicht voneinander trennen lassen (15 Os 3/16d mwN).

Eine Auslieferung kann für den Aufenthaltsstaat nur dann eine Verletzung des Art 3 MRK bedeuten, wenn stichhaltige Gründe für die Annahme bestehen, dass die betroffene Person im Empfangsstaat der tatsächlichen Gefahr einer Art 3 MRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt sein könnte (RIS‑Justiz RS0123201). Dazu ist die erhebliche Wahrscheinlichkeit einer aktuellen, ernsthaften (gewichtigen) Gefahr schlüssig und hinreichend konkret nachzuweisen, wobei auch die Schwere der drohenden Verletzung, das sonstige Verhalten des Mitgliedstaats der MRK und der Umstand eine Rolle spielen, ob im Zielland fundamentale Menschenrechte verletzt werden. Auf einen solchen Nachweis wird nur verzichtet, wenn der ersuchende Staat eine ständige Praxis umfassender und systematischer Menschenrechtsverletzungen aufweist (RIS‑Justiz RS0123229 [T12]). Die bloße Möglichkeit von Übergriffen, die in jedem Rechtsstaat vorkommen können, macht die Auslieferung hingegen nicht unzulässig (RIS‑Justiz RS0118200).

Geht die behauptete Gefahr nicht von staatlicher Seite aus, so muss neben der Unmittelbarkeit der Bedrohung auch nachgewiesen werden, dass die staatlichen Autoritäten nicht in der Lage sind, ausreichend vor dieser konkreten Gefahr zu schützen (RIS‑Justiz RS0123229 [T1]).

Der Erneuerungswerber hat sich dabei mit der als grundrechtswidrig bezeichneten Entscheidung in allen relevanten Punkten auseinander zu setzen (RIS‑Justiz RS0124359) und, soweit er nicht auf der Grundlage der Gesamtheit der Entscheidungsgründe Begründungsmängel im Sinn des § 281 Abs 1 Z 5 StPO aufzuzeigen oder erhebliche Bedenken gegen die Richtigkeit getroffener Feststellungen im Sinn des § 281 Abs 1 Z 5a StPO zu wecken vermag, die Tatsachenannahmen der bekämpften Entscheidung zugrunde zu legen (RIS‑Justiz RS0125393 [T1]; OGH 28. 1. 2016, 12 Os 154/15m, EvBl 2016/69 [Ratz]).

Diesen Anforderungen entspricht der Erneuerungswerber nicht. Vielmehr argumentiert er unter Hinweis auf eine Vielzahl im Erneuerungsantrag erstmals vorgebrachter und zum Teil erst nach der Beschwerdeentscheidung entstandener Beweismittel, nämlich

- den Beschluss des Rats der Europäischen Union vom 14. Juni 2016 (GASP) 2016/947 betreffend die Verlängerung des Mandats der Eulex‑Mission,

- den Länderreport des deutschen Bundesamts für Migration und Flüchtlinge betreffend den Kosovo, Länderreport Band 3 (2015),

- den Human Rights Report Kosovo 2015 des United States Department of State,

- die Entscheidung des französischen obersten Verwaltungsgerichts vom 10. Oktober 2014, Nr 375474 und

- eine Mitteilung der Europäischen Kommission, Kosovo Bericht 20155, November 2015, SWD (2015),

das Oberlandesgericht Wien, das eine unmittelbare Bedrohung des Betroffenen im Strafvollzug des Zielstaats, vor der die Behörden des Zielstaats keinen ausreichenden Schutz gewähren könnten, ausdrücklich verneinte (BS 3 f, 5), verkenne die Lage im Kosovo. Weiters leitet er mit eigenen Erwägungen aus diesen neu vorgelegten Quellen ab, dass die Republik Kosovo keinen effektiven staatlichen Schutz vor Gewaltakten dritter Personen, die aus einem „Clan‑Krieg“ entspringen, garantieren könne.

Auch das in Bezug auf die konkrete Bedrohung der betroffenen Person durch den Lu*****-Clan im Kosovo – ebenfalls durchwegs mit neuen Beweismitteln unterlegte – erstattete Sachverhaltsvorbringen wird im Erneuerungsantrag erstmals erhoben.

Solcherart wird mit den (zusammengefassten) Behauptungen, Sabit Lu***** habe nach seiner Entlassung aus der in Österreich verbüßten Strafhaft die betroffene Person wiederholt mit dem Tode bedroht, es sei gegen den Genannten ua wegen gefährlicher Drohung (auch) gegen den Erneuerungswerber ein Ermittlungsverfahren bei der Staatsanwaltschaft Wien anhängig und das Haus des Vaters der betroffenen Person im Kosovo sei von Sabit Lu***** beschossen worden, kein Begründungsdefizit (Z 5) der angefochtenen Beschwerdeentscheidung aufgezeigt. Die Vorlage der eidesstättigen und notariell beglaubigten Erklärung der Schwester der betroffenen Person, wonach Sabit Lu***** und seine Familie den Erneuerungswerber aus Rache der Anstiftung an dem Mord eines Familienmitglieds bezichtigt hätten und dieser Clan im Kosovo großen Einfluss habe, sowie weiterer eidesstättiger und notariell beglaubigter oder vor einem Anwalt abgegebener Erklärungen mehrerer Personen, aus deren Schilderungen über Verhalten von Angehörigen der Familie Lu***** nach Ansicht des Erneuerungswerbers seine konkrete Bedrohung durch diese hervorgeht, zeigt ebenso wenig ein aus § 281 Abs 1 Z 5 oder Z 5a StPO beachtliches Defizit auf.

Neuerungen zum Sachverhalt sind Sache der Wiederaufnahme, nicht der Erneuerung des Verfahrens (Ratz, ÖJZ 2016, 467 [Entscheidungsanmerkung]).

In diesem Zusammenhang bleibt anzumerken, dass der Erneuerungswerber gestützt auf die auch im Erneuerungsantrag vorgebrachte, seit 15. Juni 2016 notariell beglaubigte eidesstättige Erklärung des unmittelbaren Täters Lutfi Q***** vom 7. Juni 2016, wonach dieser unter psychischem und physischem Druck der kosovarischen Ermittlungsbeamten die betroffene Person fälschlicherweise als Auftraggeber für den vermeintlichen Mord an Sabit Lu***** identifiziert habe, ohnedies einen Antrag auf Wiederaufnahme gemäß § 39 ARHG einbrachte (ON 39).

2. Zur behaupteten Verletzung von Art 6 MRK:

Verfahrensgarantien des Art 6 MRK können für die Entscheidung über die Zulässigkeit der Auslieferung nur dann (ausnahmsweise) Relevanz erlangen, wenn die betroffene Person nachweist, dass ihr im ersuchenden Staat eine offenkundige Verweigerung eines fairen Verfahrens („a flagrant denial of justice“) droht (RIS‑Justiz RS0123200; Göth‑Flemmich in WK 2 ARHG § 19 Rz 14). Dabei sind substantiierte Gründe für eine drohende Verletzung von Art 6 MRK im Strafverfahren des ersuchenden Staats vorzubringen; der pauschale Einwand mangelnder Rechtsstaatlichkeit genügt nicht (14 Os 128/12y; Göth‑Flemmich in WK 2 ARHG § 19 Rz 15).

Eine in diesem Sinn konkret drohende Konventionsverletzung wird mit dem bloßen Verweis auf das Vorbringen zum behaupteten Verstoß gegen Art 3 MRK und der – unter pauschalem Hinweis auf den Bericht von Human Rights Watch 2015 betreffend den Kosovo, den OSZE Justice Monitor, 1. Juli 2014 bis 30. November 2015, sowie den Bericht der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa vom Juni 2016 über die Implementierung der seit 1. Jänner 2013 in Kraft stehenden neuen Strafprozessordnung – aufgestellten Behauptung, die kosovarische Justiz könne ein faires Verfahren nicht garantieren, die Justizverwaltung arbeite ineffizient und sei anfällig für Korruption und Einflüsse von außen, nicht dargetan. Zudem setzt sich der Erneuerungswerber nicht mit der Argumentation der als grundrechtswidrig bezeichneten Entscheidung des Oberlandesgerichts (BS 5) auseinander. Damit wird er den Anforderungen an einen Erneuerungsantrag gemäß § 363a StPO per analogiam nicht gerecht (RIS-Justiz RS0124359).

Bezüglich der auch in diesem Zusammenhang angeführten eidesstättigen Erklärung des unmittelbaren Täters Lutfi Q***** kann auf die Ausführungen oben verwiesen werden.

Der Erneuerungsantrag war daher schon bei der nichtöffentlichen Beratung gemäß § 363b Abs 1, Abs 2 StPO als unzulässig zurückzuweisen.

Zum Antrag auf Zuerkennung aufschiebender Wirkung:

Mit Blick auf die Kompetenznorm des § 362 Abs 5 StPO nimmt der Oberste Gerichtshof zwar die Befugnis in Anspruch, den Vollzug mit Erneuerungsantrag bekämpfter Entscheidungen zu hemmen, ein Antragsrecht betroffener Personen ist jedoch nicht abzuleiten (RIS‑Justiz RS0125705). Der dennoch darauf bezogene Antrag des Erneuerungswerbers war daher ebenfalls als unzulässig zurückzuweisen.

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