OGH 12Os15/16x

OGH12Os15/16x14.7.2016

Der Oberste Gerichtshof hat am 14. Juli 2016 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Hon.‑Prof. Dr. Schroll als Vorsitzenden sowie durch die Hofräte und die Hofrätinnen des Obersten Gerichtshofs Dr. T. Solé, Dr. Oshidari, Dr. Michel‑Kwapinski und Dr. Brenner in Gegenwart des Richteramtsanwärters Mag. Jülg, BSc, als Schriftführer in der Strafsache gegen Dominic S***** und andere Angeklagte wegen des Verbrechens des schweren Raubes nach §§ 142 Abs 1, 143 vierter Fall StGB aF und weiterer strafbarer Handlungen über die Nichtigkeitsbeschwerden und die Berufungen der Angeklagten Dominic S*****, Umut K***** und Bekir C***** gegen das Urteil des Landesgerichts Wiener Neustadt als Jugendschöffengericht vom 9. November 2015, GZ 48 Hv 62/15b‑106, nach Anhörung der Generalprokuratur in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2016:0120OS00015.16X.0714.000

 

Spruch:

 

In teilweiser Stattgebung der Nichtigkeitsbeschwerde des Angeklagten Bekir C***** wird das angefochtene Urteil, das im Übrigen unberührt bleibt, in dem diesen Angeklagten betreffenden Schuldspruch B./9./, in der zu B./ gebildeten Subsumtionseinheit und demgemäß auch im Strafausspruch (einschließlich der Vorhaftanrechnung) aufgehoben, insoweit eine neue Hauptverhandlung angeordnet und die Sache im Umfang der Aufhebung an das Landesgericht Wiener Neustadt verwiesen.

Die Nichtigkeitsbeschwerden der Angeklagten Dominic S***** und Umut K***** sowie jene des Bekir C***** im Übrigen werden zurückgewiesen.

Mit seiner Berufung wird Bekir C***** auf die Urteilsaufhebung verwiesen.

Über die Berufungen der Angeklagten Dominic S***** und Umut K***** wird das Oberlandesgericht Wien nach Abschluss des Verfahrens erster Instanz zu entscheiden haben.

Dominic S*****, Umut K***** und Bekir C***** fallen auch die Kosten des Rechtsmittelverfahrens zur Last.

 

Gründe:

Soweit vorliegend von Bedeutung, wurden mit dem angefochtenen Urteil Dominic S*****, Umut K***** und Bekir C***** jeweils des Verbrechens des schweren Raubes nach §§ 142 Abs 1, 143 vierter Fall StGB aF (A./I./2./), des Verbrechens des Raubes nach §§ 15 Abs 1, 142 Abs 1 StGB (A./II./1.) und des gewerbsmäßig durch Einbruch begangenen Diebstahls nach §§ 127, 129 Z 2, 130 vierter Fall StGB aF (B./1./ bis 9./) schuldig erkannt.

Danach haben sie am 1. Jänner 2015 in W***** und an anderen Orten mit auf unrechtmäßige Bereicherung gerichtetem Vorsatz in einverständlichem Zusammenwirken (§ 12 StGB; zu A./I./2./ und 3./ sowie B./1./, 2./, 3./, 7./ und 9./ auch mit dem Mitangeklagten Ruhan G*****) anderen fremde bewegliche Sachen

A./I./2./ Herbert Sp***** mit Gewalt gegen seine Person 150 Euro weggenommen, indem sie ihm Schläge und Tritte gegen Kopf und Körper versetzten, wodurch dieser einen Bruch des Jochbeins, der Augenhöhle und des Kiefers, diverse Prellungen und eine Verletzung des Seh‑ und Gesichtsnervs erlitt, wobei die Gewaltanwendung eine Körperverletzung mit schweren Dauerfolgen (§ 85 StGB), nämlich die Erblindung eines Auges, zur Folge hatte;

A./II./1./ einer unbekannten Person durch Drohung mit gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Leben (§ 89 StGB) verschiedene Wertgegenstände abzunötigen versucht, indem sie die Person mit einer Körperverletzung bedrohten, wobei dem Opfer die Flucht gelang.

B./ gewerbsmäßig

(1./ bis 8./) ...

9./ einer unbekannten Person drei Jacken und ein Mobiltelefon im Wert von ca 360 Euro weggenommen.

Rechtliche Beurteilung

Dagegen richten sich Nichtigkeitsbeschwerden, die Dominic S***** auf Z 4, 5 und 10, Umut K***** auf Z 4 und 5a sowie Bekir C***** auf Z 4, 5, 5a und 10, jeweils des § 281 Abs 1 StPO stützen. Nur jene des Angeklagten Bekir C***** ist teilweise im Recht.

Nach den für die Erledigung der Nichtigkeitsbeschwerden wesentlichen Urteilsfeststellungen (US 16 f) verließ Herbert Sp***** das Spital nach der Erstbehandlung gegen Revers. Zu diesem Zeitpunkt war die Schwere der Augenverletzung noch nicht bekannt und auch nicht vorhersehbar. Auch wenn das Opfer das Spital am 1. Jänner 2015 nicht verlassen hätte, wäre die Erblindung des linken Auges mit hoher Wahrscheinlichkeit erfolgt.

Den Rechtsmitteln ist vorauszuschicken, dass eine Zurechnung des schädigenden Erfolgs zum Primärverursacher nur dann unterbleibt, wenn das Opfer in bezug auf seine Primärverletzung ein Folgeverhalten an den Tag gelegt hat, das für jeden vernünftig denkenden Menschen in der Lage des Betreffenden unter den gegebenen Umständen schlechthin unbegreiflich ist, so etwa, wenn der

Verletzte in voller Kenntnis seines verletzungsbedingten lebensbedrohlichen Zustands und der zu gewärtigenden Konsequenzen unterlassener sofortiger lebensrettender ärztlicher Behandlung sich dieser bewusst nicht unterzieht, und wenn ohne dieses Folgeverhalten des Opfers die schwerere Tatfolge mit sehr großer Wahrscheinlichkeit nicht eingetreten wäre (RIS‑Justiz RS0089147; Kienapfel/Schroll, StudB BT I 4 § 80 Rz 80).

Entgegen den (inhaltsgleich ausgeführten) Verfahrensrügen (Z 4) aller Beschwerdeführer wurden ihre Verteidigungsrechte durch die Abweisung ihrer (zu Schuldspruch A./I./2. gestellten) Anträge auf Vernehmung des (das Opfer Herbert Sp*****) „erstbehandelnden Arztes“ und auf Einholung eines „Gutachtens aus dem Bereich der Augenheilkunde“ zum Beweis dafür, dass die „schwere Dauerfolge durch ein Eigenverschulden des Opfers eingetreten ist“ (ON 95 S 30 ff; ON 105 S 40 iVm den Berichtigungsbeschlüssen ON 118, 123), nicht verletzt.

In Bezug auf den beantragten Sachverständigenbeweis legten die Antragsteller nämlich nicht dar, weshalb eine derartige Expertise ein anderes Ergebnis hinsichtlich des Wahrscheinlichkeitskalküls in Bezug auf den Eintritt der schweren Dauerfolge hätte erwarten lassen (vgl RIS‑Justiz RS0118444). Zu einer entsprechenden Antragsbegründung wären die Beschwerdeführer aber schon deswegen verpflichtet gewesen, weil der behandelnde Augenarzt in der Hauptverhandlung erklärt hatte, dass der konkrete Schaden erst im Rahmen der mehrere Tage später stattgefunden Operation zu erkennen war, davor aufgrund der Einblutungen ein Blick auf die verletzte Netzhaut gar nicht möglich und aufgrund der Schwere der Verletzung der Aufschub der Operation ohne Nachteil für den Krankheitsverlauf war (ON 105 AS 8 ff).

Mit Blick auf die solcherart dokumentierte Erfolglosigkeit dieses Beweisbegehrens spricht der – unter dem Aspekt eines Fehlverhaltens des Verletzten (schlechthin unbegreifliches Verlassen des Spitals gegen Revers) – weiters gestellte Antrag auf Vernehmung des erstbehandelnden Arztes keinen erheblichen Umstand mehr an.

Die in den Rechtsmitteln zur Begründung der Anträge nachgetragene Argumentation unterliegt dem Neuerungsverbot und entzieht sich damit einer Erwiderung (RIS‑Justiz RS0099618).

Die Mängelrüge des (Z 5 zweiter und vierter Fall) kritisiert die Urteilsannahme, wonach die Erblindung des linken Auges des Tatopfers auch dann mit hoher Wahrscheinlichkeit eingetreten wäre, wenn er das Spital nicht bereits nach der Erstbehandlung gegen Revers verlassen hätte (US 17). Allein mit den dagegen gerichteten Zweifeln spricht die Beschwerde aber keine erhebliche Tatsache an, weil sie die – eine relevante Sorglosigkeit des Verletzten in eigenen Angelegenheiten ausschließende – Konstatierung unbekämpft lässt, wonach die Schwere der Augenverletzung zum Zeitpunkt, als Herbert Sp***** das Spital gegen Revers verließ, nicht erkannt wurde (US 16). Trifft den Verletzten aber kein Fehlverhaltensvorwurf, so tritt ein Haftungsausschluss für den Primärverursacher unabhängig davon nicht ein, welche Wahrscheinlichkeitsschlüsse aus dem behaupteten Alternativverhalten zu ziehen gewesen wären.

Bleibt lediglich der Vollständigkeit halber anzumerken, dass der Beschwerdeführer mangelnde objektive Zurechenbarkeit der Dauerfolge wegen eines diesbezüglichen ärztlichen Diagnose- oder Behandlungsfehlers (aktenkonform) nicht behauptet (zu den Voraussetzungen vgl Kienapfel/Schroll, StudB BT I4 § 80 Rz 78 f).

Die Argumentation der Subsumtionsrüge (Z 10) des Dominic S*****, wonach „vom Erfolgsunrecht her jedenfalls keine schwere Dauerfolge intendiert“ war, weshalb der qualifizierende Umstand nicht vorhersehbar gewesen sei, bleibt ohne Ableitung aus dem Gesetz (vgl RIS‑Justiz RS0116565). Denn die Beschwerde erklärt nicht, aus welchem Grund die Erblindung des Auges in Bezug auf die tatplankonforme Gewaltanwendung (US 17) gänzlich außerhalb der allgemeinen Lebenserfahrung liegen sollte (vgl RIS‑Justiz RS0088955; Kienapfel/Schroll, StudB BT I4 § 80 Rz 48 ff).

Soweit die Beschwerde die subjektive Vorhersehbarkeit der eingetretenen schweren Dauerfolge bestreitet, geht sie prozessordnungswidrig an den gegenteiligen Konstatierungen (US 17) vorbei (vgl RIS‑Justiz RS0099810).

Die Tatsachenrüge des Umut K***** (Z 5a) weckt mit ihrer Argumentation, wonach dieser Angeklagte aufgrund seines geringen Bildungsniveaus nicht mit der Teilerblindung des Herbert Sp***** gerechnet habe, keine erheblichen Bedenken des Obersten Gerichtshofs gegen die Richtigkeit des Ausspruchs über entscheidende Tatsachen.

Soweit die Mängelrüge (Z 5 vierter Fall) des Angeklagten Bekir C***** ebenfalls die Urteilsannahmen zum vorliegenden Adäquanzzusammenhang zwischen der Tathandlung und der Dauerfolge kritisiert, ist sie auf die diesbezügliche Erledigung der (inhaltsgleichen) Nichtigkeitsbeschwerde des Angeklagten Dominic S***** zu verweisen.

Die weitere Beschwerdeargumentation zum Schuldspruch A./II./1./ übersieht, dass die Tatzeit dann keine entscheidende Tatsache darstellt, wenn (wie hier) die Tat ansonsten ausreichend individualisiert ist (RIS‑Justiz RS0098557).

Mit unsubstantiierten Behauptungen, wonach es für einen gemeinsamen Tatplan keine Hinweise gäbe und mit der eigenständigen Bewertung des Umstands, dass das Opfer keine Anzeige erstattet habe, bekämpft die Rüge bloß die Beweiswürdigung des Schöffengerichts nach Art einer im kollegialgerichtlichen Verfahren nicht vorgesehenen Schuldberufung.

Im bisher behandelten Umfang waren daher die Nichtigkeitsbeschwerden der Angeklagten – in Übereinstimmung mit der Stellungnahme der Generalprokuratur – bereits in nichtöffentlicher Sitzung sofort zurückzuweisen (§ 285d Abs 1 StPO).

Im Recht ist jedoch die eine Aktenwidrigkeit behauptende Beschwerde (der Sache nach Z 5 fünfter Fall) des Angeklagten Bekir C***** in Betreff des Schuldspruchs B./9./.

Denn das Erstgericht stützte sich in Ansehung dieses Diebstahls auf das „volle und umfassende Geständnis der Angeklagten, welches auch in der Hauptverhandlung aufrechterhalten“ worden sei (US 31). Nach dem Akteninhalt verantwortete sich Bekir C***** sowohl vor der Polizei als auch in der Hauptverhandlung damit, dass er am Diebstahl nicht beteiligt und in den Tatplan nicht eingeweiht gewesen sei. Vielmehr sei er nur beim Verstecken des Diebesguts behilflich gewesen (ON 35 S 145; ON 105 S 31). Da auch die Angeklagten Dominic S***** und Ruhan G***** diese Angaben bestätigten (ON 95 S 20 f; ON 105 S 38 f), ist nach der Aktenlage weder ein Geständnis hinsichtlich des Diebstahlsvorwurfs noch eine diesbezügliche Belastung durch (insoweit geständige) Mitangeklagte ersichtlich.

Dies hat, wie im Spruch ersichtlich ist – insoweit in Übereinstimmung mit der Stellungnahme der Generalprokuratur – eine Urteilsaufhebung zur Folge (§ 285e StPO).

Im zweiten Rechtsgang wird die zerschlagene Subsumtionseinheit (§ 29 StGB) neu zu bilden sein (vgl RIS‑Justiz RS0116734). Die bereits in (Teil‑)Rechtskraft erwachsenen Schuldsprüche werden durch das zwischenzeitlich in Kraft getretene StRÄG 2015 nicht berührt (vgl 14 Os 31/16i; 14 Os 106/15t).

Über die Berufungen der Angeklagten Dominic S***** und Umut K***** wird das Oberlandesgericht Wien nach Abschluss des Verfahrens erster Instanz zu entscheiden haben.

In Bezug auf den Angeklagten Umut K*****, der keine Nichtigkeitsbeschwerde ergriffen hat, kommt entgegen der Auffassung der Generalprokuratur eine amtswegige Maßnahme gemäß § 290 Abs 1 zweiter Satz zweiter Fall StPO nicht in Betracht. Zwar erweisen sich auch insoweit die Urteilsannahmen, wonach Umut K***** in Ansehung des in Rede stehenden Diebstahlsvorwurfs (B./9./) geständig gewesen sei, als mangelhaft (§ 281 Abs 1 Z 5 fünfter Fall StPO), weil dieser Angeklagte vor der Polizei angegeben hatte, an der Wegnahme der Jacken nicht beteiligt gewesen zu sein (ON 35 S 179) und in der Hauptverhandlung aussagte, die Jacke von Dominic S***** erhalten zu haben (ON 105 S 20). Ein entsprechendes Vorbringen (vgl Ratz, WK‑StPO § 290 Rz 11) hat der Angeklagte Bekir C***** aber (naturgemäß) nicht erstattet. Somit liegen zwar vergleichbare, aber nicht „dieselben“ Gründe iSd § 290 Abs 1 zweiter Satz zweiter Fall StPO vor, womit amtswegiges Vorgehen zugunsten des Umut K***** ausscheidet.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 390a Abs 1 StPO.

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